Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Drei Brüder und der Ring am Fing

Es waren einst drei Brüder, die hießen mit Nachnamen Stürz, Türze und Ürzer. Als gemeinsamen Vornamen hatten sie Georg. In ihrer Kultur war es üblich, sich beim Vornamen anzusprechen. In ihrem speziellen Fall jedoch war man dazu übergegangen, sie beim Nachnamen anzusprechen.

Um ihre individuelle Entwicklung zu fördern, machten die Brüder oft unterschiedliche Dinge. So war Stürz nach Dingolfing gefahren, während Türze nach Aubing und Ürzer nach Trudering gefahren war. Als sie wieder zurückgekehrt waren von ihren Ausflügen, hatten Stürz und Türze nichts Besonderes zu berichten. Ürzer jedoch, vor allem weil er wusste, dass Stürz in Dingolfing gewesen war, berichtete von seinem Ausflug nach Trudering Folgendes:

Gertrude aus Trudering
hatte einen Ring am Fing,
und Ger, ihr Mann aus Dingolfing,
nannte ihn den Trudering,
den Ring an Trudes Fing.

Trudering

Von Kombi-Nationen und einstürzenden Hauswänden

Es ist eine gewagte These, die Schweden als Kombi-Nation zu bezeichnen. Ich tue das nur, weil die Nachbarn meiner Eltern einen Volvo Kombi besaßen und im Film Szenen einer Ehe von Ingmar Bergman immer wieder ein gelber Volvo Kombi prominent im Bild ist. Volvo Kombis waren Kästen auf vier Rädern. Sicher wie eine Trutzburg und geräumig wie eine große Rumpelkammer. Als Kind träumte ich davon, einmal so einen Volvo Kombi zu besitzen. Aber selbst die Volvo Kombis sind heute nicht mehr eckig wie einst. Sie sind abgerundet und haben eine schräge Heckklappe, als wollten sie Sportwagen und Kombi in einem sein und sind doch nichts von beidem.

Während ich also versuche, meine gewagte These der Schweden als Kombi-Nation zu falsifizieren und mich von dem nostalgischen Gedanken abzulenken, einen eckigen Volvo Kombi zu erwerben, liege ich in meinem Bett und schaue Richtung Osten. Da es Morgen ist, liegt es nahe, dass ich durch meine Blickrichtung nach Osten in die Sonne blicke. Doch ich blicke nicht in die Sonne, sondern an die Wand. Selbst wenn ich es zu meinem Tagwerk machen würde, die Wand zu beseitigen, die meinen Blick nach Osten versperrt, würde ich nur an eine weitere Wand blicken. Außerdem würde ich – es ist zu vermuten – meine Nachbarn verärgern, indem ich die trennende Wand zwischen unseren Wohnungen beseitige. Und selbst wenn sich meine Nachbarn einverstanden zeigten, wären mindestens die Wände von zwei weiteren Häusern zu beseitigen für den freien Blick nach Osten in die tiefe Morgensonne. Zu den statischen Problemen, die sich aus diesen Einreißaktionen ergeben würden, kann ich mangels technischer Expertise an dieser Stelle nichts sagen. Insgesamt erscheint es jedoch nicht lohnend, die Wände einzureißen wie einst Themroc, nur um ein paar Strahlen der Morgensonne abzubekommen.

Doch zurück zu der Zeit, als die Schweden eckige Volvo Kombis besaßen und eine Kombi-Nation waren. Damals gab es auch Autos namens Hummer, die aussahen wie gefährliche kleine Panzer. Hummers werden heute nicht mehr gebaut, dafür aber viele andere Autos, die ebenfalls aussehen wie gefährliche kleine Panzer. Man nennt diese Autos SUVs – Sport Utility Vehicles. Das Wort Sport soll von der eigentlichen Bestimmung ablenken: Während man sich nämlich früher mit Sportwagen selbst zu Tode gefahren hat,

sehen SUVs so aus, als ob damit andere zu Tode gefahren werden sollen.

Viele dieser SUVs fahren in der Stadt herum, auf dem beengten Platz zwischen den Wänden der Häuser. Warum fahren die großen SUVs zwischen den Wänden der Häuser herum? Ich habe dazu folgende – gewagte – These: Die Fahrer der SUVs wollen mit ihren Autos nicht zwischen den Hauswänden fahren. Dies sind nur Erkundungsfahrten, um ihre eigentliche Aktion vorzubereiten: nämlich um gegen die Häuswände fahren, um diese einzureissen und um so ein paar Strahlen der tiefen Morgensonne abzubekommen, wenn sie morgens in ihren Betten erwachen. Mit Spannung und Furcht zugleich erwarte ich also nun den Tag, an dem die SUV-Fahrer mit ihrer Aktion beginnen.

