Archiv der Kategorie: Weises

Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Die eine große Liebe

oder: ylop/mag onom mag ylop/nicht

Ylop und Onom sind zwei Menschen, bei denen es zunächst überhaupt nicht wichtig ist, welchen Geschlechts sie sind. Es ist jedoch nicht leicht, in der Sprache geschlechtsneutral zu bleiben. Die Sprache ist zu versext. Weil der westliche Mensch seinen Sex unterdrückt, ist er völlig verrückt nach Sex. Das drückt sich in seiner Sprache aus. Ich versuche, den Sex von Ylop und Onom auszuklammern, indem ich sie neutralisiere: Ich nenne sie das Ylop und das Onom.

Mit Ylop und Onom verhält es sich nun folgendermaßen: Ylop mag Onom, während Onom Ylop überhaupt nicht mag. Ylop könnte Onom fragen: „Warum magst du mich nicht?“ Aber Ylop fragt Onom das nicht, denn Ylop mag Onom, egal ob Onom es mag oder nicht. Ganz nach Christian Morgenstern: Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet.

Apropos Liebe: Onom sagt, es glaube an die eine große Liebe. In dieser Aussage ist ein Vorwurf an Ylop enthalten. Onom wirft Ylop vor, nicht an die eine große Liebe zu glauben und das Leben deshalb zu entwürdigen.
Ylop fragt Onom, warum es glaube, dass es nicht an die große Liebe glaube.
„Weil ich weiß, dass du mehr als einen Menschen in deinem Leben geliebt hast!“ sagt Onom.
Ylop sagt: „Menschen gibt es viele, Liebe gibt es eine. Warum sollte ich diese eine Liebe nicht mit mehreren Menschen teilen?“

Onom wendet sich verärgert ab. Es findet sich bestätigt in seinem Grund, warum es Ylop nicht mag. Es gibt einen Menschen für jeden Menschen, der dessen große Liebe ist, davon ist Onom überzeugt. Und weil Ylop davon nicht so überzeugt ist, um das zu seinem alles beherrschenden Lebenskonzept zu machen, bleibt es dabei: Onom mag Ylop nicht. Aber Ylop wiederum mag Onom, da kann Onom Ylop so viel nicht mögen wie es will. Denn Ylop glaubt an die eine große Liebe und schließt deshalb auch Onom in seine Liebe ein.

Komisches und Tragisches (das Leben)

Komisch und tragisch erlebe ich Vorderbrandner. Er sagte mir zuletzt unter Tränen, dass er unendlich froh und unendlich dankbar sei, seinen Platz hier in diesem Leben zu haben. Das war tragisch im Vortrag, aber auch komisch. Warum komisch? Vorderbrandner ist ständig auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Das hängt meiner Meinung nach damit zusammen, dass er nicht bereit ist, seinen Platz einzunehmen. Vom Suchen und nicht Finden(wollen) des Platzes im Leben könnte man also Vorderbrandners bisheriges Leben betiteln. Stattdessen verkriecht er sich oft in der Ecke. Er erfindet für dieses Verkriechen alle möglichen Argumente. Er sagte zum Beispiel einmal, er sei eine konstante Belastung für seine Umwelt, seine CO2-Bilanz sei konstant negativ, wie im übrigen die eines jeden Menschen. Deshalb bezweifle er, ob seine menschliche Existenz über eine berechtigte Grundlage verfüge, wie im übrigen die eines jeden Menschen. Gleichzeitig, und das macht die Sache so komisch, hat er eine unglaublich große Sehnsucht nach dem Leben.

Bevor ich mich in Allgemeinheiten verliere, will ich konkret werden: Vorderbrandner und ich fuhren mit unseren Fahrrädern die Ainmillerstraße in München-Schwabing entlang. Das war gar nicht tragisch. Das war auch nicht komisch. Deshalb erwähne ich es, weil es ungewöhnlich ist, mit Vorderbrandner etwas zu erleben, das nicht tragisch und nicht komisch ist. Ein Auto fuhr vor uns durch die Ainmillerstraße. Es fuhr so langsam, dass wir zu ihm aufschlossen. Wir fuhren hinter ihm her, bis wir kurz vor dem Ende der Ainmillerstraße angelangt waren.

Der Ort des Geschehens

Die Ainmillerstraße mündet in die Kurfürstenstraße. An dieser Einmündung muss man sich entscheiden: Biegt man nach links oder nach rechts in die Kurfürstenstraße ein? Geradeaus weiterfahren ist nicht möglich. Der langsam fahrende Autofahrer vor uns tat seine Entscheidung nicht kund: Er setzte keinen Blinker. Oder hatte er sich noch nicht entschieden und zuckelte unentschieden auf die Kreuzung zu? Das Auto wurde jedenfalls immer langsamer. Warum erzähle ich das? Weil Vorderbrandner unvermittelt mit seinem Fahrrad links an dem langsamer und langsamer werdenden Auto vorbeifuhr. Auf Höhe der Fahrertür, deren Scheibe geöffnet war, sagte er zum Fahrer: „Es wäre nett von Ihnen, wenn Sie blinken würden und uns so mitteilen, ob Sie links oder rechts abbiegen wollen!“ Er sagte es in einem subtil provokanten Ton, der sich schwer beschreiben lässt.
„Wieso? Ich suche einen Parkplatz“, hörte ich den Fahrer irritiert aus dem Wagen antworten.
„Dann wäre es nett von Ihnen, wenn Sie Ihrer Umwelt mitteilen, wo Sie beabsichtigen, Ihren Parkplatz zu suchen, links oder rechts.“
Der Fahrer wurde verbal ungehalten, woraufhin Vorderbrandner durch die offene Scheibe ins Auto griff und den Blinkerhebel betätigte. Der Wagen war inzwischen mitten auf die Kreuzung gerollt und blockierte den Verkehr. Links und rechts hupten andere Autos.
„Sie Unverschämter Sie!“ schrie der Fahrer aus dem Wagen.
„Bitte nach rechts fahren, nach dorthin ist der Blinker gesetzt!“ erwiderte Vorderbrandner scheinbar ungerührt und herablassend und gab mir Zeichen zum Weiterfahren.

