Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Stutt ist kein Garten!

Bene, den ich wegen der sprachlichen Präzision in seiner Ausdrucksweise sehr bewundere, berichtet, dass ein Außerirdischer in seinem Garten gelandet sei. Der Außerirdische verfügte über erstaunliche Kenntnisse der deutschen Sprache, und er schien sich ihr über den Weg der Logik genähert zu haben, berichtet Bene weiter, denn der Außerirdische habe folgende Frage gestellt: „Was ist der Unterschied zwischen einem Dorf und einer Stadt?“ Ohne jedoch eine Antwort Benes auf diese Frage abzuwarten, listete er selbst wesentliche Merkmale eines Dorfes und einer Stadt auf, wie etwa die Anzahl der Bewohner, um anschließend eine weitere Frage zu stellen: „Wieso ist euer größtes Dorf Düsseldorf größer als eure größte Stadt Darmstadt?“ Bene, und hier bewundere ich ihn für seine Schlagfertigkeit, erwiderte, dass Frank keine Furt und Stutt kein Garten sei, sondern Städte, die im übrigen größer sind als Düsseldorf was die Anzahl ihrer Bewohner betrifft. Der Außerirdische schien nun an den Grenzen seiner sprachlichen Logik angekommen zu sein, so vermutet jedenfalls Bene, denn nach dieser Antwort Benes verschwand er aus seinem Garten, ohne dass es Bene vorher möglich gewesen wäre, sich einen angemessenen Eindruck über die Anatomie und das Verhalten des Außerirdischen zu machen.

Dennoch fand Bene es angebracht, diesen Vorfall dem wissenschaftlichen Beirat für Außerirdischenforschung zu melden, woraufhin dieser Beirat antwortete, dass er eine Vielzahl solcher Meldungen erhalte, die er in der Regel unbeantwortet lasse, da ihnen meist jeglicher überprüfbarer Realitätsbezug fehle, und er deshalb auch auf die Anfrage Benes nicht näher eingehen könne, da er sich sonst dem Vorwurf der Schiebung, also der ungerechtfertigten Bevorzugung, aussetze. Bene, ungewohnt fahrig in seinem Sprachverständnis, antwortete darauf, dass es sich in diesem Fall um keine Abschiebung handeln könne, da der Außerirdische seinen Garten freiwillig verlassen habe und er deshalb eine Bearbeitung seiner Meldung als angemessen, wenn nicht sogar als geboten empfinde. Nach dieser Ergänzung Benes zu seiner Meldung meldete sich der wissenschaftliche Beirat für Außerirdischenforschung nicht mehr bei ihm, womit anzunehmen ist, dass dieser Fall als beendet erklärt werden kann.

Liste deutscher Großstädte

Der Erleuchtung

Ich muss mich wohl etwas dämlich angestellt haben, am Fahrkartenautomat, denn hinter mir sagte jemand: „Sie sind wohl keine Leuchte!“

Ich wollte mich umdrehen und sagen: „Nein, ich bin ein Leuchte, denn ich bin männlichen Geschlechts!“ In diesem Moment wurde mir jedoch bewusst, dass das grammatische Geschlecht nichts mit dem natürlichen zu tun hat. Ich bin ja auch eine Person, obwohl ich männlich bin. Eine Frau ist nicht eine Mensch sondern ein Mensch.

Wieso ist es immer so wichtig, alles in männlich und weiblich einzuteilen? Ist das nicht manchmal vollkommen unwichtig? Oder sind wir Menschen so sexbesessen, dass wir alles strikt geschlechterspezifisch trennen müssen? Am meisten stört mich dabei die Verinnisierung der Sprache: die Personin, die Menschin.

Vielleicht befinden sich die Männer in einer Bringschuld. Jahrhundertelang haben sie versucht, ich vermute aus Furcht vor den Frauen, die Sprache zu vermaskulinisieren. Jetzt wäre es an der Zeit, den Frauen sprachlich einen Schritt entgegenzukommen. Ich habe dafür folgenden Vorschlag: Man vertauscht ab sofort das weibliche und männliche Geschlecht in der Sprache. Es ist ab sofort der Person und die Mensch. Vor nichts soll man Halt machen: der Frau und die Mann. Denn ich weiß ja jetzt: Das grammatische Geschlecht hat mit dem natürlichen nichts zu tun.

Ja, so machen wir das, dachte ich mir, während ich mein Fahrkarte zog. Ich drehte mich um und sah ein Schlange von Menschen.

