Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

In Salzburg stehen zu viele Kirchen

In Salzburg stehen zu viele Kirchen

Etwas trieb mich hierher, obwohl ich Grübeldinger seit Jahren nicht gesehen habe. Grübeldingers Bruder hat mich angerufen, und ich habe daraufhin den nächsten Zug nach Salzburg genommen.

Grübeldinger hat immer gesagt, in Salzburg stehen zu viele Kirchen. Oben auf dem Mönchsberg, den er fast täglich beschritten hat, hat er sie gezählt, immer wieder, die Salzburger Kirchen. Er hat gesagt: Ich kann einen Gott, der in diesen Kirchen wohnt, nicht lieben. Aber ich bin gezwungen, diesen Gott zu lieben, der in diesen Kirchen wohnt. Etwas in mir zwingt mich, diesen Gott zu lieben. Eines Tages werde ich es nicht mehr aushalten, diesen Gott zu lieben, dann werde ich mich von hier, vom Mönchsberg, auf die Kirchen stürzen. Ich sagte ihm, er solle öfter zur Richterhöhe gehen, auf die andere Seite des Mönchsbergs, um von dort nach Süden zu blicken, raus aus der Stadt. Das geht nicht, sagte Grübeldinger, denn wenn er nach Süden blickt, dann sieht er die Schlösser, die sich die prunksüchtigen Erzbischöfe gebaut haben. Einmal sei er auf die Richterhöhe gegangen, und als er von dort Schloss Hellbrunn erblickte, hat er einen Wutanfall bekommen und laut zu schreien begonnen. Hellbrunn, sagte er, sei der Gipfel der Heuchelei, wodurch sich die Erzbischöfe schließlich verraten hätten. Denn in den Kirchen von Gott zu predigen, dem sich jeder zu unterwerfen habe, und in Hellbrunn den weltlichen Freuden zu frönen, das hätte ihnen das Volk nicht mehr abgenommen, sagte Grübeldinger, und das Volk hätte zu zweifeln begonnen, ob es an diesen Gott glauben soll, denn das Volk hat erkannt, dass dieser Gott nur vorgeschoben war, um es ruhig zu halten. Doch das Volk heute, sagte Grübeldinger, ist auch nicht viel gescheiter, nur dass die Mächtigen heute nicht mehr Erzbischöfe heißen, und dass sie den Gott, von dem sie sprechen, nicht mehr Gott nennen.

In jedem Fall, sagte Grübeldinger, bin ich seit diesem Wutanfall nicht mehr auf die Richterhöhe gegangen und beabsichtige auch nicht, es noch einmal zu tun. Stattdessen versuche ich seitdem, so nahe wie möglich an der stadtzugewandten Seite des Mönchsbergs zu spazieren. Ich versuche, bei diesen Spaziergängen immer wenigstens einen der vielen Kirchtürme zu sehen, denn so sehr ich die Kirchen auch hasse, in denen der Gott wohnt, den ich so hasse, weil ich dabei an die Erzbischöfe denken muss, so beruhigen mich andererseits diese Kirchen auch, denn hier bin ich geboren, und ich kenne nichts anderes als diese Kirchen, sagte Grübeldinger. So sehr sie ihn auch einengen, so sehr benötige er sie. Neulich habe er sich oben am Mönchsberg durch Bäume und Gebüsch geschlichen und habe eine Stelle entdeckt, wo er in die Tiefe blicken konnte zum St.-Peters-Friedhof. Er sei ganz ruhig gewesen, dort oben, beim Blick in diese Tiefe, habe aber trotzdem überlegt, ob dies der Moment sei, um in die Tiefe zu springen. Aber etwas zwang mich, es nicht zu tun, sagte er.

Ich blicke hinauf zur steilen Felswand und überlege, wo Grübeldinger wohl gestanden hat. Auch ich bin, wie Grübeldinger, in Salzburg geboren, doch ich bin schon lange weggezogen. Waren es die vielen Kirchen, die mich veranlassten wegzuziehen? Ich sagte Grübeldinger, er solle doch wegziehen, zumindest für eine Weile, um etwas Abstand von den Kirchen zu bekommen. Oder mich in München besuchen. Grübeldinger sagte, in München seien die Kirchen noch viel schlimmer, weil sie sich mehr verteilten als hier in Salzburg und die ganze Gegend weitläufig infiltrierten. Hier in Salzburg hingegen stünden sie konzentriert, eingezwängt zwischen Mönchsberg und Salzach. Hier in Salzburg könne er die Wesensart der Kirchen besser studieren, durch ihre Eingezwängtheit. Hier könne er den Gott, den die Erzbischöfe geschaffen haben, besser studieren, da der Gott hier gefangen sei in seiner eigenen Prunksucht. Ich sagte Grübeldinger, er solle doch einmal über die Salzach gehen und am anderen Ufer auf den Kapuzinerberg gehen, um mit etwas Abstand auf die Stadt und ihre Kirchen zu blicken. Grübeldinger erwiderte, das komme für ihn nicht in Frage, denn er wolle in Zukunft immer so nahe wie möglich an der stadtzugewandten Seite des Mönchsbergs spazieren, denn nur so könne er die Kirchen durchdringen, könne diesen Gott begreifen, der von den Erzbischöfen geschaffen wurde. Ich habe Angst vor diesen steilen stadtzugewandten Schluchten, sagte Grübeldinger. Er sei sicher, dass nur hier, in diesen dunklen Schluchten, die Erzbischöfe diesen Gott erschaffen konnten, während sie selbst, die Erzbischöfe, aus diesen dunklen Schluchten nach Hellbrunn geflüchtet seien, weil dieses dunkle Leben in diesen Schluchten nicht zu ertragen sei, sagte Grübeldinger. Deshalb spaziere er jeden Tag auf den Mönchsberg, um vor diesen dunklen Schluchten zu fliehen, aber dennoch gehe er immer ganz nah an diesen dunklen Schluchten entlang. Etwas zwinge ihn, dies zu tun. Zur Richterhöhe könne er nicht gehen, denn dort sieht er Hellbrunn, und das sei noch viel schlimmer als die Kirchen zu sehen. Der Anblick von Hellbrunn beunruhigt mich, während der Anblick der Kirchen mich beruhigt, sagte Grübeldinger.