Ich folgte seiner Anweisung. Nichts wie weg hier! Wir fuhren weiter und überließen die angerichtete Szene den anderen Protagonisten. Beim Weiterfahren dachte ich über den, wie ich finde, äußerst dreisten und provokanten Auftritt Vorderbrandners nach. Einerseits hat Vorderbrandner diese große Scheu, seinen Platz im Leben einzunehmen, andererseits legt er Auftritte wie eben jenen hin.

Wir fuhren in unser Büro in der Georgenstraße 146 in München-Schwabing. Dort angekommen, hörte Vorderbrandner ein wenig Musik. Das macht er oft, um Erlebtes zu verarbeiten. Diesmal drangen trällernde Opernstimmen durch den Raum. Ich ging näher zu Vorderbrandner und sah auf dem Bildschirm zwei Opersängerinnen, als Männer verkleidet, die sich in einem gesanglichen Zwiegespräch befinden.

Vorderbrandner, ungewöhnlich kommunikativ für einen solchen Moment der inneren Besinnung, sagte: „Das ist ein Ausschnitt aus der Oper Serse von Händel – komische Tragödie und tragische Komödie.“
„Komisch ist das in der Tat“, sagte ich: „Wieso sind denn die Frauen als Männer verkleidet?“
„Es gibt keine Kastraten mehr, die die Rollen singen könnten.“
„Tragisch… Für die Oper, meine ich, – dass es keine Kastraten mehr gibt“, und meinte es komisch.
Wir lauschten dem Gesang.
„Der in weiß Gekleidete ist König Serse“, erläuterte Vorderbrandner und zeigte auf die Opersängerin in der weißen Uniform. „Er offenbart seinem Bruder Arsamene (die in schwarz gekleidete Dame im Video – Anm. d. Red.), dass er der schönen Romilda seine Liebe gestehen wird, obwohl Arsamene mit ihr verlobt ist.“
Vorderbrandner interessierte vor allem eine Sequenz des Videos, zwischen 1:00 und 2:30, die er mehrmals abspielen ließ. Hier verkündet Serse seine Absicht: Io le dirò che l’amo, ne mi sgomentarò. (Ich werde ihr sagen, dass ich sie liebe, ich werde nicht davor zurückschrecken.)

„Schau!“ sagte Vorderbrandner und zeigte auf den Bildschirm, „wie stolz Serse ist; wie er sich auf seine Sänfte heben lässt und immer wieder betont, dass er Romilda seine Liebe gestehen wird! Was für ein stolzer, leidenschaftlicher Platzhirsch!“ Seine Augen leuchteten vor Begeisterung, als nähme Serse stellvertretend für ihn den Platz ein, den er sich gerne nehmen würde. Wir waren wieder mitten drin im Komischen und Tragischen.

Während wir weiter dem Gesang lauschten, stellte ich mir Vorderbrandner in der Ainmillerstraße vor, wie er auf den Dächern der hupenden Autos steht und im Falsett die Arie des Serse singt. Wieso ist mit Vorderbrandner immer alles komisch und tragisch? Liegt es wirklich nur daran, dass er seinen Platz im Leben sucht und nicht finden will? Oder liegt es daran, dass er mir beständig vorführt, was das Leben ist: Komische Tragödie und tragische Komödie?

Die Welt als Haushalt und Gegensatz

Professor Dr. Dr. Rainer Schmorn, ein Universitätsprofessor für Philosophie und Wissenschaftstheorie, öffnete eines Morgens die Besteckschublade in seiner Küche, um daraus einen Löffel zu entnehmen. Doch er fand keinen Löffel darin. Er seufzte. Er hatte vergessen, am Vorabend den Geschirrspüler anzumachen. Also öffnete er die Klappe des Geschirrspülers, entnahm daraus einen schmutzigen Löffel und spülte ihn ab. Dann setzte er sich mit dem Löffel an den Tisch, wo eine Schale mit Müsli stand, und begann zu essen.

Seit Clarissa nicht mehr da war, musste er seinen Haushalt alleine führen. Es machte ihn einerseits stolz, dass er endlich, im fortgeschrittenen Alter, einen Haushalt alleine führte. Bisher hatte er das immer den Frauen in seinem Leben überlassen, zunächst seiner Mutter, dann Clarissa. Andererseits überforderte ihn die Haushaltsführung. Seine geistige, wissenschaftliche Arbeit litt unter dieser neuen Herausforderung. Er hätte sich eine Haushälterin anstellen können, aber das erschien ihm nicht zeit- und frauengerecht. Ist Haushaltsarbeit zwingend weiblich und von Männern nicht zu bewältigen? Professor Schmorn blickte traurig auf und betrachtete das Bild von Clarissa und ihm, das noch immer an der Wand hing. Dann stand er auf und gab den benutzten Löffel wieder in den Geschirrspüler.

Er ging, wie immer, zu Fuß zu seiner Arbeit an der Universität, die etwa zehn Gehminuten von  seiner Wohnung entfernt lag. Er begrüßte seine Kollegen und Mitarbeiter am Institut, um anschließend in den großen Vorlesungssaal zu gehen. Er hielt dort eine Vorlesung für Erstsemestrige und begann seinen Vortrag so:

„Was machen wir an der Universität, in den Wissenschaften? Wir beobachten die Phänomene und erschaffen Begriffe für sie, um aus den geschaffenen Begriffen unser wissenschaftliches Weltbild zu formen. Was ist zuerst da, das Phänomen oder der Begriff? Natürlich das Phänomen – zumindest ist das mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen -, aber um es beobachten und abgrenzen zu können von anderen Phänomenen, müssen wir es zumeist erst begrifflich definieren. Nehmen wir als Beispiel das Phänomen des Haushalts: Unter einem Haushalt verstehen wir die wirtschaftliche Einheit einer Person oder mehrerer zusammenlebender Personen. Wir haben also das Phänomen Haushalt definiert, um es beobachten zu können. Ein Haushalt ist zunächst ein in sich ruhender, harmonischer Begriff. Doch ein Haushalt ruht nicht, genauso wie die Welt nicht ruht. Sie bewegt sich, zwischen den Polen. Was sind die bekanntesten menschlichen Pole? – Männlich und weiblich. Bewegt sich ein Haushalt zwischen den Polen männlich und weiblich? Vielleicht, obwohl sich hier beobachten lässt, dass traditionell in unserer Kultur das Pendel zum Weiblichen ausschlägt, was den Haushalt betrifft.“

Professor Schmorn erntete verständnislose Blicke aus dem Auditorium der jungen Studenten. Er nahm diese Blicke auf und fuhr fort:

„Heute gibt es aber mehr denn je das Phänomen des rein weiblichen und des rein männlichen Haushalts, und es lassen sich keine signifikanten, wissenschaftlich definierbaren Unterschiede daraus feststellen. Vielleicht sollten wir stattdessen für den Haushalt die Pole ordentlich und schlampig einführen. Diese Pole habe ich aus meiner Erfahrung hergeleitet. Was ist nun unsere nächste Aufgabe als Wissenschaftler? Wir definieren die eingeführten Pole für Haushalte. Was ist ein ordentlicher Haushalt, was ist ein schlampiger Haushalt? An welchen Kriterien können wir das festhalten? Ein wichtiges Kriterium in einem Haushalt ist das Abspülen, und aus diesem Kriterium lässt sich folgern, dass in einem prototypischen ordentlichen Haushalt nach dem Essen abgespült wird, während in einem prototypischen schlampigen Haushalt vor dem Essen abgespült wird.

Meine Damen und Herren, ich will Sie nicht länger mit theoretischen Abhandlungen quälen, sondern fordere Sie auf, sich selbst Phänomene ins Gedächtnis zu rufen, die Ihnen in Ihrem Leben bereits begegnet sind, diese begrifflich zu formen und über ihre Polarität nachzudenken!“

Während er das sagte, entdeckte Professor Schmorn eine junge Frau im Auditorium, die ihn an die junge Clarissa erinnerte.

Polarität

Notenständer der Welt

Vorderbrandner hatte ein Treffen mit dem ägyptischstämmigen Künstler Bahiti Chigaru arrangiert, und weil Vorderbrandner große Stücke auf Bahiti Chigaru hält, hatte er den Lokalreporter einer großen süddeutschen Tageszeitung zu diesem Treffen eingeladen. Der Lokalreporter war dieser Einladung gefolgt und gekommen. Zu Beginn des Treffens informierte Vorderbrandner den Reporter, dass er sich mit Bahiti Chigaru im folgenden über die Logik in der Sprache unterhalten wolle. Daraufhin meinte der Reporter, dass das ein Thema sei, das durchaus interessant sei, er jedoch bezweifle, dass es seine Redaktion genauso sehe. Vorderbrandner platzte daraufhin der Kragen, und er schrie den Lokalreporter an:

„Über jedes noch so dilettanische Laienschauspiel in einem abgehalfterten Gemeindezentrum berichten Sie und stellen es als große künstlerische Errungenschaft dar! Oder diese ganzen Hobbymaler und Hobbyschriftsteller, die nichts zu malen und nichts zu schreiben haben, die Sie mit einer Schleimspur in Ihr Blatt hineinredigieren! Aber über Bahiti Chigaru, der schon oft bewiesen hat, wie großartig er die menschliche Existenz darzustellen vermag, der die Ambivalenz der Dinge würdigt wie kein zweiter, über den wollen Sie nichts schreiben! Ich dachte immer, die Presse sei ein sensibles Organ für gesellschaftliche Notstände, aber Sie sind nur ein erbärmliches Anhängsel irgendwelcher Lobbies! Sie haben Angst, nichts als Angst! Jeder Buchstabe, den Sie schreiben, schreit vor Angst! Sie sind an Einfältigkeit nicht zu überbieten! Gehen Sie, verlassen Sie diesen Raum, Sie nichtsnutziger Schmarotzer dieser Gesellschaft!“

Der Lokalreporter wollte zunächst etwas erwidern, überlegte es sich dann jedoch anders und ging mit geöffnetem Mund zur Tür hinaus.

Eine Weile saßen Bahiti Chigaru und Vorderbrandner daraufhin schweigend da. Dann stand Chigaru auf und holte drei Notenständer, die in der Ecke des Raumes lehnten. Er stellte sie in der Mitte des Raumes auf und sagte zu Vorderbrandner:

„Valentin, ich bemerke deine Erregung. Das ist nicht schlimm! Wir werden diese Erregung nutzen für unsere Arbeit. Wir wollten über die Logik in der Sprache sprechen. Du hast vorhin, in deiner Erregung, über Notstände gesprochen. Da ist mir aufgefallen, dass ich dieses Wort lange nicht kannte. Als ich als Kind nach Österreich kam und deutsch gelernt habe, erschien mir eines sehr unlogisch: die Mehrzahlbildung. Es gibt Regeln, aber ich bekam sie nicht in mein Hirn. So dachte ich lange, die Mehrzahl von Notstand sei nicht Notstände, sondern Notenständer. Das war meine Logik: ein Notstand, mehrere Notenständer.