„Entschuldigen Er, dass Er solange warten mussten, aber ich bin soeben erleuchtet worden“, sagte ich: „Ich bin jetzt ein Leuchte, sozusagen. Der Welt ist jetzt ein anderer für mich, rein sprachlich, auch wenn nachts noch immer die Mond scheint und nicht der Sonne.“

Was ich weiß… darf niemals siegen!

Sind es zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß? Die Blätter an den Bäumen, sind sie Wirklichkeit, jetzt, wo sie noch nicht da sind, und ich nur aus meinen bisherigen Frühlingserfahrungen annehmen kann, dass sie kommen werden? Sind es die Blätter oder sie, die kommen werden, oder ist es der Einfachheit halber leichter, anzunehmen, dass beide kommen werden?

Die Wirklichkeit ist im Kopf, und ist sie nicht im Kopf, so ist sie nirgendwo. Das ist mir zu kopflastig, und ich denke: Pure Vernunft darf niemals siegen, ich brauche dringend neue Lügen. Wenn nur die Blätter an den Bäumen bald kommen würden, und vor allem sie, dass sie kommt, die Wirklichkeit!

Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß

Pure Vernunft darf niemals siegen

Im Raum gesenkte Köpfe und hängende Arme

Ich hatte Angst davor, den Raum zu betreten. Doch ich betrat ihn, weil er mir so vertraut war. Ich betrat ihn, wie ein kleiner Junge sich in den Schoß seines Vaters schmiegt. Im Raum sah ich nichts, und als ich inmitten der Finsternis stand, sprach eine Stimme zu mir:

Da kam der Winter und zehrte an mir. Dunkel war es und der weiße Schnee begrub alles unter sich. Ein weißes Blatt, das alles vorherige ungeschrieben macht. Ein Neuanfang in tiefer Einsamkeit. Äußerlich wärmt der Ofen, innerlich friere ich weiter. Werde ich jetzt lernen zu leben? Man zeigte mir nur, wie man stirbt, wie man elendig verreckt, bei lebendigem Leib. Wie man äußerlich noch lebt und innerlich schon gestorben ist. Die Schläge eines Aufgegebenen auf meinem Körper, wie Peitschenhiebe aus der Hölle. Warum tut er das? Ich will sie nicht sehen, die Verzweiflung im Gesicht eines Gestorbenen. Ich will dem Tod nicht ins Auge sehen. Ich krümme mich zusammen und habe schon lange aufgegeben zu glauben, dass er kommt, der Frühling.

Diese Stimme war mir sehr vertraut gewesen, als sie gesprochen hatte. Ich wollte mich anschmiegen an sie. Doch sie sprach nicht mehr. Es war wieder Stille im Raum, stille Finsternis, als zu meiner Überraschung plötzlich ein Sonnenstrahl in eine Ecke des Raumes leuchtete und dort, in dieser Ecke des Raumes, zu meiner weiteren Überraschung, ich einen Körper erkannte mit gesenktem Kopf und hängenden Armen. Vor mir erkannte ich nun ein Fenster mit zugezogenem Vorhang, jawohl, ein Fenster mit zugezogenem schwarzem Vorhang, der einen Spalt frei ließ für den Sonnenstrahl. Ich ging zum Vorhang, um ihn gänzlich beiseite zu ziehen, um das Licht hereinzulassen, da hob sich plötzlich ein hängender Arm neben mir und packte mich fest an der Schulter. Erschrocken ob dieser Vitalität des eben noch hängenden Arms blieb ich stehen und sah wie ein anderer Arm, der eben ebenfalls noch hängend war, den Vorhang vor mir wieder fest zuzog und den Sonnenstrahl aus dem Raum verbannte.

Nun also wieder Stille im Raum, stille Finsternis, was mich wahnsinnig machte und mich veranlasste, laut zu schreien. Doch die Stille hielt an trotz meiner Schreie. Die Köpfe wieder gesenkt und die Arme hängend. Ich sah sie nicht in der Finsternis, aber ich spürte sie, wie sie sanken und hingen. Die Stille kommentarlos, beklemmend. Von irgendwo – von wo? – von draußen, ja, von draußen, ein Lachen, dass hier im Raum wie ein Weinen wirkte.