Oder sollte ich diese These ebenfalls falsifizieren?

Schriftstellerei über das Versicherungswesen

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, mit der Absicht, meine Gedanken in Schrift zu stellen, denn schließlich entspricht es meinem Selbstverständnis, ein Schriftsteller zu sein.

Ich stellte die Schrift mit der Hand in mein Notizbuch, beschloss jedoch nach ein paar Zeilen, meinen Computer für die weitere Schriftstellerei zu benutzen. Bevor ich den Texteditor öffnete – das nur nebenbei – hörte ich Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, und da es sich bei diesem Album um ein Konzeptalbum handelt, sah ich mich gezwungen, es bis zum Ende anzuhören. Danach öffnete ich den Texteditor, um die Schriftstellerei in meiner Lieblingsschrift Courier New fortzusetzen.

Als ich den geöffneten Texteditor vor mir sah, fiel mir ein, dass ich seit zwei Tagen nicht mehr nach der Post gesehen hatte. Dieser Gedanke wich nicht von mir, sodass ich beschloss, bevor ich mit dem Stellen der Schrift fortfahren würde, dem Gedanken nachzugehen und nach der Post zu sehen. In der Post befand sich ein Brief meiner Rechtsschutzversicherung, mit der Aufforderung, die fällige Prämie zu bezahlen. Diese Aufforderung bereitete mir Unbehagen, sodass meine Gedanken um das Versicherungswesen zu kreisen begannen und ich die Idee hatte, Schrift mit Gedanken über das Versicherungswesen zu stellen.

Als ich wieder vor dem Texteditor saß, hörten die Gedanken auf, um das Versicherungswesen zu kreisen und konzentrierten sich stattdessen auf das Wort Rechtsschutzversicherung. Dieses Wort besteht aus vierundzwanzig Buchstaben. Vierundzwanzig ist eine gut teilbare Zahl. Da bei Courier New alle Buchstaben gleich breit sind, würden sich diese Teilungen als optisch ansprechendes Resultat präsentieren. Meine Schriftstellerei über das Versicherungswesen erschöpfte sich deshalb auf eine Worttrennungsstudie des Wortes Rechtsschutzversicherung. Diese Studie erstreckt sich von radikaler Horizontalität bis zu radikaler Vertikalität:

Rechtsschutzversicherung
Rechtsschutz
versicherung
Rechtssc
hutzvers
icherung
Rechts
schutz
versic
herung
Rech
tssc
hutz
vers
iche
rung
Rec
hts
sch
utz
ver
sic
her
ung
Re
ch
ts
sc
hu
tz
ve
rs
ic
he
ru
ng
R
e
c
h
t
s
s
c
h
u
t
z
v
e
r
s
i
c
h
e
r
u
n
g

Nana, Boris und ich

Eigentlich will ich nichts sagen, denn alles was ich sage, sind Mutmaßungen von dem was ich glaube, das die Wirklichkeit ist. Ich erlebe die Wirklichkeit als ein äußerst fragiles gefühlsbasiertes Gedankenkonvolut, das ständig seine Gestalt ändert; das ständig in Bewegung ist, und ehe man es begreift, einem wieder entwischt. Ich denke die Wirklichkeit gerne als Felsen, auf dem ich stehe, aber ich fühle sie wie Wasser, in dem ich treibe.

Als Nana und ich uns das erste Mal begegneten, trieb ich im Wasser, angenehm, in einem warmen kleinen See, und Nana stand, zumindest was meine Wirklichkeit betrifft, auf einem Felsen. Ich wünschte mir sofort, dass Nana zu mir ins Wasser kommt. Ich fand sie schön und begehrenswert, und wie immer, wenn ich eine Frau schön und begehrenswert finde, kann ich das nicht näher beschreiben: Es ist einfach so. Ich wünschte mir also, dass Nana zu mir ins Wasser kommt. Aber sie kam nicht. Sie lächelte mir freundlich zu, aber sie blieb auf dem Felsen stehen.

Bei jetziger Betrachtung der Dinge sehe ich die Lage allerdings etwas komplexer. Jetzt denke ich, dass ich mir gar nicht wünschte, dass Nana zu mir ins Wasser kommt, sondern dass ich sie so schön und begehrenswert fand, weil sie auf dem Felsen stand und nicht ins Wasser kam. Die Wirklichkeit ist eben ein gefühlsbasiertes Gedankenkonvolut, dass sich schwer begreifen lässt und sich immer wieder neu erfindet.