Ich hatte Grübeldinger lange nicht gesehen, jahrelang, weil ich genug hatte von seinem Kirchenwahnsinn. Für Grübeldinger gab es nichts anderes als die Salzburger Kirchen, und als ich ihm noch einmal vorschlug, er solle die Salzach überqueren, auf den Kapuzinerberg gehen und von dort, mit etwas Abstand, Salzburg und seine Kirchen betrachten, sagte er, das würde er nicht aushalten, die Stadt und ihre Kirchen in der Totalen zu sehen, genauso wenig, wie er es aushält, von der Richterhöhe Hellbrunn zu sehen. Die Stadt vom Kapuzinerberg zu sehen würde ihn sicher sehr beunruhigen, da sei er sich sicher, während es ihn beruhigt, die Stadt und die Kirchen von oberhalb der stadtzugewandten Schluchten des Mönchsbergs zu sehen, denn hier sei er den Göttern nahe, mit denen die Erzbischöfe die Stadt infiltriert hätten. Diese Götter seien sein Leben und sein Tod zugleich.

Grübeldingers Bruder sagt, dass Grübeldinger in letzter Zeit nicht mehr so oft auf den Mönchsberg gegangen sei, und dass es daher völlig absurd sei, dass er sich jetzt vom Mönchsberg in den St.-Peters-Friedhof gestürzt hat, jetzt, wo er nicht mehr so oft auf den Mönchsberg gegangen sei wie in all den Jahren zuvor.

Ich weiß nicht, wieso ich gekommen bin. Ich habe Grübeldinger seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich habe ein Taxi genommen und bin vom Bahnhof sofort zum St.-Peters-Friedhof gefahren, wo Grübeldingers Bruder auf mich gewartet hat. Ich stehe inmitten der Gräber, blicke hinauf zur steilen Felswand und stelle mir vor, wie Grübeldinger sich in den St.-Peters-Friedhof gestürzt hat, umgeben von den Kirchen seiner Götter.

Aufzug zur Tiefgarage

„Wir nehmen das Auto“, sagt Lene und geht zu einem kleinen Häuschen im Hof.
„Was ist das für ein Häuschen?“ frage ich sie.
„Das ist der Aufzug zur Tiefgarage.“
„Zur Tiefgarage fährt man doch hinab. Dann ist das also der Abzug zur Tiefgarage“, korrigiere ich sie und betrachte die Angelegenheit als erledigt.
„Nein“, sagt Lene, „ein Abzug ist etwas anderes“ und zitiert aus ihrem Smartphone: „Ein Abzug ist eine Absauganlage für gasförmige Substanzen, während ein Aufzug eine Anlage ist, mit der Personen oder Lasten in einer beweglichen Kabine zwischen zwei oder mehreren Ebenen transportiert werden können. Wie eben dieser Aufzug zur Tiefgarage.“

Ich bin verwirrt, denn wenn ich auf ebener Erde bin und zur Tiefgarage hinabfahre, kann ich dies doch unmöglich in einem Aufzug tun.
Lene sagt mir daraufhin, ich solle mir vorstellen, in der Tiefgarage zu stehen und mit dem Aufzug hinaufzufahren.
Ich sage, dass ich mir dies nicht vorstellen möchte, da ich ein Mensch bin, der sich bevorzugt auf ebener Erde aufhält und dass ich deshalb von der ebenen Erde meine Aktionen denken möchte. Jegliche andere Perspektive stört meinen inneren Seelenfrieden. Ich wiederhole, dass ich, um in die Tiefgarage hinabzufahren, dies unmöglich in einem Aufzug tun kann.