Allmählich fragte ich mich, was ich hier tat, in diesem Raum voll gesenkter Köpfe und hängender Arme. Mich beschlich eine grauenvolle Ahnung, dass ich vielleicht nichts tun kann, als hier zu sein, in diesem dunklen Raum, der mir, obwohl so finster, doch so vertraut war. Ich wusste, dass ich nichts weiter tun müsste, als den Vorhang beiseite ziehen, doch ich tat es nicht. Hatte ich Angst vor den hängenden Armen, die plötzlich wieder stramm zupacken würden? Jedenfalls unternahm ich nicht den Versuch, den Vorhang beiseite zu ziehen, sondern setzte mich auf den Boden, senkte meinen Kopf und ließ meine Arme hängen. Sollte ich nun warten, bis das Leben von mir weicht, oder hatte das Leben noch anderes mit mir vor? War dieser Raum mein Schicksal?

Als ich mitten in dieser stillen Finsternis saß und gelegentlich noch immer überlegte, aufzustehen und den Vorhang beiseite zu schieben, um den Sonnenstrahl in den Raum zu lassen, stürzten plötzlich alle Mauern um mich ein. Durch diesen Einsturz war die stille Finsternis so schnell gewichen, dass das viele Licht mich schockierte. Erschöpft streckte ich mich zu Boden.

Als ich wieder zu mir gekommen war, sagte eine Stimme, eine fremde Stimme, zu mir, dass ich aufstehen soll. Ich war erstaunt über die Klarheit dieser Stimme. Ich blickte mich nach den gesenkten Köpfen und hängenden Armen um. Denn sie waren mir vertraut in dieser nun so fremden, offenen Welt. Aber sie waren nicht mehr da. Nach Lage der Dinge ist davon auszugehen, dass die eingestürzten Mauern die gesenkten Köpfe und hängenden Arme unter sich begraben haben. Jedenfalls sah ich sie nicht mehr. Seltsam, dass ich überlebt habe, dachte ich mir, als die fremde Stimme mir nochmals sagte, aufzustehen, was ich schließlich, zu meinem Erstaunen, tatsächlich tat, denn ich dachte mir bis zu diesem Moment, dass ich nie mehr aufstehen würde.

Ich stand also auf und ging über die Reste der eingestürzten Mauern. Ich stolperte mehr als ich ging. Die Luft war erstaunlich frisch. Ich hatte großen Spaß daran zu atmen und wurde ebenso frisch wie die Luft. Was sollte ich jetzt anfangen mit dem Raum, wo er plötzlich so groß war? Mit dieser neuen, weiten Welt. Keine Mauern mehr. Reflexartig wollte ich den Kopf einziehen, um mich zu schützen, als mich die fremde Stimme, die mir mittlerweile sehr vertraut und nicht mehr fremd war, ermahnte, den Kopf zu heben. So ist das also nun, dachte ich: den Kopf heben! – Ich lachte und stolperte weiter über die Reste der eingestürzten Mauern.

 

Raum zwischen uns

So sieht dieser Raum also aus, denke ich mir, wenn ich ihn von dieser Seite betrete, wenn die Lichter auf mich gerichtet sind. Hinter dem starken Licht erahne ich den Zuschauerraum und die darüberliegenden Logen. Die Probe startet in Kürze, bitte alle hinter die Bühne, ruft jemand von der Regie. Raum zwischen uns heißt das Stück, für das geprobt wird. Es handelt von Menschen, die keinen Raum lassen zwischen sich und anderen Dingen: Paare kleben aneinander, bis sie sich angeekelt auseinanderreissen; Eltern halten ihre Kinder an der kurzen Leine, bis sie sich damit strangulieren; Besitztümer werden angehäuft, bis man an ihnen zu ersticken droht.

Die Bühne ist leer und dunkel, Ruhe im Saal. Plötzlich ein lautes Stöhnen von oben, von einer der Logen. Der Psycho! sagt jemand hinter mir.
„Was machen Sie hier? Wer hat Sie zur Probe hereingelassen?“ höre ich draußen im Zuschauerraum die Regie nach oben rufen.
„Ich hatte einen schlechten Tag. Bitte, bitte – lassen Sie mich bleiben! Hier ist mein einziger Ort der Ruhe, während ich draußen nur bedrängt werde! Bitte, lassen Sie mich bleiben!“ tönt es von der Loge herab.
„Also gut. Aber seien Sie ruhig während der Probe!“

Hinter der Bühne werde ich aufgeklärt über den Vorfall: Der sogenannte Psycho ist ein Dauerkarteninhaber, der eine Loge gemietet hat, im Haus bekannt als Psycho-Loge. Er habe schon viele Premieren empfindlich gestört, zu den Proben sei er aber bisher noch nie gekommen.
„Kommt bestimmt aus der Wirtschaft“, sage ich: „Geschäftsführer, Manager – alles Psychopathen!“ Kein Raum zwischen mir und meinen Vorurteilen, denke ich noch, als es wieder ruhig wird.