Doch zurück zu meiner ersten Begegnung mit Nana. Nana wurde begleitet von Boris. Boris sprang sofort zu mir ins Wasser, in den warmen kleinen See. Ich fand das sehr sympathisch, und wir lächelten uns zu. Doch ich war zu abgelenkt von der Schönheit Nanas, die nach wie vor auf dem Felsen thronte. Ich begehrte Nana so sehr, dass ich Boris nicht weiter beachtete. Wir verloren sofort wieder unseren Kontakt. Irgendwann drehte ich mich um und sah Boris am anderen Ufer des Sees aus dem Wasser steigen und in den angrenzenden Wald verschwinden.

Ich blieb im Wasser, im warmen kleinen See. Nana blieb auf dem Felsen stehen und sagte mir, dass Boris nun durch den Wald zum Meer läuft und sich im weiten Wasser verirren wird.

Aber das ist doch schrecklich! sagte ich. Sollen wir ihm nicht folgen und ihn daran hindern, dass er sich verirrt?

Ich habe Boote organisiert, die ihn suchen werden, sagte Nana kühl und bestimmt. Ob sie ihn finden, weiß ich nicht, sagte sie dann noch.

Ich blickte hinüber zum Wald, wo Boris aus dem See gestiegen war, und stellte mir hinter dem Wald das weite Meer vor. Ich bangte um Boris. Dann wanderte mein Blick zurück zu Nana. Ich fand sie schön und begehrenswert, wie sie auf ihrem Felsen stand. Gleichzeitig fand ich mich schön und begehrenswert, wie ich im Wasser trieb und bekam große Lust, gemeinsam mit Nana im Wasser zu treiben. Ich stellte mir vor, wie Nana zu mir ins Wasser springt, mit all der Weiblichkeit, die ich an ihr wahrnahm. Aber Nana zierte sich. Sie steckte ihre Zehen kurz ins Wasser, um dann zu beschließen, auf dem Felsen zu bleiben.

So trieb ich alleine im Wasser weiter. Boris will nicht an Land. Nana will nicht ins Wasser. So ist das eben. Mehr gibt es dazu im Grunde nicht zu sagen.

Funklöcher: Rechte und Pflichten

Brotlose Kunst – dieser Begriff schwirrt mir oft durch den Kopf. Vorderbrandner und ich können uns unser Schreibbüro nur leisten, weil wir alle möglichen anderen Jobs machen. Außerdem hat es uns sehr geholfen, dass Vorderbrandner, den ich inzwischen zu meinem Teilhaber gemacht habe, das Erbe seines reichen Onkels aus Amerika erhalten hat, das er fast vollständig in unser Büro investiert hat.

Trotzdem ist unsere Finanzlage nach wie vor angespannt. Deshalb freut es mich sehr, dass mich Modern Life – laut Eigendefinition das Onlinemagazin für modernes Leben – damit beauftragt hat, wöchentlich eine Kolumne zu schreiben. Es wurde mir gesagt, dass meine bisherigen Texte einen anderen Blick auf die Dinge werfen würden, was genau die Philosophie des Magazins widerspiegelt. Außerdem wurde ich damit beauftragt, fremde Texte ad-hoc zu redigieren, was ich als angenehme Möglichkeit für zusätzlichen, artverwandten Verdienst sehe.

Nach Ideen für meine Kolumne suchend, schlage ich die Zeitung auf und lese: Der neue Minister für digitale Infrastruktur fordert das flächendeckende Bürgerrecht auf Funklochfreiheit. Wenig inspiriert von dieser Nachricht, schlage ich die Zeitung wieder zu und beschließe, draußen nach Ideen weiterzusuchen. Ich stecke meinen Notizblock in meine Tasche zwecks Ideenskizzierung und fahre mit dem Fahrrad in den Nachmittag.

Weiße Wolken ziehen am blauen Himmel, als ich die alte Trambahntrasse entlangfahre, die nun ein mit Sträuchern und Büschen durchsetzter Grünstreifen ist. Als die U-Bahn noch oberirdisch fuhr, skizziere ich in meinen Block. An der ehemaligen Endhaltestelle angekommen, deren Schleife noch gut erkennbar ist, verkeilt sich die Schaufel eines Baggers in die Mauern eines Hauses, um es abzureissen. Ein älterer Mann beobachtet den Abriss und sagt mir in mein fragendes Gesicht: Das war ein Haus für Vertriebene aus dem Zweiten Weltkrieg – für Sudetendeusche, für Schlesier. Hier bin ich aufgewachsen. Neben dieser Abrissbaustelle steht ein Containerbau für Flüchtlinge aus dem Afghanistan- und Syrienkrieg. Flüchtlinge gestern und heute, notiere ich in meinen Block, als mögliches Thema für meine Kolumne.