Dazu eine kurze Geschichte: Nehmen wir an, ein Notstand heißt Engelbert, ein anderer Adolf – wir haben also zwei Notenständer, nach meiner früheren Logik. In diesem Raum haben wir drei Notenständer. Wer ist also der dritte Notstand? Manche würden ihn Norbert nennen, andere Heinz-Christian, andere Roman Haider. Aber soll man die Notenständer auf dieses braune Gesindel im deutschsprachigen Raum beschränken? Nein! Vielleicht will dieses braune Gesindel uns nur zeigen, dass überall auf dieser Welt Notenständer herrschen, als eine Art repräsentativer Querschnitt.“

Bahiti Chigaru verteilte die drei Notenständer im ganzen Raum und fuhr fort:

„Angenommen, dieser Raum ist die ganze Welt. Es gibt überall auf der Welt Notenständer. Mein Notstand der Kindheit heißt Hosni, andere nennen ihren Notstand Viktor, Recep, Vladimir oder Donald. Aber wie wir die Notenständer auch nennen – ist es nicht vor allem wichtig, die Menschen hinter diesen Notenständern zu erkennen? Warum handeln diese Notenständer wie Notenständer? Ist es die Stimme der Menschheit, die sie treibt? Ist man nicht zuallererst selbst gefordert, kein Notenständer für andere zu werden beziehungsweise sich von anderen nicht zum Notenständer machen zu lassen? Vielleicht bin ich naiv, aber ich habe immer die Hoffnung, dass Notenständer vor allem auch Menschen sind, die andere Entwicklungsmöglichkeiten haben als Notenständer zu sein.“

Er machte eine kurze Pause und fuhr fort: „Entschuldige! Ich bin etwas vom Thema abgekommen. Eigentlich wollte ich nur erklären, dass Notenständer für mich immer die Mehrzahl von Notstand waren. Das war für mich vollkommen logisch. Deine Erregung jedoch hat mich zu weiteren Ausführungen verleitet.“

Bahiti Chigaru blieb stehen, inmitten der Notenständer. Ist das die hohe Schule der Installationskunst? Vorderbrandner hatte sich mittlerweile wieder beruhigt, fühlte sich aber wie ein Notenständer. Er bereute es, den Lokalreporter so rüde verscheucht zu haben: Vielleicht hätte er ja über den soeben gehaltenen Vortrag von Bahiti Chigaru einen Artikel geschrieben.

Schafft die Noten ab!

Ich hatte gerade eine erfolgreiche Session im Studio hinter mir. Ein neues Stück nahm Formen an. Ich ging pfeifend die Straße entlang, um meine Tochter vom Hort abzuholen, als ich folgende Schlagzeile im Zeitungskasten sah: SCHAFFT DIE NOTEN AB!

Ich war empört! Welcher Musikbanause kann so etwas fordern! Sicher, Musik geht auch ohne Noten, aber Noten gehören zur europäischen Musikkultur. Welch ein Verlust, wenn Bach, Mozart oder Beethoven keine Noten aufgeschrieben hätten!

Ich hatte mich noch nicht beruhigt, als mir meine Tochter im Hort tränenüberströmt entgegenlief. Sie fiel mir in die Arme und schluchzte: „Papa, ich habe in der Klassenarbeit nur eine Drei geschrieben. Und sogar Maria, die sonst immer schlechter ist als ich, hat eine Zwei bekommen.“

Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht oder allen Eltern, aber wenn ich etwas nicht ertrage, ist es, meine Tochter weinen zu sehen, obwohl das mittlerweile schon acht Jahre lang mehr oder weniger oft passiert. Ich kann mich daran nicht gewöhnen. Ich war also mindestens so empört über diese Drei wie meine Tochter traurig darüber, und dachte mir: Dieser Druck ist nicht gesund für die Kinder. Schafft die Noten ab!

Mit schlechter Laune machten wir uns auf den Heimweg, der uns wieder am Zeitungskasten vorbeiführte. Ich wollte nicht mehr hinschauen, tat es aber dann doch und las: SCHAFFT DIE NOTEN AB!

Gottseidank habe ich hingeschaut! Verwundert über meine Verbohrtheit, die man auch Blödheit nennen könnte, kaufte ich mir eine Zeitung. Ich las über die Forderung der Abschaffung von Schulnoten. Kein Mensch redet von Musiknoten. Ich trällerte fröhlich die Melodie meines neuen Stückes und sagte frohgemut zu meiner Tochter: „Mach dir keinen Kopf über deine Drei! Die Schulnoten werden bald abgeschafft.“

Das Wohnzimmer im besonderen Kontext des Lebens meiner Großeltern

oder: Lichtmess und der zweckloseste Raum, den ich je erlebt habe

Meinen Soziologieprofessor an der Uni, Herrn Dr. Klaus Zapiczinsky, habe ich als einen sehr gutherzigen und weltoffenen Menschen kennengelernt. Manchmal übertrieb er es mit seiner Gutherzigkeit, wie ich finde: Als ich und ein paar Kommilitonen unsere mündliche Prüfungen bei ihm ablegten und alle gemeinsam in seinem mit Büchern zugestellten Büro saßen, wusste einer der Kommilitonen auf keine der Fragen, die ihm Professor Zapiczinksy stellte, eine rechte Antwort, woraufhin Professor Zapiczinsky zu ihm sagte: Sie haben leider nichts gewusst. Genügend. Andererseits ermutigte mich seine Gutherzigkeit dazu, ihm folgendes Thema für meine Seminararbeit vorzuschlagen: Das Wohnzimmer im besonderen Kontext des Lebens meiner Großeltern.

Das Wohnzimmer ist das meistüberschätzte Zimmer in einer Wohnung. Man isst nicht darin, man schläft nicht darin, die Geselligkeit erschöpft sich oft im gemeinsamen Fernsehen. Allein ist man sowieso nie, ständig kann jemand unangemeldet hereinkommen, sei es der Partner, die Kinder oder sonstige Personen, mit denen man die Wohnung teilt. Das Wohnzimmer ist purer Luxus, ein Salon der kleinen Leute. Nach diesen Argumenten erkannte Professor Zapiczinsky die Notwendigkeit einer soziologischen Untersuchung des Wohnzimmers und stimmte meinem Seminarthema zu.

