Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Tyrann Otto

Nie mehr Herrschaft eines Tyrannen! Wir huldigen den Errungenschaften der Demokratie, die wir uns durch das Grundgesetz gegeben haben. (Manche bösen Geister behaupten, das Grundgesetz wurde uns von den Alliierten aufgezwungen.) Wieso betont man so oft, wie wertvoll eine Demokratie ist? Gibt es etwa viele, die das nicht so sehen?

Ich war am Wochenmarkt vor der Kirche, am Gemüsestand. Eine Frau, ich schätze ihr Alter auf vierzig bis fünfundvierzig Jahre, war vor mir an der Reihe. Sie kaufte soviel Gemüse, dass ich aus dem Staunen nicht herauskam. Sie kaufte Gemüse, das ich vorher noch nie wahrgenommen hatte, und deshalb fällt es mir jetzt schwer, es zu beschreiben. Plötzlich rief sie „Otto in meine Richtung. Da mir klar war, dass sie damit nicht mich meinen konnte, drehte ich mich um. Ich sah einen etwas dicklichen, kleinen Jungen, der vor nicht allzu langer Zeit wohl noch gekrabbelt ist anstatt auf zwei Beinen zu stehen. Otto hatte es zur Wurstbude verschlagen. Auf den zweiten Ruf seiner Mutter kam er angelaufen und machte sich am Gemüsestand zu schaffen. Er wackelte dermaßen an den Regalen, dass der Gemüsekäufer sich sorgte, sie würden zusammenbrechen. Otto schaffte das Künststück, Gemüse zu finden und aus den Regalen zu nehmen, das seine Mutter noch nicht in ihren randvollen Körben hatte.

Der Gemüseverkäufer wollte die Situation beruhigen und reichte Klein-Otto eine Karotte. Die Mutter bestätigte, dass Otto bereits Karotten esse (Subtext: Otto ist ein gutes Kind, das viel gesundes Gemüse ist, also auch Karotten!), jedoch bemerkte ich eine Unsicherheit in ihrer Stimme. So als traue sie ihrer eigenen Aussage nicht über den Weg. Otto bedachte daraufhin die Karotte mit einem verächtlichen Blick.

In diese Spannung, die in der Luft lag, kam plötzlich Otto-Vater angerauscht und orderte weiteres Gemüse. Er erweiterte den Korb um Grünes wie Petersilie und Schnittlauch, gab dem Ganzen also durch die Kräutergarnitur seinen patriarchalischen Segen. Der Gemüseverkäufer erfasste die Situation mit bestechendem Scharfsinn, denn er fragte nun die einzige sich daraus schließende logische Frage: „Bezahlt der Vater oder die Mutter?“ Es geht nicht um Mann und Frau, nein, es geht um Vater und Mutter, denn die Welt ist völlig auf Otto ausgerichtet; auf Otto, den Tyrann von Elterns Gnaden.

Während die Mutter, ohne auf die Frage des Verkäufers zu antworten, das Gemüse bezahlt, jagt Otto-Vater Otto hinterher, der sich wieder zur Wurstbude aufgemacht hat. Der Verkäufer nennt die Summe, die Otto-Mutter zu bezahlen hat. Die Höhe der Summe bringt mich wieder ins Staunen, sodass mir fast meine Tomaten, die ich schon lange in der Hand halte, auf den Boden fallen. Wieso soviel Gemüse, wo Otto doch keine Karotten mag? Was treibt Eltern an, einen Tyrannen zu züchten? Und wieso diese tyrannische Zucht unter einem Berg von Gemüse verstecken, anstatt sie an der Wurstbude aufrichtig zur Schau zu stellen? Mich schaudert vor dem Gedanken, dass nur Verlogenheit die Demokratie erhält, weil es viele sich bloß nicht trauen, zur Tyrannei zu stehen. Wird Otto seine Herrschaft auf seine Eltern beschränken, oder wird er eines Tages die Welt beherrschen wollen? Hat der Mensch mehr Hunger nach Macht als nach Gemüse, weil er es nicht anders kennt?

Hadern

Ich sagte zu Oskar, der auch bekannt ist als Hagestolz noch nicht zu alten Datums, dass ich nach Hadern fahre. „Willst du mitkommen? Du machst doch nichts lieber, als durch die Straßen Münchens zu streunen.“

„Hadern ist nicht München“, sagte Oskar. „Hadern ist ein verstocktes altes Bauerndorf. Hadern ist von den Nazis zu München eingemeindet worden; weil die Nazis größenwahnsinnig waren und glaubten, ein paar verstockte Bauern würden sie in diesem Größenwahnsinn unterstützen.“

„Ich glaube nicht, dass ein paar verstockte Bauern, die anscheinend die Nazis unterstützt haben, dich davon abhalten, nach Hadern zu fahren.“

„Ich wollte vor einiger Zeit in Hadern ein Haus kaufen, einen Landsitz sozusagen. Das Haus war etwas heruntergekommen, doch es hatte etwas Edles an sich.“