Hinter diesen Bauten hört die Stadt auf und geht unmittelbar über in eine weite Heidelandschaft. Ich komme gerne hierher und streune im Weit der Heide: der weite Himmel über mir; die alleinstehenden Kiefern im Gräsermeer; die weidenden Schafe. Aufgeregt höre ich einen Kiebitz rufen. Der Kiebitz am Rande der Stadt, schreibe ich in meinen Ideenblock.

Erholt und voller Ideen komme ich zuhause an, als ich zuallererst auf mein Handy blicke. Ich hatte nämlich vergessen, es auf meinen Ausflug mitzunehmen. In meiner E-Mail-Inbox sechs neue Nachrichten von Modern Life:

Auftrag zum Redigieren des Textes: Hund macht Häufchen und Herrchen macht's nicht weg - Bürgerinitiativen fordern höhere Strafen
Auftrag zum Redigieren des Textes: Hitze im Frühling - steuert die Erde auf ihren Untergang zu?
Auftrag zum Redigieren des Textes: Brustvergrößerung - Tipps und Adressen
Erinnerung - Auftrag zum Redigieren des Textes: Hund macht Häufchen und Herrchen macht's nicht weg - Bürgerinitiativen fordern höhere Strafen
Erinnerung - Auftrag zum Redigieren des Textes: Hitze im Frühling - steuert die Erde auf ihren Untergang zu?
Erinnerung - Auftrag zum Redigieren des Textes: Brustvergrößerung - Tipps und Adressen

Ich lege das Handy zur Seite und mache mir zunächst einen Teller Nudeln, um dann gestärkt die Aufträge abzuarbeiten. Als ich vom Essen zurückkomme, ist eine weitere E-Mail von Modern Life angekommen:

Betreff: Sperre Ihres Auftragskontos

Sie haben die vereinbarte Responsezeit für Ihnen erteilte Aufträge überschritten. Ihr Konto ist   deshalb für weitere Aufträge gesperrt.

Hastig mache ich mich an die Arbeit. Mir fällt der Zeitungsartikel bezüglich Bürgerrecht auf Funklochfreiheit wieder ein und ich leite daraus eine Bürgerpflicht zur Funklochfreiheit ab. Ich werde mich deshalb in Zukunft dieser Pflicht gewissenhaft unterwerfen und mein Handy auf alle Ausflüge mitnehmen, um den schlechten Start bei Modern Life wieder auszubügeln.

So lebe ich nun seit einiger Zeit, Funklöcher tunlichst vermeidend.

Jetzt ist der Sommer da, Urlaubszeit! Ich informiere Modern Life, dass ich für zwei Wochen auf eine Mittelmeerinsel reisen werde und dabei meiner Pflicht zur Funklochfreiheit nicht nachkommen werde.

„Aber Sie werden Ihr Mobilfunkgerät doch auf die Insel mitnehmen!“

„Doch, ja“, sage ich: „Allerdings gibt es auf der Insel noch nicht das lückenlose Recht auf Funklochfreiheit.“

„Reden Sie keinen Unsinn! Das ist mittlerweile EU-weit durchgesetztes Recht!“

Gegen diese wasserdichte, kein Funkloch zulassende Aussage kann ich nichts einweden. Also muss ich die Hosen runterlassen und verrate Modern Life ein großes persönliches Geheimnis:
„Es ist ein Erholungsrital von mir, auf der Mittelmeerinsel am kilometerlangen Strand nackt auf- und abzulaufen. Ich habe festgestellt, dass ich so neue Energie tanke.“

„Aber Sie können Ihr Mobilfunkgerät doch mitnehmen bei Ihren Läufen!“

„Wo soll ich es denn einstecken, wenn ich nackt bin?“

Ich vernehme ein Zähneknirschen meines Gegenübers und denke mir: Das moderne Leben ist ziemlich angespannt.

Trotz dieser Anspannung werde ich schließlich auf die Mittelmeerinsel entlassen, mit der Erlaubnis, selbstkreierte Funklöcher am Strand aufzusuchen. So nehme ich jedenfalls an.