Die Bühne also nach wie vor leer und dunkel, wieder Ruhe im Saal. Wir fangen an. Die Probe läuft gut, ohne Unterbrechungen. Schließlich kommt die Szene zwischen ihr und ihm: Sie, die bezeichnenderweise Liane heißt, küsst ihn, umarmt ihn, bis er sich schließlich von ihr losreisst und verzweifelt sagt: „Ich liebe dich, aber du gibst mir keine Luft zum Atmen. Ich ersticke mit dir. Ich brauche Raum zwischen uns!“

Nach diesem Satz ertönt plötzlich ein lauter Schrei von der Psycho-Loge:
„Ja, das ist es!“ ruft der Psycho. „Ich brauche einen Raum zwischen meinem Büro und dem meiner Sekretärin! Diese Frau bringt mich noch um mit ihrer Kontrollsucht! Kein Wunder, dass ich meine Ehefrau vernachlässige! Und vor allem mich, dass ich mich vernachlässige! Ich brauche einen neuen Porsche, nur für mich!“

Wir stoppen unser Spiel, alle blicken zur Loge hoch. Der Psycho blickt kurz zu uns herab, steht dann auf und rennt aus der Loge. Wir proben weiter, sagt daraufhin die Regie, und Liane schlingt sich wieder um ihren Liebhaber.

Volksdeutsches Bier

Vor kurzem habe ich bei einem spontanen Konzert unter Freunden den Klassiker Griechischer Wein von Udo Jürgens zum besten gegeben. In den Tagen danach dachte ich mir, dass dieser Klassiker einer Auffrischung bedarf, einer Aktualisierung. Denn das Fremden-Thema, das im Orginal-Text besungen wird, ist aktueller denn je. Und außerdem soll es nicht immer nur um die Fremden gehen, sondern auch um die Deutschen und wie die sich damit fühlen.

Ich habe deshalb einen neuen Text geschrieben. In dieser neuen Version gerät ein offensichtlich integrationswilliger aber auch leichtsinniger Asylant in eine Kneipe, in der Rechtsradikale herumhängen:

Volksdeutsches Bier

Es war schon dunkel
als ich mit Asylanten heimwärts ging.
Da war ein Wirtshaus aus dem das Licht
noch auf den Gehsteig schien.
Ich hatte Zeit und mir war kalt,
drum trat ich ein.

Da saßen Männer mit roten Augen
und mit Glatzen da,
und aus der Jukebox erklang Musik
die furchterregend war.
Als man mich sah,
stand einer auf,
schlug auf mich ein.

CHORUS
Volksdeutsches Bier
ist so wie das Blut der Erde,
Burschi bleib hier!
Und wenn ich dann aggro werde,
liegt es daran,
dass ich immer träum dich zu verhaun,
komm, lass dich haun!

Volksdeutsches Bier
und die altvertrauten Lieder,
Burschi bleib hier!
Denn ich fühl die Sehnsucht in mir,
dich zu verhaun,
und darauf mein Ego aufzubaun,
lass dich haun!


Und dann erzählten sie mir
von blauen Augen, blondem Haar.
Und von dem Führer der ein Kind
von deutschen Eltern war.
Und von dem Krieg, der Deutschland
als Verlierer sah.

Sie sagten sich immer wieder
irgendwann sind wir zurück!
Und solche wie dich brauchen wir
bestimmt nicht auf dem Weg ins Glück.
Sie standen auf
und schlugen alle auf mich ein.

CHORUS

Die AfD hat sich bereits bei mir gemeldet und will das Lied mit dem neuen Text zur offiziellen Parteihymne machen. Stop, so war das nicht gemeint! Ich habe vergessen, dass es eine Welt gibt, die komplett ohne Ironie auskommt. Und dass Satire keine Chance mehr hat gegen die Realsatire von Trump & Co.