Als ich die Arbeit abgeschlossen hatte, stellte ich sie dem Auditorium zwischen den Bücherstapeln in Professor Zapiczinskys Büro vor:

Meine Großeltern haben kurz nach dem Krieg ein kleines Häuschen gebaut: quadratischer Grundriss, je drei Zimmer im Erdgeschoss und im ersten Stock, und im nordöstlichen Eck eine Diele, die über eine gekurvte Treppe die Stockwerke verband. Die Zimmer im ersten Stock lagen bereits unter dem Dach. Außerdem gab es einen Anbau mit Waschküche, Holzlage und Hühnerstall, über die Diele erreichbar. Meine Großeltern bewohnten nur die zwei südlichen Zimmer im Erdgeschoss: ihre Wohnküche und ihr Schlafzimmer. Das dritte Zimmer im Erdgeschoss war Kinderzimmer, die Mansardenzimmer im ersten Stock haben sie als Einliegerwohnung vermietet.

Als mit den Jahren das Nachkriegs-Wirtschaftswunder immer wunderbarer und meine Mutter erwachsen wurde, war meiner Großmutter, die einem stolzen Bauerngeschlecht entstammte, das kleine Häuschen ohne Wohnzimmer nicht mehr repräsentativ genug. Mein Großvater meinte, man könne doch das nördliche Zimmer als Wohnzimmer nutzen, weil meine Mutter ohnehin bald ausziehen würde, woraufhin meine Großmutter meinte, dieses Zimmer sei viel zu dunkel für ein Wohnzimmer, und wer sagt denn, dass meine Mutter ausziehen werde. Meine Mutter hatte während dieser Diskussionen meinen Vater kennengelernt und ihn geheiratet. Mein Vater entstammte einem ebenso stolzen Bauerngeschlecht wie meine Großmutter, was meiner Großmutter gefiel, und so beschloss meine Großmutter: Meine Eltern sollten den ersten Stock des Hauses beziehen. Dazu sollte das Haus vergrößert werden. Der vergrößerte Grundriss würde es erlauben, ein südwärts gerichtetes, helles Wohnzimmer im Erdgeschoss einzurichten.

Dieser Beschluss wurde umgesetzt, bereits in Anwesenheit meiner älteren Schwester, jedoch in meiner Abwesenheit. Aus dem ersten Stock wurde eine geräumige 5-Zimmer-Wohnung mit schönem Balkon, einer Wohnküche und einem modernen Bad. Meine Großeltern aber schienen dem Wirtschaftswunder während der Bauphase nicht mehr recht zu trauen, denn ihre Wohnung im Erdgeschoss blieb diesselbe, lediglich um einen Raum gestreckt. Sie wohnten in ihrer Wohnküche und schliefen in ihrem Schlafzimmer, das durch die bauliche Vergrößerung um einen Raum nach Westen gerückt war. Sie hatten also einen zusätzlichen Raum zwischen Wohnküche und neuem Schlafzimmer: ihr vormaliges altes Schlafzimmer. Diesen Raum richteten sie als Wohnzimmer ein, mit schönem Holzboden, einem eleganten Sofa mit dezenten grün-blauen Stoffbezügen und zwei dazupassenden Sesseln. Die Besuche konnten nun kommen und mit Stil empfangen werden. Doch da man das Wohnzimmer nur durch die Wohnküche betreten konnte, blieben die Besuche immer in der gemütlichen Wohnküche hängen, mit ihrem Holzofen, der Sitzecke und dem Diwan. Das Wohnzimmer sollte immer nur ein Durchgangszimmer zum Schlafzimmer bleiben – das zweckloseste Zimmer, das ich je erlebt habe. Oder wollten meine Großeltern mit dieser innenarchitektonischen Anordnung lediglich die Absurdität der Wohnzimmerkultur aufzeigen?

Am 2. Februar denke ich oft an das ehemalige Wohnzimmer meiner Großeltern, das sie nur als Durchgangszimmer nutzten. Meine Großeltern hatten jedes Jahr bis zu diesem Tag, dem 40. nach Weihnachten, einen Weihnachtsbaum in ihrem Wohnzimmer aufgestellt, wahrscheinlich um eventuellen Besuchen einen festlichen Rahmen zu bieten. Da der Raum nie beheizt wurde, weil sich nie jemand darin aufhielt, blieben die Nadeln des Baums jedes Jahr bis zum 40. Tag schön grün. Oft saß ich als Kind in der Weihnachtszeit am Baum, um mich an den brennenden Kerzen zu wärmen und mit den Figuren der darunterstehenden Krippe zu spielen. Ich war also, wenn ich mich recht erinnere, die einzige Person, die sich in diesem Raum aufhielt und ihn nicht nur durchschritt wie meine Großeltern, um zu ihrem Schlafzimmer zu gelangen.

Am 2. Februar haben meine Großeltern den Baum und die Krippe abgebaut, denn an diesem Tag endet nach dem christlichen Bauernkalender die Weihnachtszeit. Die Sonne wandert schon seit über einem Monat Richtung Nordhalbkugel. Die dunkelsten Nächte sind vorbei, und der Frühling meldet langsam seine Ansprüche gegenüber dem Winter an. Der Tag wird Lichtmess genannt, weil wieder Licht ins Leben kommt, weil das Leben neu erwacht. Dank Lichtmess habe ich an das Wohnzimmer meiner Großeltern schöne Erinnerungen, obwohl es der zweckloseste Raum war, den ich je erlebt habe.

Nach Ende meines Vortrags blickten die meisten meiner Kommilitonen recht gelangweilt drein, während Professor Zapiczinsky zufrieden nickte und sagte: Gratulation – Sie hatten, man kann es wohl so sagen, eine glückliche Wohnzimmer-Kindheit. Sehr gut.

Lichtmess in Volksmund und Tradition

Otto der Maulwurf

In der Schule war ich recht gut im Sport, was die Beine und Füße betraf. Ich lief sehr schnell und ausdauernd und konnte gut gegen den Ball treten. Sobald es aber auf die Fertigkeiten mit Armen und Händen ankam, verließen mich Kraft und Geschick. Handball, Basketball und Volleyball waren eine Qual für mich. Beim Völkerball durfte ich nie König sein, denn ich schaffte es nicht, den Ball ordentlich über das Feld zu werfen. Am schlimmsten war das Speerwerfen. Ich konnte mit dem Speer nicht umgehen, warf ihn kraftlos und ungelenk, und meist landete er wenige Meter vor mir unwürdig im Gras.