Auf der Reise auf die Insel, als das Schiff auf hohe Wellen trifft, bange ich plötzlich um mein Recht auf Nacktheit. Würde die Bekleidungsindustrie eine Bekleidungspflicht einführen, um so ihren eigenen Absatz anzukurbeln und gleichzeitig der Medienindustrie bei ihrem Kampf um Funklochfreiheit beizustehen? Auf der Insel angekommen, öffne ich aus schlechtem Gewissen sofort die Inbox für meine E- Mails. Ich habe eine neue Nachricht von Modern Life erhalten:

Betreff: Beendigung Ihres Auftragsverhältnisses

...hat unsere Redaktion festgestellt, dass die Themenauswahl Ihrer Kolumne (Als die U-Bahn noch Trambahn war, Schlesische und afghanische Flüchtlinge und ihre Behausungen am Rande der Gesellschaft, der Kiebitz am Rande der Stadt usw.) nicht konform ist mit den Inhalten unseres Magazins. Wir haben deshalb beschlossen, das Auftragsverhältnis mit Ihnen zu beenden.

Fälscher, Stürzer und Schütter

Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast, ist ein Lebensgrundsatz eines Mannes namens Fälscher. Die Statistik, aus der hervorgeht, dass Fliegen mit dem Flugzeug sicherer ist als Fahren mit dem Fahrrad, so Fälscher, geht davon aus, dass Terroranschläge auf Flugzeuge und militärische Abschüsse von selbigen keine Unfälle sind und daher nichts mit Sicherheit zu tun haben.

Ein Mann namens Stürzer, der den Ausführungen Fälschers aufmerksam gelauscht hat, meint daraufhin: Dann war es also kein Unfall, als ich – die Ostukraine mit dem Fahrrad durchquerend – von selbigem stürzte, weil ich von russischen Militärs beschossen wurde.

Nein, ganz sicher nicht, entgegnet Fälscher Stürzer: Wenn Sie vom Fahrrad stürzen, ist das allein auf ihren Namen zurückzuführen.

Das kann ich so nicht stehen lassen, sagt Stürzer. Es ist nämlich so: Stürzen bedeutete im Mittelhochdeutschen so viel wie heute schütten. Der Stürzer war der Mann, der das Korn vom Feld zur Mühle brachte und es zum Mahlen hineinschüttete. Hätte man damals unser heutiges Deutsch gesprochen, wären meine Vorfahren Schütter genannt worden.

Sie würden heute Schütter genannt werden, sagt Fälscher daraufhin, das schüttere Haar von Stürzer betrachtend.

Vielleicht, meint Stürzer, die Schütterkeit seines Haars mit seinen Fingern betastend. Aber in zehn Jahren müsste ich mich vielleicht von Schütter in Glatzmann umbenennen.

Sagen Sie: Wie haben Sie eigentlich den Beschuss der russischen Militärs in der Ostukraine auf ihrem Fahrrad überlebt? fragt Fälscher nun Stürzer.

Ich habe mich so erschrocken, dass ich rechtzeitig vom Fahrrad stürzte und mich alle Geschosse verfehlten.

War es dann vielleicht doch ein Unfall? räsoniert nun Fälscher, und nimmt sich vor, die Unfallstatistiken in der Ostukraine zu seinen künftigen Fälschungsobjekten zu machen.

Frühling mit Annabel

Es war der Frühling, dem ich begegnete, ja, er muss es gewesen sein. Aus dem Boden sprossen die Veilchen und Schlüsselblumen. Beim Blick nach oben durch die zarten Knospen der Bäume sah ich die Sonne hoch und warm am Himmel.

Mitten in diesem Frühling dachte ich an das Bad mit Annabel, das ich jedoch im Sommer verortete. Mir fiel ein, dass wir beide nackt waren bei diesem Bad, und es erschien mir merkwürdig, dass mir das jetzt einfiel, dass wir nackt waren bei diesem Bad, denn bisher waren nackt und nichtnackt keine Kategorien für mich gewesen, was dieses Bad betraf. Während ich an dieses Bad mit Annabel dachte, fand ich mich plötzlich im Bach wieder. Ich badete im Bach. Durch die Frühlingsluft erschien, als ob sie wusste, dass ich gerade an sie gedacht hatte: Annabel. Sie stand am Ufer, und als ich sie sah, dachte ich wieder an unser Bad im Sommer, als sich alles öffnete und der weite Wind des reifen Sommers über das Getreidefeld strich. Wir hatten viel mehr entblößt als unsere Körper. Wir waren unterwegs zu unseren Seelen, zum Grund unseres Seins. Dabei begegneten wir einem Wirrnis an Gefühlen, und aus Angst, uns in diesem Wirrnis zu verstricken, flohen wir vor diesem reifen Sommertag, nicht ahnend, dass die Flucht die Verstrickung vergrößert.