Original von Udo Jürgens

Große Schriftsteller

Manchmal sitzen Vorderbrandner und ich in unserem Schreibbüro und spüren beide, dass wir mit unseren Gedanken gerade feststecken. Nichts will zu Papier beziehungsweise zu Computer fließen. Vorderbrandner sagt dann meist: Lass uns auf einen Müßiggang gehen, denn nur aus einem Müßiggang entsteht Neues, nicht aus angestrengter Geschäftigkeit! Ich weiß, dass dieser Gedanke nicht von Vorderbrandner ist, sondern von Peter Handke, einem eifrigen Proklamierer des Müßiggangs. Vorderbrandner ist ein lebendes Zitatelexikon. Er scheint den Geist seiner Umwelt aufzusaugen und ihn dann in seinen eigenen zu integrieren. Denn alles was er sagt, klingt wie von ihm, obwohl es meist nicht von ihm ist.

Auch heute sagte Vorderbrandner wieder: „Lass uns einen Müßiggang machen!“ und ich folgte seiner Aufforderung bereitwillig, mehr noch: Ich hatte sie sehnlichst erwartet!

Wir schlenderten durch die Straßen in den Park. Spätestens im Park fängt Vorderbrandner meist zu träumen an, und normalerweise teilt er mir seine träumerischen Gedanken mit. Heute aber blieb er stumm.
Ich fragte ihn: „Was träumst du gerade?“
„Heute ist es schwierig. Ich weiß nicht, ob ich Thomas Bernhard oder Peter Handke sein will.“
„Hauptsache Österreicher, würde der Deutsche in diesem Fall sagen“, meinte ich.
„Glaubst du, das ist wichtig, diese Unterscheidung, Österreicher oder Deutscher?“
„Weiß ich nicht. Du sagst doch immer, du bist aus Österreich geflüchtet, weil du nur in Deutschland leben kannst.“
„Sage ich das? Wahrscheinlich nur, um diese Entscheidung, Österreicher oder Deutscher zu sein, in meinem Kopf obsolet zu machen. Was bist du denn, Hinterstoisser, Österreicher oder Deutscher?“
„Ich? Das ist mir wurscht. Meine Herkunftsfamilie lebt seit Jahrhunderten in Deutschland und Österreich, so als ob sie sich nicht entscheiden wollte oder die politischen Entscheider sich über ihren Köpfen nicht entscheiden konnten. In erster Linie bin ich Mensch, der mit der deutschen Sprache groß geworden ist. Nein – was heißt ich bin Mensch! Ich versuche jeden Tag, Mensch zu sein und mich mit der deutschen Sprache auszudrücken und mitzuteilen.“
„Nationale Werte sind ein Schmäh. Alle tiefen, zarten und feinen Werte der Menschheit sind überall“, murmelte Vorderbrandner nach meinen Ausführungen.
„Wer sagt das: Bernhard oder Handke?“
„Handke. Handke sagt das. Ich werde mich heute für Handke entscheiden als Begleiter auf meinem Müßiggang.“
„Dass du immer Begleiter brauchst auf deinen Müßiggängen!“
„Brauchst du die nicht? Erzähl mir doch nicht, du hättest keine schreibenden Vorbilder!“
„Doch, die habe ich. In Phasen. Sie kommen und gehen. Ganz früh hatte ich meine Hesse-Phase. Dann kam die Frisch-Phase. Alles habe ich von Max Frisch gelesen, obwohl Stiller und Homo Faber genügt hätten. Plötzlich las ich nur noch Kundera, und ich hatte den großen Wunsch, Tschechisch zu beherrschen, um noch mehr eintauchen zu können in seine Welt. Dann entdeckte ich Gombrowicz, und ich wollte Polnisch lernen, um so zu denken und zu fühlen wie Gombrowicz. Mittlerweile habe ich Tschechow ins Herz geschlossen. Ich finde es sehr sympathisch, dass er nie einen Roman geschrieben hat, sondern nur Erzählungen, denn heutzutage schreibt jeder einen Roman, selbst wenn er nichts zu erzählen hat. Tschechow erzählt so viel vom Menschsein, dass es mich manchmal fast umhaut. Und seine Theaterstücke: Die Möwe, Onkel Wanja, Drei Schwestern, Der Kirschgarten. Vor weit über hundert Jahren geschrieben und noch immer meistaufgeführt auf europäischen Bühnen. Und das, obwohl Theaterstücke in der Regel viel kurzlebiger sind als erzählende Prosa. Ich liebe diese Stücke!“
„Du träumst also von Tschechow?“
„Träumen tue ich von Frauen. Mit Ror Wolf, mit dem träume ich manchmal, wenn ich etwas von ihm lese. Bei ihm galoppiert das Leben dahin, ohne Anfang und Ende. Bei ihm ist ein blauer Himmel mehr als blau: Bei ihm ist er ein blaues Wunder. Er schleicht sich an das Leben heran, und kurz bevor er es packt, ist es ihm entwischt, um ihm dann zu sagen: Du bist doch mitten im Leben!“