Ich wäre leicht zum Gespött meiner Mitschüler geworden. Doch unser Sportlehrer hatte eine Vorliebe für Fußball, sodass ich die seltenen Speerübungen irgendwie rumbrachte, ohne größeren Schaden zu nehmen. Und es gab Otto. Otto hatte solch krumme Beine, dass er mit ihnen entweder ausschlug wie ein wildes Pferd oder eines dem anderen im Weg war. Beim Speerwerfen war er so damit beschäftigt, nicht über seine Beine zu fallen, dass der Speer schließlich beim Abwurf wie ein nasses Handtuch von seiner Wurfhand fiel. Einmal hätte er es fast geschafft, sich selbst mit dem Speer zu erschlagen.

In einem Schuljahr hatten wir einen jungen Referendar als Sportlehrer. Der bevorzugte Handball, Basketball und Volleyball gegenüber Fußball. Und auch Speerwerfen machte er recht gern mit uns. Es war ein furchtbares Schuljahr für mich. Die einzige Zeit in meinem Leben, in dem Sport eine Qual war.

Ich mühte mich also wieder beim Speerwerfen, aber der Speer wollte nicht recht weit fliegen. Beschämt schlich ich mich nach jedem Wurf von dannen. Dann kam Otto an die Reihe, an jenem sonnigen Frühlingstag, als wir wieder einmal Speere warfen. Otto galoppierte mit dem Speer über die Wiese, bei jedem Schritt in Gefahr, dass seine Beine sich ineinander verhaken. Er holte mit seinem Wurfarm weit aus, viel weiter als sonst. Es sah tollkühn aus, aber man brauchte kein Prophet sein um zu erkennen, dass das schief gehen musste. Indem er diese für ihn ungewöhnlich weite Armbewegung machte, verloren seine Beine vollends ihre Koordination. Sie zappelten hilflos ineinander verschlungen in der Luft, bis er schließlich mit dem Kopf vorwärts zu Boden stürzte. Sein Gesicht lag im Gras, es hatte ihn voll aufs Maul gelassen. Der Speer, den er vor Schreck vergaß loszulassen, steckte direkt neben ihm in der Erde.

„Na Otto“, sagte der junge Referendar, der nicht wusste wie er mit Ottos Tolpatschigkeit umgehen soll, daraufhin flapsig: „Das war nun kein Speerwurf, sondern ein Maulwurf!“

Die ganze Klasse johlte: „Maulwurf! Maulwurf!“, während Otto sein Gesicht, das blutverschmiert war, langsam zur Seite drehte. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Später stellte sich heraus, dass er sich dabei den Schädel geprellt und die Nase gebrochen hatte. Ich war heilfroh, dass es Otto gab, denn sonst wäre ich der Maulwurf gewesen, über den sich Hohn und Spott ergossen hätte.

Ich beschloss nun, die Sache mit dem Werfen offensiver anzugehen. Ich schnappte mir zuhause einen Ball, ging damit auf eine einsame Lichtung im Wald und warf ihn, warf ihn, warf ihn, immer wieder, bis es mir richtig Spaß machte. Dann suchte ich mir einen langen, geraden Holzstecken, der am Waldboden herumlag, als Speerersatz, und warf ihn wie den Ball, immer wieder. Viele Nachmittage verbrachte ich so im Wald. Ich bin kein guter Werfer geworden, aber ein passabler. Der Speer fliegt nun in respektabler Kurve und landet in achtbarer Entfernung. Handball, Basketball und Volleyball mag ich immer noch nicht. Der Fußball ist meine wichtigste unter den unwichtigen Sachen geblieben. Aber beim Völkerball springe ich gern mal als König ein.

Vor kurzem habe ich meine Eltern besucht und Otto auf der Straße gesehen. Sehr konzentriert und schnell riss er seine Beine hin und her während er ging, als hätte er noch immer Angst, dass er plötzlich hinfällt und ihn jemand Maulwurf ruft. Ich hielt ihn nicht auf in seinem strammen, verkrampften Schritt, denn ich hätte nicht gewusst, was ich sagen soll. Ihm zu sagen, dass ich ihm sehr dankbar bin, weil ich durch ihn meine Kraft und mein Geschick in meinen Armen und Händen entdeckt habe, erschien mir nicht passend. Er bewegte sich immer noch wie Otto der Maulwurf, und auch das hätte er bestimmt nicht hören wollen.

 

Der verliebte Schönheitschirurg

Dem Schönheitschirurg Dr. Silikus ging es schlecht, deshalb suchte er einen Psychiater auf.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte der Psychiater.

„Ich habe mich in eine Frau verliebt, die als Patientin zu mir kam. Sie will sich von mir die Brüste größer machen lassen.“

„Ich sehe das Problem nicht.“

„Ich kann es nicht. Ich kann ihre Brüste nicht operieren, denn ich finde sie schön, wie sie sind.“

„Haben Sie ihr das gesagt?“

„Nein. Sie weiß von nichts.“

„Hm… Warum sind Sie Schönheitschirurg geworden?“

„Als Kind habe ich oft einen Metzger besucht, der ein Freund meines Vaters war. Er hatte eine eigene Schlächterei. Ich habe beim Schlachten und Ausnehmen der Tiere zugesehen, später habe ich dann selbst Hand angelegt. Es faszinierte mich, die Teile des Körpers zu berühren, zu spüren, sie zu erforschen und mit ihnen umzugehen. Als ich später Medizin studierte, um in die Fußstapfen meines Vaters zu treten, erinnerte ich mich an die Stunden beim Metzger und beschloss, Chirurg zu werden.“

„Vom Metzger zum Chirurg, gut. Aber wieso Schönheitschirurg?“

„Alle sagten: Mit herkömmlicher Chirurgie arbeitest du dir einen Wolf ab im Krankenhaus. Aber mit plastischer und ästhetischer Chirurgie, da kannst du richtig Geld verdienen!“