Doch zurück zu meinem Bad im Bach. Ich badete also im Bach, im Frühling und nicht im Sommer. Annabel stand am Ufer und zog ihre Jacke fester an sich. Ja, ich bin mir sicher, sie zog ihre Jacke fester an sich und ich dachte: Es muss kalt sein, wenn Annabel ihre Jacke fester an sich zieht und ich beschloss, mein Bad im Bach zu beenden. In diesem Moment, als ich beschloss, mein Bad im Bach zu beenden, begann Annabel zu laufen, über die Wiese aus Veilchen und Schlüsselblumen. Sie tanzte und drehte sich, leicht wie der Wind. Sie begann sich auszuziehen, bis sie nackt war, tanzte und drehte sich weiter. Ich stieg aus dem Bach und lief zu Annabel. Als ich näherkam, bemerkte ich, dass sie weinte und schluchzte, und ich erwartete von mir, dass ich sage: Wein doch nicht, Annabel!, aber ich sagte nichts. Ich fand das Weinen und Schluchzen schön. Es hatte etwas Befreiendes und strich wie der weite Wind des reifen Sommers über die Wiese aus Veilchen und Schlüsselblumen. Ich betrachtete Annabel und strich mit meinen Händen über ihre Haut. Sie lächelte.

Ich erschrak, ohne einen Grund dafür zu haben, ich erschrak grundlos und sagte: Nein Annabel, das sind nicht die Knospen des Frühlings! Das sind die reifen Früchte des Sommers! Ich lief davon und Erdwälle taten sich vor mir auf, riesige Erdwälle. Ich grub mich geradewegs hinein in diese Erdwälle, tiefer und tiefer, und es wurde dunkler und dunkler. Ich grub weiter und weiter, bis ich ein kleines Licht in der Ferne sah. Ich kämpfte mich vorwärts zu diesem Licht, und als ich es erreicht hatte, war ich umringt von einer Wiese aus Veilchen und Schlüsselblumen. Durch die zarten Knospen der Bäume sah ich die Sonne hoch und warm über mir und dachte: Ein Sommer mit Annabel, das wäre schön!

ordn-ungs-text

dies
erte
xtis
tein
ordn
ungs
text
dess
enor
dnun
gdar
inbe
steh
tdas
sjed
ezei
leau
svie
rbuc
hsta
benb
este
htde
shal
bhat
diel
iebe
indi
esem
text
kein
enpl
atzw
eils
ieau
sfün
fbuc
hsta
benb
este
htma
nste
lles
ichv
oric
hhie
ßeni
chte
mils
onde
rnge
orgda
nnhä
ttea
uchi
chin
dies
emte
xtke
inen
plat
zund
hätt
eihn
nich
tsch
reib
enkö
nnen
denn
inei
nemt
extd
enic
hsch
reib
emus
sich
doch
plat
zhab
enso
nstm
acht
dies
erte
xtau
sord
nung
sges
icht
spun
kten
kein
ensi
nnes
wäre
eint
exto
hnes
innw
assi
nnlo
swär
edae
rdoc
hsch
onei
ntex
tohn
elie
beist