„Warum hast du es nicht gekauft?“

„Weil es an einer Straßenkreuzung liegt. Ich habe festgestellt, dass ich an Straßenkreuzungen nicht leben kann. Es reicht, wenn ein Haus an einer Seite an eine Asphaltwüste grenzt. Wenn noch auf einer zweiten Seite eine Asphaltwüste vorbeiführt, wie es an einer Kreuzung der Fall ist, habe ich den Eindruck, dass diese beiden Wüsten das Haus in die Zange nehmen.
Ich wollte den Kaufvertrag unterschreiben, doch in der Nacht davor träumte ich, dass die beiden Wüsten das Haus mitsamt seinem Garten verschlucken. Da habe ich endgültig verstanden, dass ich in einem Haus an einer Kreuzung nicht wohnen kann, weil ich in beständiger Angst leben würde, von der Asphaltwüste bei lebendigem Leib verschluckt zu werden. Ich habe den Kaufvertrag also nicht unterschrieben.
Außerdem wurde mir bewusst, dass ich in einem Haufen verstockter Bauern wohnen würde, die nur glauben, dass sie keine Bauern mehr sind, weil ein großes Klinikum auf ihren ehemaligen Weidegründen gebaut wurde. Das große Klinikum – auch das hätte ich gesehen von meinem Haus beim Blick über die Asphaltwüste hinweg. Ich wollte mir all das ersparen. Seitdem fahre ich nicht mehr nach Hadern.“

„Dein Hadern über Hadern ist anstrengend“, sagte ich zu Oskar, „und auch wenn du es nicht hören willst: Ich fahre ins Klinikum Großhadern.“

„Deine Wortspiele kann ich nicht mehr hören. Ich fahre sicher nicht mit. Denn dann heißt deine nächste Geschichte: Ein Hagestolz in Hadern.“

„Nein, so werde ich sie nicht nennen. Ich werde sie Ein Hagestolz in Hadern hadert mit dem Hauskauf nennen.“

Ich fahre, wie unschwer zu erraten ist, ohne Oskar nach Hadern. Ich fahre durch eine Straße, die den Namen Pfingstrose trägt und in der ich Oskars Haus zu sehen glaube, direkt auf das Klinikum zu, das laut Oskar die Haderer Bauern aus ihrem Siechtum zu wahrer Größe aufsteigen ließ: auf das Klinikum Großhadern der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Das Hauptgebäude der riesigen Klinik steht wie ein gestrandeter Ozeandampfer in der Landschaft. Über zweihundert Meter lang und dem Himmel viel näher als die höchsten Bäume Haderns. Um mir Zeit zu geben, mich an diesen Koloss zu gewöhnen, nehme ich das Treppenhaus statt dem Aufzug. Fast nach ganz oben schicken sie die Neugeborenen mit ihren Eltern. Wie ist das, in einem gestrandetem Ozeandampfer auf bäuerlichem Weidegrund zur Welt zu kommen?

Ich betrete das Zimmer. Das Fenster, das von unten wie ein Bullauge aussah, entpuppt sich als ein Panoramafenster eines UFOs, das sich gerade im Anflug auf das Alpenvorland befindet. Weite Wälder liegen tief unter mir, dahinter die Berge. Irgendwo zwischen diesen Wäldern liegt das Gut Hinterstoiß, wo meine Eltern mich zur Welt gebracht haben. Selbst wenn ich mit ihnen oft haderte, für die Tat meiner Zeugung und Geburt bin ich ihnen sehr dankbar. Eine Definition von hadern lautet: mit sich und der Welt zerfallen sein. Das kann ich nicht behaupten. Ich bin der Welt verfallen.

Da sind diese zwei kleinen Menschen im Raum, deretwegen ich doch eigentlich gekommen bin, die gerade ihrer gesicherten Raumkapsel mit dem schönen Namen Mutterleib mit großem Mut entstiegen sind. Eine große Anstrengung ist es, auf diese Welt zu kommen. Ein paar Tage erholen von dieser Anstrengung, dann werden sie ankommen in der Welt da unten. In Hadern zur Welt kommen, um ihr zu verfallen. Das ist ein Gedanke, mit dem ich meine Ausführungen für heute beenden möchte, obwohl es noch viel zu berichten gäbe.

Hadern

Klinikum Großhadern

Was für eine Geschichte!

„Was erzählst du mir heute für eine Geschichte?“ fragte mich Vorderbrandner.

„Ich erzähle heute keine Geschichte.“

„Aber heute ist Donnerstag. Da erzählst du doch immer eine Geschichte.“

„Erzähl du mir eine Geschichte! Ich habe heute nichts zu erzählen.“

„Ich? – Ich habe auch nichts zu erzählen.“

„Nichts?“

„Nichts. – Nein, warte – eine Sache habe ich zu erzählen: Mein Nachbar hat gestern aus Versehen seine Frau erschossen. Seine Frau hatte ihn vor einer Woche dazu gedrängt, sich ein Gewehr zu kaufen, falls Flüchtlinge kommen und man sich wehren müsse…“

„…und er konnte nicht mit dem Gewehr umgehen, aus Versehen hat sich ein Schuss gelöst, mit dem er seine Frau getötet hat.“

„Nein. Seine Frau ist spät nachhause gekommen gestern. Da sie etwas betrunken war, hat sie unbeholfen mit dem Schlüssel an der Tür hantiert, sodass er glaubte, ein Flüchtling will ins Haus eindringen. Da hat er das Gewehr genommen und sie erschossen.“