„Verstehe. Das Geld treibt Sie an. Wen treibt es nicht an! – Lehnen Sie manchmal auch Aufträge ab?“

„Wie?“

„Naja, weigern Sie sich zum Beispiel manchmal, eine bestimmte Operation durchzuführen?“

„Nein. Was der Kunde will, wird gemacht. Schließlich verdiene ich mein Geld damit.“

„Sie kämen also nie auf die Idee, einem Patienten zu sagen, ihn nicht zu operieren, weil Sie die Operation als nicht notwendig und zielführend erachten?“

„Nein. Da könnte ich gleich zusperren. Wissen Sie, für die meisten Leute, die zu mir kommen, ist es nicht notwendig, sich operieren zu lassen. Die sind nur eitel und ertragen ihre eigene Existenz nicht. Sie erhoffen sich von meinen Eingriffen ein schöneres Leben, das nichts mehr mit ihrem bisherigen zu tun hat. Ich kann diese Leute nicht mehr ertragen: kleinere Nase, größere Brüste, Fältchen im Gesicht und Fettpölsterchen an den Schenkeln weg – als ob das so wichtig wäre! Diese Leute glauben, dass sie mit dem Geld, das sie mir zahlen, vor sich selbst weglaufen können.“

„Will das die Frau, in die sie sich verliebt haben, auch?“

„Ich glaube schon. Sie sagt, eine Frau müsse große Brüste haben, mindestens B-Körbchen, sonst sei sie keine Frau.“

„Das hat sie Ihnen gesagt?“

„Ja. Ich hatte ihr gesagt, dass sie sehr schöne Brüste habe, daraufhin hat sie mir das geantwortet.“

„Sie sagten doch, Sie hätten ihr nichts gesagt?“

„Doch, das habe ich ihr gesagt. Es lag mir außerdem auf den Lippen, ihr zu sagen, dass sie eine sehr schöne Frau ist, mit ihren A-Körbchen-Brüsten, aber das habe ich ihr nicht gesagt. Es erschien mir nicht angebracht und unprofessionell.“

„Werden Sie die Frau operieren?“

„Nein! Ich kann es nicht! Ich darf diese schönen Brüste nicht zerstören, sie sind ein Wunder der Natur. Sie gehören zum Gesamtkunstwerk, als das ich diese Frau wahrnehme.“

„Dann sagen Sie ihr, dass Sie ihre Brüste nicht operieren werden!“

„Was nützt das? Sie wird zu einem anderen Schönheitschirurgen gehen und sich dort operieren lassen!“

„Das kann sein. Aber Sie können von dieser Frau, weil Sie sie lieben, nicht verlangen, dass sie sich selbst liebt.“

„Das verstehe ich nicht!“

„Denken Sie darüber nach! Im übrigen empfehle ich zur Therapie folgendes: Bewerben Sie sich in der Unfallchirurgie eines Krankenhauses. Dort arbeiten Sie sich dann einen Wolf daran ab, die entstellten Unfallopfer so gut es geht wieder herzustellen. Sie können das und werden Spaß daran haben! Sie werden zufrieden sein! Das Geld, das Sie verdienen werden, wird schon reichen, keine Sorge! Sie werden das Leben wieder lieben, so wie Sie diese Frau lieben, die Sie nicht operieren wollen.“

Das Leben über alles

Vorderbrandner ist im Theater gewesen und hat Terror gesehen. In dem Stück wird ein Gerichtsprozess verhandelt: Ein Militärpilot ist wegen Mordes angeklagt. Er hat ein Passagierflugzeug mit 164 Personen an Bord abgeschossen. Das Flugzeug war von einem Terroristen gekapert worden und steuerte auf das vollbesetzte Fußballstadion in München mit 70.000 Zuschauern zu. Durfte der Militärpilot die Maschine abschießen, um Schlimmeres zu verhindern? Rechtlich hatte er keinerlei Rückendeckung, denn der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes besagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Also darf man unschuldige Passagiere in einem Flugzeug nicht abschießen, so das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Wenn die Flugzeuge, die am 11. September 2001 in die Hochhäuser in New York und in den Pentagon flogen, vorher vom Militär abgeschossen worden wären – würden wir uns besser fühlen? fragt Vorderbrandner.

Nein, sage ich. Wir würden uns nicht besser fühlen. Wir wüssten ja nicht, ob sie in die Hochhaustürme und in den Pentagon geflogen wären. So etwas konnte sich bis zu diesem Tag niemand vorstellen, dass jemand eine solche Tat begehen würde. Und die Terroristen haben es über Funk nicht angekündigt. Es würde sich erst recht um Mord handeln, wenn die Flugzeuge abgeschossen worden wären.

Die amerikanische Regierung unter George Bush hat damals gesagt, ein Abschuss wäre rechtlich erlaubt gewesen.

Weil die Amerikaner das Recht für sich beanspruchen, alle zu töten, die nicht so denken wie sie.

Nein. Weil sie die Menschen in den Hochhäusern und im Pentagon retten wollten.

Ich will etwas ausholen: Ich erzähle dir, was ich am 11. September 2001 gemacht habe. Ich habe meinen kleinen Neffen gehütet. Bald habe ich mitgekriegt, was geschehen war, und habe den Fernseher angemacht. Ich sah die Bilder der einschlagenden Flugzeuge, die Explosionen, immer wieder, und mein kleiner Neffe saß neben mir und sah sie auch. „Was ist mit den Menschen in den Flugzeugen passiert?“ fragte er mich, nachdem wir lange fassungslos vor dem Fernseher gesessen waren. „Die sind alle gestorben.“ „Und mit den Menschen in den Hochhäusern?“ „Viele konnten sich wahrscheinlich retten, aber viele sind auch gestorben.“

Abends wollte ich ihn ins Bett bringen, aber er wollte immer wieder die Bilder der einschlagenden Flugzeuge sehen. „Komm“, sagte ich, „ab ins Bett!“ Ich hatte ein schlechtes Gewissen, den kleinen Buben so lange diesen Schrecklichkeiten ausgesetzt zu haben. Aber er ließ sich nicht vom Fernseher bewegen.