Plötzlich sieht Vorderbrandner auf die Uhr und ruft: „Agathe! Um Himmels Willen! Agathe kommt heute um drei im Büro vorbei! Das habe ich völlig vergessen!“

Während sich Vorderbrandner laufend aus dem Park entfernt, zitiere ich Ror Wolf: Gut, also von vorn, an diesem Punkt einsetzen, wo ich abgebrochen habe, der Himmel, wie war das, jawohl, der Himmel sehr blau, am Horizont plötzlich ein rasch laufender Mann…

Thomas Bernhard
Peter Handke
Milan Kundera
Witold Gombrowicz
Anton Tschechow
Ror Wolf

Geburtstag des Kindes

Etwas war anders als sonst, und um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, wo ich bin. Das Holz des Dielenbodens knarzte, das Holz im Ofen knisterte. Um herauszufinden, wo ich bin, beschloss ich, zunächst einmal nach draußen zu gehen. Aber draußen nur Stille, nichts weiter. Es war Winter, das darf als ziemlich sicher gelten: Es lag Schnee auf dem Boden. Die Zweige der Obstbäume waren kahl. Ein Vogel, den ich aus dem Schlaf geweckt hatte, flatterte aus dem kahlen Geäst. Obwohl es dunkel war, sah ich recht deutlich, denn der Schnee auf dem Boden erhellte alles.

Von der Ferne sehe ich die Lichter der Stadt, die sich plötzlich in ein flammendes Inferno verwandeln. Wie gelähmt sehe ich das Spektakel am Horizont. Bomben schlagen ein, ja, es müssen Bomben sein, denn ich kann sie hören. Weiß ich, wie sich Bomben anhören? Das Grauen ist in der Ferne und gleichzeitig ergreifend nah. Die räumliche und zeitliche Ferne sind in diesem Moment nicht zu unterscheiden. Es ist so: Die Augen eines kleinen Kindes sehen die Bomben einschlagen. Das kleine Kind ist nicht mehr da, doch die Bomben sind es immer noch.

Diese Überlegungen bringen mich zur Frage zurück, wo ich überhaupt bin? Während ich mich auf diese Frage konzentriere, bemerke ich wieder die Ruhe um mich. Ich drehe mich um zum Haus, aus dem ich gekommen bin, und sehe die erleuchteten Fenster. Ich beschließe, wieder ins Haus zu gehen, und gerade als ich hineingehen will und dabei an Theresa denke, höre ich Josefine rufen, mit der ich in diesem Moment nicht gerechnet habe. Ich drehe mich also wieder um, sehe die kahlen Obstbäume und die Lichter der Stadt und Josefine, die sich dem Haus nähert.

Josefine hat ein Kind bei sich. Was ist das für ein Kind? frage ich. Das ist unser Kind! sagt Josefine, was eine Antwort ist, die mich einigermaßen in Erstaunen versetzt. Ich sehe Josefine an und erinnere mich, dass wir uns gesucht haben, und der Raum, in dem wir uns gesucht haben, war voller Irrungen und Wirrungen, sodass ich diesen Raum, in dem wir uns gesucht haben, als Labyrinth bezeichnen möchte. Völlig erschöpft haben wir uns schließlich gefunden, aber trotz oder wegen der Erschöpfung – das kann ich nicht mehr genau sagen, es war mehr ein Gefühl, das uns antrieb – sind wir übereinander hergefallen. Es gab keine andere Wahl in diesem Labyrinth, als übereinander herzufallen. Wir haben unseren Schweiß und unseren Atem gespürt. Ich erinnere mich gern daran. Während ich mich also daran erinnere, wie wir im Labyrinth übereinander hergefallen sind, umarmt mich Josefine mit dem Kind.

Weshalb bist du gekommen? frage ich Josefine. Was ist los?Wir feiern Geburtstag, sagt Josefine. Geburtstag? Diese Antwort erstaunt mich so, dass ich erneut ganz vergesse, darüber nachzudenken, wo ich überhaupt bin.