„Was für eine Geschichte! Woher weißt du das alles?“

„Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ich habe diese Geschichte erfunden, oder eine Bekannte meines Nachbarn hat sie mir erzählt. Diese Bekannte hat mir gesagt, dass es zwar tragisch sei, dass mein Nachbar seine Frau erschossen habe, dass sie aber andererseits seine Frau nicht leiden konnte und dass sie hoffe, dass er nun nicht lebenslänglich ins Gefängnis komme, weil er so ein netter Mensch sei.“

„Hat vielleicht die Bekannte deines Nachbarn seine Frau erschossen?“

„Wieso?“

„Weil sie gestern Abend bei deinem Nachbarn gewesen ist, ihn endlich dazu gebracht hat, sie in seine Arme zu nehmen, nach so vielen Jahren, in denen sie sich das gewünscht hatte, und dann kam die Frau nachhause, die dieses Glück störte und beseitigt werden musste.“

„Erzähle ich hier eine Geschichte oder du? Ich sagte doch, dass die Bekannte meines Nachbarn mir erzählt hat, dass mein Nachbar seine Frau erschossen hat, weil er glaubte, sie sei ein Flüchtling, der ins Haus eindringen will.“

„Das ist die ganze Geschichte?“

„Das ist die ganze Geschichte. Punkt. Und wenn du sie weiter erzählen willst, dann erzähle sie weiter. Aber sag mir nicht mehr, du hättest nichts zu erzählen!“

Das Au-Tor

und die Torheit des Autors

Ich lief durch die Gegend und überlegte, was ich aufschreiben soll. Soll ich aufschreiben, was ich erlebe, oder soll ich erleben, was ich aufschreiben will?

Völlig in diese Gedanken versunken stieß ich gegen ein Tor.
Au! rief das Tor, du hast mir weh getan!
Als ich wieder zu mir kam, sah ich die Beule im Tor und sagte zu ihm: Au, das hat weh getan. Du hast sicher Schmerzen. Und da ich nicht wusste, ob das Tor weiß, was Schmerzen sind, sagte ich weiter: Du bist jetzt ein Au-Tor.

Und du bist ein Tor, dass du einfach so gegen mich rennst, erwiderte das Au-Tor. Deine Torheit stinkt zum Himmel!
Nein. Ich bin ein Autor, entgegnete ich, auf der Suche nach etwas zum Schreiben. Und selbst wenn ich ein Tor bin – schon Erasmus von Rotterdam schrieb: ein Lob der Torheit!

Das Au-Tor schien mich nicht zu verstehen, jammerte und klagte stattdessen.
Kann ich dir helfen, Au-Tor, deine Schmerzen zu lindern?
Ja, sagte das Au-Tor. Du kannst ein Werkzeug holen, um meine Beule auszuklopfen.

Auf der Suche nach einem Werkzeug, um die Beule des Au-Tors auszuklopfen, fand ich ein Mark-Stück. Da fiel mir wieder ein, was ich aufschreiben wollte: Ich wollte etwas über das Gesichtsbuch-Unternehmen des Mark Zuckerberg schreiben. Bevor ich jedoch dazu Weiteres schreibe, will ich mich diesem Thema zunächst nur bildlich nähern, da ich jetzt die Beule des Au-Tors ausklopfen werde:

Abb 1: Mark

Abb 1: Mark

Abb 2: Zuckerberg

Abb 2: Zuckerberg

 

Gelzer und Gürzer und das verlorene Geld

Was bisher geschah: Gelzer und Gürzer Teil 1

Gelzer fährt mit seinem Auto von Weichering nach Wasserburg zu Gürzer. Die letzten Meter der Hofeinfahrt rollt er ohne Motor, denn das Benzin ist ihm ausgegangen.

„Ich habe deinen Besuch nicht erwartet. Was ist passiert? Bringst du mir mein Geld in bar, anstatt es mir zu überweisen?“ begrüßt Gürzer Gelzer.

„Ich habe das ganze Geld verloren.“

„Wie bitte? Du hast dreißig Millionen Euro verloren?“

„Ja.“

„Wie konntest du dreißig Millionen Euro verlieren? Ich kann mir darunter nichts vorstellen. Geld war für mich bisher immer einfach da. Wie die Nahrung für ein Tier, das durch die Gegend streunt und sie immer in Überfülle findet. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, woher das Geld kommt und wohin es geht.“

„Ich habe in hochspekulative Wettgeschäfte an der Börse investiert.“

„Du solltest mein Geld doch bloß verwalten und es nicht für hochspekulative Wettgeschäfte verwenden.“

„Verwalten. Was heißt verwalten! Geld muss sich vermehren, damit es sich lohnt!“

„Wieso müssen dreißig Millionen Euro sich vermehren? Wir haben vereinbart, dass du mir dreitausend Euro pro Monat bis an mein Lebensende bezahlst. Erst nach hunderten von Jahren wäre dir das Geld ausgegangen. Es wäre also genug für dich übrig geblieben. Wieso wolltest du es vermehren?“

„Geld verliert seinen Wert. Also muss es mehr werden, sonst steht man plötzlich ohne Geld da.“