„Wieso willst du das denn immer wieder sehen?“ fragte ich ihn schließlich.

„Vielleicht fliegen die Flugzeuge beim nächsten Mal vorbei. Dann müssen nicht so viele sterben.“

Jetzt verstand ich seine Anspannung, und seine Hoffnung, dass die Flugzeuge doch nicht in die Hochhäuser einschlagen. Erst jetzt wurde mir bewusst, was passiert war. Es geht nicht um die Amerikaner oder um die Moslems. Es geht um die Menschen in den brennenden Hochhäusern. Ich war ergriffen und gerührt vom Glauben meines kleinen Neffen an das Leben, wie er jedes Mal wieder aufs neue hoffte, dass die Flugzeuge vorbeifliegen würden.

Schließlich schaffte ich es, ihn ins Bett zu bringen. Ich musste mich sehr überwinden, den Fernseher auszumachen, so unfassbar war das alles. Im Bett erzählte ich ihm die Geschichte von dem Mädchen, das durch die bevölkerten Straßen geht, an das Gute im Menschen glaubt und sich jedesmal freut, wenn ihr Glaube mit einem Lächeln erwidert wird. Während ich ihm das erzählte, konnte ich meine Tränen nicht unterdrücken. Was war denn da passiert heute? Irgendwann schliefen wir beide nebeneinander ein.

Seit diesem Erlebnis mit meinem kleinen Neffen am 11. September 2001 glaube ich noch viel mehr an das Leben als davor. Ich glaube an das Leben, bis zum letzten Moment und bedingungslos. Wieso also sollte man Passagierflugzeuge abschießen dürfen? Ist das nicht eine Absage an das Leben? Hätte man die Flugzeuge am 11. September 2001 abgeschossen, würden die Zwillingstürme in New York noch immer in den Himmel ragen, aber man würde sich fragen, ob man die Passagiere nicht vielleicht doch hätte retten können. Man hätte die Mordabsicht der Terroristen mit Mord vergolten. Wird das dem Leben gerecht?

Ich wurde im Theater, während der Vorstellung von Terror, von Ängsten getrieben, sagt Vorderbrandner; dass unser westliches Leben bedroht wird von dunklen Mächten, die uns vernichten wollen. Und ich dachte, dass man einen redlichen Menschen wie den angeklagten Militärpiloten, der nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat, der unsere Werte schützt und verteidigt, doch nicht wegen Mord verurteilen darf. Leben heißt, sich entscheiden. Wenn es sein muss, über Leben und Tod. Das hat mir Terror vor Augen geführt.

Ich wollt ich wär ein Huhn

Der Mensch hat den Wunsch, ein Huhn zu sein. Denn ein Huhn hat nicht viel zu tun. Es legt täglich ein Ei, ansonsten hat es frei. Hühner in beengten Geflügelfarmen haben so wenig zu tun, dass sie sich mir ihren Schnäbeln gegenseitig verletzen. Doch dazu später.

Bleiben wir zunächst bei der Frage, wie weit der Mensch gekommen ist mit seinem Wunsch, ein Huhn zu sein. Viele laufen auf den Straßen bereits herum wie blinde Hühner, starren gebannt auf ihre Smartphones und haben keinen Blick mehr für ihre Umwelt. Es werden Forderungen laut, diese blinden Hühner einzusperren, um ihre Umwelt vor ihnen und sie selbst vor sich zu schützen. Wahrscheinlich würden die blinden Hühner es nicht merken, wenn sie eingesperrt werden. Falls doch, könnte man ihnen zur Ablenkung vor der Festnahme eine App installieren, mit der sie virtuell durchs All fliegen, um die Festnahme zu einem unkomplizierten, gewaltlosen, vom Betroffenen unbemerkten Vorgang zu machen.

Was sollte man mit denen machen, die ein Huhn sein wollen, aber nicht über den Umweg, zunächst ein blindes Huhn unter Menschen zu sein? Man könnte sie gleich einsperren, in einen Raum ähnlich einem Ei, der dafür sorgt, dass die körperliche Ver- und Entsorgung rund um die Uhr funktioniert, ohne das der Betroffene sich bewegen muss. Wer soll das bewerkstelligen? Computer natürlich. Künstliche Ernährung, künstlicher Darmausgang, alles kein Problem. Visuelle Projektionen an die Innenwand vom Ei sorgen für geistige Ablenkung. Der Mensch lebte wie ein Küken im Ei. Er hätte das Huhn sozusagen überholt in seinem Nichstun, indem er dessen pränatalen Status annimmt.

Womit wir wieder bei den echten Hühnern wären, die in Geflügelfarmen so wenig zu tun haben, dass sie sich mit ihren Schnäbeln gegenseitig verletzen. Für diese Hühner entwirft man mittlerweile Beschäftigungsprogramme. Man gibt ihnen zum Beispiel gepresste Dinkelballen mit eingeschlossenen Weizenkörnern. So picken sie an den Dinkelballen, um Weizenkörner zu finden, anstatt sich mit ihren Schnäbeln an das Gefieder des Nachbarn zu machen. Entwickeln sich Hühner also gegenläufig zum Mensch? Der eine will mehr tun, der andere weniger?

Ist der ideale Mensch ein im Nichtstun erstarrtes, von der digitalen Berieselung eingelulltes Huhn? Braucht der Mensch nicht auch etwas zu tun, um seinem Leben Sinn und Erfüllung zu geben? Dinkelballen, in denen er nach Weizenkörnern sucht. Herausforderungen, die er zu bewältigen hat. Oder sind das alles unberechtigte Zweifel am Nichtstun, und ich sollte mich endlich davon überzeugen lassen, ein Huhn (im Ei) sein zu wollen?