Immerwährende Geschichte

Da ist eine immerwährende Geschichte, sage ich, und frage mich im selben Moment, wo sie eigentlich ist, die immerwährende Geschichte. Auf meinen Lippen, mit denen ich sie spreche, oder in meinen Fingern, mit denen ich sie schreibe? Mich an meinen Traum erinnernd, komme ich zu der Vermutung, dass sie in meinen Fingern ist. Ich habe geträumt, eine Feder in der Hand zu halten. Ich griff mit der Feder tief in ein Fass voll mit schwarzer Tinte. Als ich die Tinte zu Papier bringen wollte, zerfloss sie, ehe ich etwas dagegen tun konnte, auf das ganze Papier. Ich nahm neues Papier, tauchte mit der Feder wieder in das Tintenfass, nicht mehr ganz so tief wie zuvor, und als ich die Tinte aufs Papier bringen wollte, um die immerwährende Geschichte aufzuschreiben, zerfloss sie wieder auf das ganze Papier, ehe ich etwas dagegen tun konnte. Ist also die immerwährende Geschichte mit schwarzer Tinte vollgesaugtes Papier? überlege ich jetzt, in wachem Zustand, in welchem ich wieder versuche, die immerwährende Geschichte aufzuschreiben. Ich habe keine Feder und keine Tinte bei mir, nur ein leeres, weißes Blatt Papier, das mich anschweigt. Dennoch habe ich den Eindruck, dass sich die immerwährende Geschichte in diesem weißen Blatt manifestiert, das mich anschweigt. Nicht überzeugt, die immerwährende Geschichte auf diesem weißen, leeren Blatt zu belassen, bekomme ich plötzlich große Lust zu laufen. Ich richte mich auf und fange zu laufen an, so schnell ich kann. Es fühlt sich wie ein Weglaufen an, das Laufen, was mir merkwürdig erscheint. Kann es so etwas geben wie zuviel Liebe, vor der man wegläuft? Während ich über diese Merkwürdigkeiten nachdenke, laufe ich weiter so schnell ich kann, bis ich oben auf dem Hügel angelangt bin. Jetzt hat das Weglaufen also ein Ende, denke ich, als ich oben auf dem Hügel stehe und die Sonne mich erreicht. Nicht nur die Sonne erreicht mich, nein, auch deine Stimme, was ich so nicht erwartet habe. Ich höre deine Stimme, als ich oben auf dem Hügel stehe und denke: So ein Unsinn – wie kann man vor zuviel Liebe davonlaufen wollen? Schnell will ich wieder zurücklaufen, dahin, wo die Liebe ist, als ich plötzlich und unvermutet den schwarzen Hund neben mir bemerke, der mich – ja, so empfinde ich es – mit liebevollen Augen ansieht. Oder erwidert er nur meinen Blick? Ich beschließe, nicht mehr zu laufen, sondern langsam und bedächtig zu gehen. Ich bemerke, wie ich mit jedem Schritt Grashalme unter mir niedertrete und vermute, dass es wohl Teil der immerwährenden Geschichte ist, dass Grashalme von Menschenfüßen niedergetreten werden. Durch mein langsames Gehen bemerke ich die Menschen, die mir begegnen und nehme mir fest vor, sie in die immerwährende Geschichte aufzunehmen. Plötzlich aber erfasst mich Sorge: Mir fällt nämlich ein, dass ich das Fenster offen gelassen habe, als ich die Wohnung laufend verlassen habe. Durch das offene Fenster wird die Katze in die Wohnung gesprungen sein, mit ihrer Tatze das Fass mit schwarzer Tinte umgestoßen haben, wodurch sich die Tinte mittlerweile in der ganzen Wohnung verteilt haben wird. Hektisch laufe ich nach Hause, der Hund folgt mir auf dem Fuß. Zuhause angekommen, lasse ich den Hund vor der Tür, weil ich Angst habe, ihn mit seinem schwarzen Fell in der schwarzen Tinte nicht mehr zu finden, die, so ist zu vermuten, in der Zwischenzeit die ganze Wohnung überflutet haben wird. Als ich die Wohnungstür vorsichtig öffne, stellt sich die Wohnung zu meiner Überraschung in keinem tintenüberfluteten, sondern sonnendurchfluteten Zustand dar. Auf dem Tisch das weiße Blatt Papier, wie ich es verlassen habe. Keine Katze, und vor allem: kein Tintenfass! – Nein, kein Tintenfass, das habe ich wohl nur geträumt. Ergriffen stehe ich im Zimmer und schaue durch das geöffnete Fenster nach draußen, als eine Amsel auf dessen Sims landet. Sie sieht mich kurz an und beginnt daraufhin zu singen. Ihr Gesang ergreift mich noch mehr als es die Situation ohnehin schon tut, sodass mir die Tränen kommen. Singen soll man sie also, die immerwährende Geschichte, denke ich unter Tränen, und während ich das denke, spannt die Amsel ihre Flügel und fliegt davon.

 

Dank an:

Paul, den schwarzen Hund (porträtiert von Sara Stankovic)

Belle and Sebastian, die mich mit ihrem Lied There is an everlasting song zu dieser Geschichte inspiriert haben

Der Raub der Sabinerinnen

Eine kleine Gasse zwischen zwei Häuschen: Dort war es, wo Sabine und ich uns innig küssten. Ich gehe gerne durch diese kleine Gasse, weil ich mich gerne an diesen innigen Kuss erinnere. Jedesmal, wenn ich durch die kleine Gasse gehe, fallen mir die tiefhängenden Regenrinnen an jedem der beiden Häuschen auf. In Erinnerung an den innigen Kuss mit Sabine nenne ich sie Sabinerinnen.