Wir gehen nach drinnen ins Haus. Es riecht nach Kerzenwachs. Eine angenehme Wärme durchströmt meinen Körper. Ich habe Hunger, und schon steigt der Duft von frisch Gekochtem in meine Nase. Wir essen also. Ich weiß nicht, wer aller am Tisch ist, denn ich habe solchen Hunger, dass ich mich auf den Geruch und den Geschmack des Essens konzentriere. Es ist anzunehmen, dass Josefine und das Kind am Tisch sind, aber es sind noch weitere Personen am Tisch, die ich jedoch im Moment nicht wahrnehme, was mir selber ein Rätsel ist. Ich nehme jetzt Josefine und das Kind wahr, ganz deutlich. In diesem Moment sagt Josefine, dass das Kind müde sei. Doch statt zu schlafen, schreit es wie am Spieß. Ich beginne, dem Kind Schlaflieder vorzusingen, zum Beispiel Schlafe in himmlischer Ruh.

Als das Kind sich endlich beruhigt hat und nah am Einschlafen ist, klopft es plötzlich an der Tür. Ich weiß nicht mehr, wer die Tür geöffnet hat, vielleicht war es Theresa, ziemlich sicher war es Theresa. Oder war es jemand anderer, der am Tisch gesessen war, um die Tür zu öffnen. Ich weiß es nicht mehr, sodass ich annehme, dass es Theresa war, die die Tür öffnete. Jedenfalls hieß es, die Heiligen Vier Könige seien an der Tür. Ich fragte Josefine, ob das sonst nicht immer drei wären. Sie antwortete nicht auf meine Frage. Stattdessen kamen die Heiligen Vier Könige herein und wollten dem Kind ein Geburtstagsständchen spielen. Ich merkte an, dass das Kind gerade am Einschlafen sei. Ob sie nicht ein Schlaflied singen könnten statt dem Geburtstagsständchen und das Geburtstagsständchen auf morgen verschieben? Die Heiligen Vier Könige willigten ein und spielten ein Schlaflied.

Neun Städte mit Burgen

Mein Geographielehrer hieß Grub. Er war fasziniert von Städten mit Burgen. Anfangs dachte ich, er ist so fasziniert von diesen Städten, weil Grub, sein Name, rückwärts gelesen Burg heißt. Doch irgendwann begriff ich, dass das nicht der einzige Grund sein konnte, denn er war so dermaßen fasziniert von diesen Städten, dass er stets von uns verlangte, neun von ihnen aufzählen zu können. Wie er dabei auf die Zahl neun kam, ist mir ebenso ein Rätsel wie seine überbordende Faszination für diese Städte.

Wir erzählten unserem Deutschlehrer, der Ylliw Rotsa hieß, von der Anforderung im Geographieunterricht, neun Städte mit Burgen aufzählen zu können. Ylliw Rotsa war ein großer Geschichtenerzähler, also erzählte er uns eine Geschichte von neun Städten mit Burgen:

Ein Wirt ging vor seine Kneipe, wo sich einige seiner Gäste aufhielten, um zu rauchen, und rief: "Ascht mir doch nicht den ganzen Gehsteig voll, ihr Affen! Was hier schon wieder Kippen herumliegen!"
"Ach Wirt, hab dich nicht so!" sagte daraufhin einer der Gäste, "da duis ich einmal mit dem Besen drüber, und schon ist der Gehsteig wieder frei. Den Rest erledigt das Wasser des Regens. Lass dir dafür Folgendes sagen: Würz nicht soviel mit Salz wenn du kochst! Außerdem bist du garstig, Wirt. Da könnt ich glatt glauben, dass ich in des Wolfs Augs schau! Musst halt auf einer einsamen Burg hausen, wenn dich die Leute so aufregen."
"Wir ham keine Burg in unserer Stadt. Also werd ich wohl weiter in meiner Kneipe bleiben, so wie eine Magde bei ihrem Herrn." sagte daraufhin der Wirt.

Das war die Geschichte meines Deutschlehrers Ylliw Rotsa über neun Städte mit Burgen. So nannte er seine Erzählung, und wiederum war es mir schleierhaft, wie er dabei auf die Zahl neun kam, wo ich doch eindeutig, nach mehrmaligem konzentrierten Durchlesen, immer zwölf Städte in seiner Erzählung identifizieren konnte. Er erzählte die Geschichte jedenfalls so lustig, dass sie sich in meinem Gedächtnis eingebrannt hat.