„Ohne Geld stehst du auch jetzt da. Und ich mit dir. Doch ohne Geld geht es nicht, Gelzer. Wir müssen von irgendwoher Geld beschaffen. – Vielleicht gibt es ja jemanden, der uns Geld gibt, so wie ich dir dreißig Millionen Euro gegeben habe.“

„Es wird uns nicht irgendjemand Geld geben.“

„Ich habe es dir doch auch gegeben.“

„Ja, du hast es mir gegeben. Weil du mich kennst. Und weil du ein merkwürdiger und komischer Mensch bist.“

„Wirf mir nicht vor, dass ich dir das Geld gegeben habe. Du hast es schließlich gern genommen! – Ich kann nicht glauben, dass ich der einzige Mensch bin, der Geld besaß und keine Probleme damit hatte, es mit anderen zu teilen.“

„Vergiss das Gürzer! Es wird uns niemand einfach so Geld geben. Geld muss man sich verdienen, redlich verdienen.“

Redlich verdienen – was ist das denn für ein Ausdruck? Irgendjemand wird jetzt deine dreißig Millionen Euro haben, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er oder sie sie redlich verdient hat.“

Gelzer macht ein betroffenes Gesicht, und Gürzer spricht weiter:

„Ich habe soeben beschlossen, dass ich niemanden suchen werde, der uns Geld gibt, denn du hast es verloren. Ich habe dir mein Geld gegeben, weil ich leben wollte wie ein Tier, ohne auf das Geld zu verzichten. Wenn ich es mir jetzt überlege, habe ich auch schon gelebt wie ein Tier, bevor ich dir das Geld gegeben habe. Zumindest was das Geld betrifft. Ich bin herumgestreunt und habe mir das Geld gepflückt wie ich es brauchte. Jetzt bin ich wie ein Tier, dass keine Nahrung mehr findet. Die überreiche Quelle ist plötzlich weg.“

„Ich könnte für dich arbeiten, da ich dir kein Geld mehr geben kann“, unternahm Gelzer einen zaghaften Lösungsversuch.

„Wie der Gast im Restaurant, der nicht bezahlen kann und dafür die Teller wäscht? Ich habe aber kein Restaurant, Gelzer. Überhaupt habe ich nie einen rechten Zusammenhang zwischen Geld und Arbeit gesehen. Sind die Banker und Kaufleute der Renaissance durch harte Arbeit zu ihrem Geld gekommen? Sind die Industriepioniere durch harte Arbeit zu ihrem Geld gekommen? Haben die eigentliche Arbeit nicht andere gemacht? Vielleicht ist es zwischendurch mal besser geworden, das Verhältnis zwischen Arbeit und Geld meine ich, aber jetzt scheint es sich wieder dahin zu entwickeln, wo wir einmal waren.

Was ist überhaupt Arbeit? Ich meine Arbeit, für die man Geld kriegt. Neulich hat man mir von einem Unternehmen erzählt, dass seine Mitarbeiter für Dampfplauderei entlohnt. Um sich das leisten zu können, müssen die, die bisher die sonstige Arbeit neben der Dampfplauderei erledigten, das Unternehmen verlassen. Die sonstige Arbeit wird jetzt in Ungarn verrichtet, weil man Ungarn weniger Geld zahlen muss als Deutschen. Ich könnte dich als Dampfplauderer anstellen, Gelzer, aber ich kann mir das nicht leisten. Wer macht die sonstige Arbeit, die uns leben lässt?“

Gelzer macht wieder ein betroffenes Gesicht, sodass Gürzer weiterspricht:

„Meine Väter und Großväter hatten nicht nur dieses Haus, in dem wir jetzt sind, sondern sie hatten viel Grund und Boden rundherum. Äcker und Wiesen und Wälder. Ich habe all diesen Grund und Boden verkauft. Es erschien mir praktischer, das Geld dafür zu haben. Mit Geld kann man alles kaufen was man will. Grund und Boden aber muss man bewirtschaften, bevor man etwas dafür erhält. Jetzt, ohne Geld, wäre es gut, wenn ich diesen Grund und Boden noch hätte, Gelzer. Ich könnte dich für mich arbeiten lassen. Du könntest Getreide, Obst und Gemüse anbauen, du könntest ein paar Tiere halten. Aber ich habe diesen Grund und Boden nicht mehr. Der Garten des Hauses ist zu klein für so eine Wirtschaft. Da kommen wir nicht weit.“

Gelzer hat sich neben Gürzer gesetzt und ihm wird immer betrüblicher darüber, dass er das ganze Geld verloren hat. Was soll man machen in dieser Welt, ohne Geld? Selbst wenn Gürzer noch Grund und Boden hätte – wie soll er damit Benzin erzeugen für die Rückfahrt nach Weichering?

Der Pianwar

ein Gedicht nach Eugen Roth:

Ein Mensch war immer Pianist,
doch weil er jetzt gestorben ist,
trägt man dem Rechnung: Lapidar
nennt man ihn nun den Pianwar.

 

 

Symmetrisches Gedicht mit tragischer Achse

Ein Mensch der sehr viel Pipi macht
und dabei immer herzhaft lacht,
ist leider tot seit gestern Nacht.
Der Mensch der immer herzhaft lacht,
seit gestern nicht mehr Pipi macht.