Heute ging ich wieder einmal durch die kleine Gasse, aber alles war anders als sonst. Die Sabinerinnen hingen nicht mehr an den Dächern der beiden Häuschen. Ich war wie vom Blitz getroffen. Es schoss mir sofort durch den Kopf: der Raub der Sabinerinnen! Was sonst! Was sollte ich anderes annehmen, als dass die Rinnen, die mich so zärtlich an den innigen Kuss mit Sabine erinnern, gewaltsam und unerlaubt entfernt worden waren. Kein Zweifel: Er war geschehen, der Raub der Sabinerinnen, den es nun aufzuklären galt! Ich klopfte an die Türen der beiden Häuschen, um die Aufklärung dieser Schandtat zu starten, aber niemand öffnete. Traurig stand ich in der kleinen Gasse zwischen den beiden Häuschen ohne Rinnen. Schließlich – was sollte ich anderes tun – ging ich weiter meines Weges.

Im Büro erzählte mir Vorderbrandner von der neuen Inszenierung der alten Sage vom Raub der Sabinerinnen im antiken Rom. „Mit den Geschwistern Regener als Sabinerinnen“, meinte er weiter: „Du weißt schon: Regina und Ramona Regener, die wir vor kurzem für unser Magazin interviewt haben!“
„Der Raub der Regenerinnen also!“ entfuhr es mir.
„Seit wann ergehst du dich in Wortspielen?“ entgegnete Vorderbrandner und schmunzelte.
Ich fand es gar nicht lustig: „Das wird mir alles unheimlich!“ rief ich, sprang von meinem Stuhl hoch und verließ das Büro wieder.

Während ich ziellos dahinging und darüber grübelte, wieso mich die beiden geraubten Regenrinnen, die ich Sabinerinnen nenne, so beschäftigen und ob es mir nicht möglich wäre, den innigen Kuss mit Sabine trotz der geraubten Rinnen in guter Erinnerung zu behalten, schweifte mein Blick durch ein geöffnetes Tor in einen Innenhof. Ich sah eine Frau, über zwei Regenrinnen gebeugt, die dort am Boden lagen. Sie hatte eine Bürste in der Hand und machte sich daran, die Rinnen zu reinigen. Mir blieb das Herz stehen. Waren das etwa die geraubten Rinnen? Vorsichtig näherte ich mich, mit pochendem Puls. Als ich nah genug war, erkannte ich sie eindeutig an ihrer Patina: Es waren die geraubten Sabinerinnen, an denen sich die Frau zu schaffen machte.

Ich ging aus meiner Deckung und stellte die Frau zur Rede: „Was machen Sie mit den beiden Regenrinnen?“
„Die lagen auf der Straße rum“, sagte sie, „in einer kleinen Gasse ganz in der Nähe. Da habe ich sie mitgenommen, weil ich sie gut gebrauchen kann für mein kleines Atelier hier im Hof.“
„Aber die sind geraubt!“ sagte ich, nicht wagend, die Frau direkt als Räuberin anzusprechen: „Die gehören zu den beiden Häuschen in der kleinen Gasse!“
„Wirklich? – Ja,… dann bringen wir sie besser wieder dorthin.“

Weil sie so schnell einlenkte, verzichtete ich auf weitere Anschuldigungen. Sie und ich nahmen je eine Rinne in die Hand und gingen zu den Häuschen in der kleinen Gasse, um sie zurückzubringen. Dort angekommen, klopften wir an die Türen. Jetzt war jemand zuhause. Wir sagten den Bewohnern, dass wir ihnen ihre Regenrinnen zurückbringen.
„Sehr nett“, sagten die Bewohner, „aber wir haben sie gestern erst abmontiert, weil wir heute neue montieren wollen. Die können sie gerne behalten!“

Konsterniert stand ich da und musste akzeptieren, dass die Sabinerinnen künftig nicht mehr die Dächer der kleinen Häuschen zieren und mich nicht mehr zart an den innigen Kuss mit Sabine erinnern werden. Ihr Raub entpuppt als eine schnöde Erneuerungsmaßnahme. So rasch ich diesen Fall aufklären konnte, so enttäuscht war ich nun von seinem Ausgang.

Die Frau und ich gingen mit den Sabinerinnen in den Händen wieder zurück zum Atelier im Innenhof. Als wir so dahingingen, jeder eine Rinne in der Hand, sagte ich zu ihr:
„Ich weiß wie Sie heißen.“
„Ja?“
„Sabine.“
„Stimmt! Aber woher wissen Sie das?“