In den Geographiestunden mit Herrn Grub war sie mir sehr hilfreich. Herr Grub referierte stundenlang über Städte mit Burgen. Wenn er dann am Schluss der Stunden verlangte, dass jemand in der Klasse neun Städte mit Burgen aufzählt, meldete ich mich oft freiwillig, rief mir die Geschichte von Ylliw Rotsa ins Gedächtnis und sagte: 1. Asch-affenburg, 2. Duisburg, 3. Freiburg, 4. Wasserburg, 5. Regensburg, 6. Würzburg, 7. Salzburg, 8. Wolfsburg, 9. Augsburg.

„Sehr gut Hinterstoisser, bitte setzen!“ sagte Herr Grub dann zufrieden. Manchmal ergänzte ich: „Burghausen wüsste ich auch noch, als zehnte Stadt“, was Herr Grub mit einem Nicken erwiderte, das ich nie recht deuten konnte. Deshalb ließ ich Hamburg und Magdeburg fast immer unerwähnt.

Wagemuts Hochzeit

Es ist eine Ungerechtigkeit, dass die Schwermut in der deutschen Sprache weiblich und der Wagemut männlich ist. Nur so konnten meine Eltern auf die Idee kommen, mir den Namen Schwermut und meinem Bruder den Namen Wagemut zu geben. Wie kamen sie überhaupt auf diese Namen? Wahrscheinlich weil sie selbst Hildemut und Hartmut heißen.

Wir wohnten in einem Haus neben einem großen, tiefen Wald. Ich fürchtete mich oft in schwermütigen Gedanken vor seiner Größe und seinen Tiefen. Mein Bruder Wagemut hingegen hat sich schon als kleiner Junge in diesen großen, tiefen Wald getraut. So ist es nur logisch, dass er Waltraud kennenlernte, die er nun beabsichtigt zu heiraten. Meine Schwermut hielt mich anfangs davon ab, zur Hochzeit zu gehen, was man mir als Hochmut auslegte. Mehr Demut vor der Liebe deines Bruders, Schwermut! sagten meine Eltern zu mir. Wieso habt ihr mich nicht Demut genannt, wenn ihr sie jetzt so vehement einklagt. Dann wäre nicht alles so schwer! erwiderte ich trotzig, was ihren Hochmutsverdacht lediglich bestärkte.

Ich fühlte mich in die Enge gedrängt und dachte an den großen tiefen Wald, vor dem ich mich bisher so gefürchtet hatte, als meine einzige Ausflucht. Ich lief also in den großen tiefen Wald und bewegte mich unter den hohen Bäumen und glaubte, in meiner Schwermut zu vergehen. Plötzlich hörte ich meinen Bruder Wagemut rufen, der offensichtlich seine eigene Hochzeit verlassen hatte: Schwermut, mein Schwesterherz, wie kommt es, dass du dich alleine in den Wald traust? Waltraud, die Braut, die die Hochzeit scheinbar ebenfalls verlassen hatte, kam von der anderen Seite auf mich zu und hielt eine Kettensäge in der Hand. Ich entriss ihr die Kettensäge und begann, in einem Anfall von Wagemut, Bäume zu fällen, die auf mich fallen sollten, um mich unter ihrer Schwere zu begraben. Doch die Bäume blieben stehen. Stattdessen löste sich der Boden unter mir. Ich sah Waltraud und Wagemut neben mir ins Bodenlose fallen und befürchtete das Schlimmste. Da flog ein Klavier mit Pianist heran, gefolgt von einem ganzen Orchester, und spielte das Klavierkonzert Nr. 23 von Mozart. Anfangs dachte ich, die ganzen Musiker mitsamt ihren Instrumenten würden wohl gleich krachend zu Boden fallen, doch es gab ja keinen Boden mehr, weil ich ihn, statt die Bäume zu fällen, abgesägt hatte. Die Musiker mit ihren Instrumenten flogen also weiter mit mir.

Zu meiner großen Überraschung sah ich meine kleine Schwester Anmut heranschweben, die ich nicht erwartete, weil sie als kleines Mädchen beim Spielen im Wald gestorben war, als ihr der dicke Ast eines großen Baumes auf den Kopf gefallen war. Ich wollte sie fragen, ob auf der Hochzeitsgesellschaft von Waltraud und Wagemut Missmut herrscht, weil wir nicht da sind, doch sie sagte nichts dazu. So tanzte ich mit Anmut weiter zu den Klängen von Mozart, voller Übermut.