Angewandte Gewalt- und Sexualkunde

Ich stehe am Fenster und betrachte die sternenklare Sommernacht, aus der Josefine und ich soeben nachhause geradelt sind. Gegenüber sehe ich erleuchtete Fenster von zwei verschiedenen Wohnungen. An einem Fenster sehe ich einen Mann, der mit einem länglichen Gegenstand hantiert. Der längliche Gegenstand sieht aus wie ein Gewehr. Das andere erleuchtete Fenster ist offen. Ich sehe eine Frau und einen Mann, beide nackt, die verschränkt auf einer Couch sitzen. Sie lieben sich in rhythmischen Bewegungen. Ein schönes Bild, wie eine Skulptur von Rodin, nur schöner, weil echt. Die beiden sehen mich am Fenster stehen und machen umgehend das Licht aus. Bald danach schließen sie ihr Fenster. Sollen sie sich nun als Exhibitionisten fühlen oder ich mich als Voyeur? Oder sowohl als auch oder weder noch? Ich denke an Jochen Distelmeyer, der sagt: Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg. Dieser Satz hat für mich seine Berechtigung, denn ein geschlossener Raum ist so etwas wie eine moderne Höhle. In eine Höhle zieht man sich zurück, um zu ruhen. Man ist sozusagen eine Weile tot für die Umwelt, um dann ausgeruht wieder ins Leben zu treten. Meine vögelnden Nachbarn im Licht, bei offenem Fenster: ein Bild voller Leben. Doch als ich an diesem Leben teilgenommen habe, haben sie sich schnell tot gemacht. Der andere Nachbar hat mittlerweile sein Fenster geöffnet und hantiert noch immer mit dem länglichen Gegenstand.

Als Kind war ich oft in einer christlichen Osternachtfeier. Jedesmal kam die Geschichte von den Israeliten, für die Gott das Meer teilt, und von den Ägyptern, die den Israeliten in das geteilte Meer nachreiten. Als die Israeliten am anderen Ufer sind, beschließt Gott, das Meer wieder zu schließen. Die Ägypter ertrinken qualvoll. Ich litt jedesmal fürchterlich mit den Ägyptern, während der Priester nach dieser Geschichte ein Loblied auf Gott anstimmte, weil er die Israeliten gerettet hat, und die Mehrheit der Kirchenbesucher sang fleißig mit. Wie schafften die das, kein Mitleid mit den ertrunkenen Ägyptern zu haben? Jedes Jahr hoffte ich, dass die Ägypter es diesmal durch das Meer schaffen würden. (Und danach vielleicht gemeinsam mit den Israeliten zur Einsicht kommen, dass es gar nicht notwendig ist, sich gegenseitig niederzumetzeln.) Doch jedesmal kamen sie wieder erbärmlich in den Fluten um, woraufhin jedesmal ein Lob auf Gott angestimmt wurde, was ich jedes Jahr aufs Neue entsetzlich fand. Ich verstand und verstehe bis heute nicht, wie man diesen grausamen und parteiischen Gott loben kann.

Später zerrten mich meine Kumpels in allerlei Gewaltfilme ins Kino. Das Geschieße und Gemetzel war jedesmal eine Qual für mich. Beim Film Stirb langsam (Die Hard) fand ich es so qualvoll, dass ich vor Übelkeit den Saal vorzeitig verließ und mich auf der Toilette übergab. Statt mich der Gewalt weiter zuzuwenden, habe ich schon früh eine Leidenschaft für nackte Körper entwickelt, bevorzugt für weibliche nackte Körper oder für nackte Frauen und Männer, die aus Leidenschaft übereinander herfallen. So wie meine Nachbarn. Doch es war viel schwieriger, vor allem als ich noch nicht achtzehn Jahre alt war, in Filme zu kommen, in denen nackte Körper gezeigt werden als in Filme, in denen rohe Gewalt gezeigt wird. So ging ich, aus Vereinfachungsgründen, weiterhin mit meinen Kumpels in Gewaltfilme. Während meine Kumpels sich oft langweilten, weil ihnen die Gewalt zu harmlos und zu wenig spektakulär war, litt ich mit jeder Leiche Qualen, deren Blut durch die Luft spritzte.

Während des Studiums wohnte ich mit einem zusammen, der hatte ein Computerspiel programmiert, bei dem man Zivilisationen entwickelt. Ich hatte Holzhütten mit Strohdächern, Gemüse- und Obstgärten. Ab und zu wurde Vieh geschlachtet. Gevögelt wurde nicht in diesem Spiel. Ich fragte meinen Wohnungskollegen, wie sich eine Zivilisation entwickeln soll, wenn nicht gevögelt wird? Er sagte, ich solle nicht solche dummen Fragen stellen. Gevögelt würde immer, darüber redet man nicht. Noch während ich über seine Antwort nachdachte, wurde ich von Feinden überfallen, die bereits moderne Schussfeuerwaffen entwickelt hatten. Meine Zivilisation war im Nu vernichtet.

Ich höre Josefine im Bad. Ich gehe vom Fenster weg und setze mich ins Bett. Ich mache den Fernseher an und sehe folgende Szene aus einer amerikanischen Serie: Eine Frau wird gefoltert und ermordet. Anschließend wird ihr eine Brust abgeschnitten und ihrem Freund geschickt. Als der Freund das Paket auspackt und mit Entsetzen dessen Inhalt sieht, kann der Zuschauer beruhigt sein, denn die Szene wird so gezeigt, dass man die Brustwarze nicht sieht. Mir wird aber leider wieder mal übel als ich das sehe, und als ich über der Kloschüssel hänge, denke ich: Einer Frau die Brust abzuschneiden ist in Ordnung, ihre Brustwarzen zu sehen aber auf keinen Fall. Ich verstehe das nicht, habe aber gleichzeitig das Gefühl, einer kleinen Minderheit von Verständnislosen anzugehören.

Als ich mich einigermaßen erholt habe, gehe ich zurück und setze mich wieder ins Bett. Josefine kommt ins Zimmer und zieht den Vorhang zu. Mach den Vorhang wieder auf und das Licht an! sage ich. Ich will, dass wir uns in einem hell erleuchteten, gut durchlüfteten Raum lieben und nicht in einem Sarg. Oder sind wir dann Exhibitionisten oder der Nachbar der uns vielleicht beobachtet ein Voyeur oder sowohl als auch oder weder noch? Der Nachbar sieht sich am Computer freiwillig einen Porno an und wenn er uns ansieht erregen wir öffentliches Ärgernis. Ich verstehe das nicht. Apropos Porno: In Zeiten des Internets ist es nun einfacher, nackte Körper zu sehen und ich muss, weil ich mittlerweile auch über achtzehn bin, nicht mehr aus Vereinfachungsgründen Gewaltfilme ansehen. Aber die meisten Pornos sind schlecht: Die Männer wirken oft so verkrampft, dass sie vorher wahrscheinlich fünf Viagra genommen haben für ihren Dauerständer und bei den Frauen quillt oft nicht nur hinten, sondern auch vorne die Gleitcreme raus. Doch selbst wenn Pornodarsteller Spaß miteinander haben, ist es ein schräger Beruf, sich beim Sex filmen zu lassen, während Josefine und ich, wenn wir beim Sex das Fenster offen und das Licht an lassen, riskieren, öffentliches Ärgernis zu erregen.

Josefine steht am Fenster und sieht zum Nachbar hinüber. Du, sag mal, fragt sie mich, hat sich der ein Gewehr gekauft? Ja, sage ich, und vielleicht schießt er gleich herüber und dir deine Brüste vom Leib. Doch das ist nicht weiter schlimm, solange deine Nippel durch den Treffer unkenntlich werden. Wenn er sie nicht richtig trifft, müssen wir die Szene wohl zensieren.

Du siehst zuviel fern, sagt Josefine, und kommt zu mir ins Bett.

Akazien in Kroazien

Ich sitze an meinem Schreibtisch vor einem Blatt Papier, um eine Geschichte zu Papier zu bringen. Plötzlich stürmt Vorderbrandner zur Tür herein.

„Deine Geschichte von letzter Woche. Sie lässt mich nicht in Ruhe!“

„Die Geschichte von Isaria Esel, meiner ersten großen Liebe?“ Ich komme ins Träumen.

„Neinnein, deine Eselin mit ihrem komischen Namen ist mir egal. Es ist der Perserkönig Serse unter der Platane, der mich nicht in Ruhe lässt. Wie schön er doch den Schatten des Baumes besingt!“

„Der Perserkönig Serse? Das ist ein Spinner! Der besingt den Schatten einer Platane wie eine Frau, in die er sich unsterblich verliebt hat.“

„Das ist es, ja. Wie eine Frau, in die er sich unsterblich verliebt hat. Ich habe letzten Sommer, in den milden frühen Abendstunden eines heißen Tages, mit Agathe im zarten Licht unter dem Schatten einer Akazie gesessen. Ich hatte das schon vergessen, doch als ich deine Geschichte gelesen habe, habe ich bemerkt, dass ich mich an diesem Abend unsterblich in Agathe verliebt habe. Ich denke ständig daran, wie ich mit ihr unter der Akazie gesessen habe. Ich singe ständig die Arie des Serse: Nie ist der Schatten einer Pflanze lieblicher, angenehmer und süßer, als wenn ich mit dir, Agathe, daruntersitze.“

Betretenes Schweigen meinerseits. Die Leidenschaft Vorderbrandners für Akazien-Agathe schlägt die meine für Esel-Isaria um Längen. Ich schaue auf das Blatt vor mir mit der angefangenen Geschichte.

„Schreib schnell eine neue Geschichte, damit ich Agathe vergessen kann!“ sagt Vorderbrandner. „Ich kann doch Agathe jetzt nicht anrufen und sagen: Vor ein paar Monaten, unter der Akazie, da habe ich mich unsterblich in dich verliebt. Ich hatte es vergessen, doch jetzt ist es mir wieder eingefallen.“

„Ich weiß nicht, ob dir meine neue Geschichte beim Vergessen hilft. Denn sie hat den Titel Akazien in Kroazien. Wobei ich mit dem Titel große Schwierigkeiten habe, denn Kroatien schreibt man nicht mit z. Also wollte ich die Geschichte Akatien in Kroatien nennen, aber das gefällt mir nicht, denn dann habe ich zwei Wörter im Titel, die man nicht so spricht wie man sie schreibt. Es bliebe die Variante, die Geschichte Akazien in Kroatien zu nennen, doch dann habe ich zwei Wörter im Titel, die man gleich ausspricht, aber unterschiedlich schreibt.“

„Akazien in Kroazien!“ ruft Vorderbrandner und stürmt zur Tür hinaus. „Agathe, lass uns reisen, zu den Akazien in Kroazien!“ höre ich ihn im Gang noch singen.

Ich sitze vor dem Blatt Papier und habe keine Ahnung, wie ich meine Geschichte mit den Akazien fortsetze. Ich habe das Gefühl, Vorderbrandner und ich haben heute aneinander vorbeigeredet.

 

Isaria Esel

Meine erste Freundin hieß Isaria Esel. Ja, so hieß sie. Wenn ich mich recht erinnere, waren wir beide acht Jahre alt, als wir uns das erste Mal küssten. Ich fand es lustig, dass Isaria mit Nachnamen Esel heißt, noch dazu, wo in ihrem Vornamen zweimal die Vokale i und a enthalten sind und das in dieser Reihenfolge. Passend für einen Esel ein: ia ia.

Ihr Vorname endet außerdem mit aria, was mich immer an große Musik denken lässt, zum Beispiel an die Arie Ombra mai fu aus der Oper Serse von Georg Friedrich Händel. Mit dieser Arie preist der Perserkönig Serse den Schatten einer Platane. Ich bin mit Isaria zwar nicht unter Platanen gesessen, aber oft unter den Buchen auf unserem Schulweg.

Als ich eines Tages bemerkte, dass Esel sich rückwärts Lese liest, hat mich das der Literatur nähergebracht. Es war sozusagen eine Aufforderung zum Lesen. Ich habe so große Werke wie Don Quijote von Miguel de Cervantes entdeckt. Sancho Pansa auf dem Esel ist seitdem ein ständiger Begleiter in meinem Leben. Selbst in der Bibel reitet Jesus auf einem Esel.

Doch nicht genug, dass Isaria mich mit ihrem Namen zur Musik und Literatur geführt hat: Ihr Vorname beginnt mit Isar, und deshalb spaziere ich so gern an diesem Fluss. An seinen Ufern fallen mir die tollsten Geschichten ein: Zum Beispiel die, dass Isaria Esel ein toller Name ist.

In Salzburg stehen zu viele Kirchen

In Salzburg stehen zu viele Kirchen

Etwas trieb mich hierher, obwohl ich Grübeldinger seit Jahren nicht gesehen habe. Grübeldingers Bruder hat mich angerufen, und ich habe daraufhin den nächsten Zug nach Salzburg genommen.

Grübeldinger hat immer gesagt, in Salzburg stehen zu viele Kirchen. Oben auf dem Mönchsberg, den er fast täglich beschritten hat, hat er sie gezählt, immer wieder, die Salzburger Kirchen. Er hat gesagt: Ich kann einen Gott, der in diesen Kirchen wohnt, nicht lieben. Aber ich bin gezwungen, diesen Gott zu lieben, der in diesen Kirchen wohnt. Etwas in mir zwingt mich, diesen Gott zu lieben. Eines Tages werde ich es nicht mehr aushalten, diesen Gott zu lieben, dann werde ich mich von hier, vom Mönchsberg, auf die Kirchen stürzen. Ich sagte ihm, er solle öfter zur Richterhöhe gehen, auf die andere Seite des Mönchsbergs, um von dort nach Süden zu blicken, raus aus der Stadt. Das geht nicht, sagte Grübeldinger, denn wenn er nach Süden blickt, dann sieht er die Schlösser, die sich die prunksüchtigen Erzbischöfe gebaut haben. Einmal sei er auf die Richterhöhe gegangen, und als er von dort Schloss Hellbrunn erblickte, hat er einen Wutanfall bekommen und laut zu schreien begonnen. Hellbrunn, sagte er, sei der Gipfel der Heuchelei, wodurch sich die Erzbischöfe schließlich verraten hätten. Denn in den Kirchen von Gott zu predigen, dem sich jeder zu unterwerfen habe, und in Hellbrunn den weltlichen Freuden zu frönen, das hätte ihnen das Volk nicht mehr abgenommen, sagte Grübeldinger, und das Volk hätte zu zweifeln begonnen, ob es an diesen Gott glauben soll, denn das Volk hat erkannt, dass dieser Gott nur vorgeschoben war, um es ruhig zu halten. Doch das Volk heute, sagte Grübeldinger, ist auch nicht viel gescheiter, nur dass die Mächtigen heute nicht mehr Erzbischöfe heißen, und dass sie den Gott, von dem sie sprechen, nicht mehr Gott nennen.

In jedem Fall, sagte Grübeldinger, bin ich seit diesem Wutanfall nicht mehr auf die Richterhöhe gegangen und beabsichtige auch nicht, es noch einmal zu tun. Stattdessen versuche ich seitdem, so nahe wie möglich an der stadtzugewandten Seite des Mönchsbergs zu spazieren. Ich versuche, bei diesen Spaziergängen immer wenigstens einen der vielen Kirchtürme zu sehen, denn so sehr ich die Kirchen auch hasse, in denen der Gott wohnt, den ich so hasse, weil ich dabei an die Erzbischöfe denken muss, so beruhigen mich andererseits diese Kirchen auch, denn hier bin ich geboren, und ich kenne nichts anderes als diese Kirchen, sagte Grübeldinger. So sehr sie ihn auch einengen, so sehr benötige er sie. Neulich habe er sich oben am Mönchsberg durch Bäume und Gebüsch geschlichen und habe eine Stelle entdeckt, wo er in die Tiefe blicken konnte zum St.-Peters-Friedhof. Er sei ganz ruhig gewesen, dort oben, beim Blick in diese Tiefe, habe aber trotzdem überlegt, ob dies der Moment sei, um in die Tiefe zu springen. Aber etwas zwang mich, es nicht zu tun, sagte er.

Ich blicke hinauf zur steilen Felswand und überlege, wo Grübeldinger wohl gestanden hat. Auch ich bin, wie Grübeldinger, in Salzburg geboren, doch ich bin schon lange weggezogen. Waren es die vielen Kirchen, die mich veranlassten wegzuziehen? Ich sagte Grübeldinger, er solle doch wegziehen, zumindest für eine Weile, um etwas Abstand von den Kirchen zu bekommen. Oder mich in München besuchen. Grübeldinger sagte, in München seien die Kirchen noch viel schlimmer, weil sie sich mehr verteilten als hier in Salzburg und die ganze Gegend weitläufig infiltrierten. Hier in Salzburg hingegen stünden sie konzentriert, eingezwängt zwischen Mönchsberg und Salzach. Hier in Salzburg könne er die Wesensart der Kirchen besser studieren, durch ihre Eingezwängtheit. Hier könne er den Gott, den die Erzbischöfe geschaffen haben, besser studieren, da der Gott hier gefangen sei in seiner eigenen Prunksucht. Ich sagte Grübeldinger, er solle doch einmal über die Salzach gehen und am anderen Ufer auf den Kapuzinerberg gehen, um mit etwas Abstand auf die Stadt und ihre Kirchen zu blicken. Grübeldinger erwiderte, das komme für ihn nicht in Frage, denn er wolle in Zukunft immer so nahe wie möglich an der stadtzugewandten Seite des Mönchsbergs spazieren, denn nur so könne er die Kirchen durchdringen, könne diesen Gott begreifen, der von den Erzbischöfen geschaffen wurde. Ich habe Angst vor diesen steilen stadtzugewandten Schluchten, sagte Grübeldinger. Er sei sicher, dass nur hier, in diesen dunklen Schluchten, die Erzbischöfe diesen Gott erschaffen konnten, während sie selbst, die Erzbischöfe, aus diesen dunklen Schluchten nach Hellbrunn geflüchtet seien, weil dieses dunkle Leben in diesen Schluchten nicht zu ertragen sei, sagte Grübeldinger. Deshalb spaziere er jeden Tag auf den Mönchsberg, um vor diesen dunklen Schluchten zu fliehen, aber dennoch gehe er immer ganz nah an diesen dunklen Schluchten entlang. Etwas zwinge ihn, dies zu tun. Zur Richterhöhe könne er nicht gehen, denn dort sieht er Hellbrunn, und das sei noch viel schlimmer als die Kirchen zu sehen. Der Anblick von Hellbrunn beunruhigt mich, während der Anblick der Kirchen mich beruhigt, sagte Grübeldinger.

Ich hatte Grübeldinger lange nicht gesehen, jahrelang, weil ich genug hatte von seinem Kirchenwahnsinn. Für Grübeldinger gab es nichts anderes als die Salzburger Kirchen, und als ich ihm noch einmal vorschlug, er solle die Salzach überqueren, auf den Kapuzinerberg gehen und von dort, mit etwas Abstand, Salzburg und seine Kirchen betrachten, sagte er, das würde er nicht aushalten, die Stadt und ihre Kirchen in der Totalen zu sehen, genauso wenig, wie er es aushält, von der Richterhöhe Hellbrunn zu sehen. Die Stadt vom Kapuzinerberg zu sehen würde ihn sicher sehr beunruhigen, da sei er sich sicher, während es ihn beruhigt, die Stadt und die Kirchen von oberhalb der stadtzugewandten Schluchten des Mönchsbergs zu sehen, denn hier sei er den Göttern nahe, mit denen die Erzbischöfe die Stadt infiltriert hätten. Diese Götter seien sein Leben und sein Tod zugleich.

Grübeldingers Bruder sagt, dass Grübeldinger in letzter Zeit nicht mehr so oft auf den Mönchsberg gegangen sei, und dass es daher völlig absurd sei, dass er sich jetzt vom Mönchsberg in den St.-Peters-Friedhof gestürzt hat, jetzt, wo er nicht mehr so oft auf den Mönchsberg gegangen sei wie in all den Jahren zuvor.

Ich weiß nicht, wieso ich gekommen bin. Ich habe Grübeldinger seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich habe ein Taxi genommen und bin vom Bahnhof sofort zum St.-Peters-Friedhof gefahren, wo Grübeldingers Bruder auf mich gewartet hat. Ich stehe inmitten der Gräber, blicke hinauf zur steilen Felswand und stelle mir vor, wie Grübeldinger sich in den St.-Peters-Friedhof gestürzt hat, umgeben von den Kirchen seiner Götter.