„Mir fällt etwas ein“, sagt Lene. „Wir nennen den Aufzug einfach Abzug. Dann können wir mit ihm zur Tiefgarage gelangen.“
Ich erwidere: „Bei der korrekten Benutzung des nun so genannten Abzugs riskieren wir, laut Definition, uns in gasförmige Substanzen zu verwandeln und abgesaugt zu werden, was ich mir ebenfalls nicht näher vorstellen möchte.“

Lene sieht mich an und geht plötzlich schnurstracks Richtung Straße.
„Was machst du?“ rufe ich ihr nach.
„Ich habe erkannt, dass es unmöglich ist, mit dem Aufzug in die Tiefgarage hinabzufahren und wenn wir dies mit dem Abzug tun, wir als gasförmige Wesen aus dem Leben gesaugt werden. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände habe ich beschlossen, dass wir zu Fuß gehen.“

Ich bin mit Lenes Vorschlag einverstanden, denn ich bewege mich, wie bereits erwähnt, bevorzugt auf ebener Erde. Mir fällt noch ein, ihr vorzuschlagen, die Treppe zur Tiefgarage zu benutzen, doch ich unterlasse diesen Vorschlag. Ich glaube, er würde in diesem Zusammenhang zu weit führen.

Bulut Bayernhaupt

Mitterbichler stand vor meiner Tür, mit einem lustigen Holzgestell auf Rädern. Was das sei? fragte ich ihn.
„Das ist ein Registrierwagen, von mir selbst gebaut“, sagte Mitterbichler.
„Ein Registrierwagen, von dir selbst gebaut? Und was willst du damit?“
„Ich will die Behörden unterstützen beim Registrieren der Flüchtlinge“, sagte Mitterbichler. „Komm mit mir zum Bahnhof!“

Ich sah Mitterbichler verständnislos an. Ich wollte ihm sagen, dass ich seine Idee absurd finde, mit diesem selbstgebauten Holzgestell auf Rädern zum Bahnhof zu fahren und Flüchtlinge zu registrieren. Doch ich sagte nichts, sondern kam mit ihm mit. Ich war zu neugierig auf das, was Mitterbichler vorhatte, um mich ihm zu widersetzen.

Am Bahnhof sauste Mitterbichler wie wild mit seinem fahrenden Holzgestell durch die ankommenden Flüchtlinge. Wie ein Schäferhund durch seine Schafherde. Ich war mit ihm auf dem Gestell und klammerte mich daran, um nicht herunterzufallen.
„Wer möchte sich registrieren?“ rief Mitterbichler in die Menge. „Hier ist es möglich.“
„Die verstehen doch kein Deutsch!“ rief ich dazwischen, während Mitterbichler eine Kurve machte und ich beinahe vom Holzgestell fiel.
„Anybody would like to register? Here it is possible!“ rief Mitterbichler nun, als ich endgültig vom Holzgestell gefallen war.
Mitterbichler hielt an, und ich sagte daraufhin zu ihm: „Ich gehe nachhause. Das macht keinen Sinn. Die Leute kommen nicht hierher, um sich registrieren zu lassen.“
„Es geht auch nicht um die Leute“, sagte Mitterbichler. „Es geht um die Behörden, denen wir Arbeit abnehmen.“
„Wieso willst du den Behörden Arbeit abnehmen?“
„Das ist eine Idee, die ich gut finde.“

Ehe ich erwidern konnte, sagte Mitterbichler zu einem Vorbeikommenden: „Hey du, willst du dich registrieren lassen?“
„Wieso denn registrieren?“
„Wieso denn nicht?“
Ich weiß nicht wieso, doch ich wurde neugierig. Das ist immer so mit Mitterbichler: Bin ich auf dem Absprung, passiert irgendetwas, dass ich an Bord bleibe.
Ich fragte nun den Vorbeikommenden: „Bist du ein Flüchtling?“
„Kann man so sagen.“
„Wie? – Kann man so sagen? Du sprichst perfekt deutsch. Du bist doch kein Flüchtling.“
„Doch. Ich bin dauernd auf der Flucht. Bin ich hier, flüchte ich nach dort. Bin ich dort, flüchte ich nach hier.“ Er hatte sich mittlerweile auf das Holzgestell gesetzt. Offensichtlich hatte er eine Verschnaufpause nötig, von seinem rastlosen Von-hier-nach-dort.
„Was ist hier, was ist dort?“
„Hier ist Bayern, dort ist die Türkei. Oder umgekehrt.“
„Wie heißt du überhaupt?“ fragte Mitterbichler, wohl an seinen selbstgestellten Registrierungsauftrag denkend. Zumindest schließe ich das aus der Vehemenz, mit der er diese Frage stellte.
„Bulut Bayernhaupt.“

„Bayernhaupt!“ meinte Mitterbichler mit einem Ausdruck des Entzückens. „Horst Seehofer würde gern Bayernhaupt heißen. Horst Bayernhaupt – HBH. Jedesmal, wenn er am Hofbräuhaus vorbeigeht, würde er seine Initialen sehen.“
„Bayernhaupt ok, aber wieso Bulut?“ funkte ich dazwischen.
„Scholl ok, aber wieso Mehmet?“ äffte Mitterbichler mich nach und übernahm wieder die Initiative: „Bulut, das klingt wie Bulle. Du bist doch kein Bulle?“
„Ach Schmarren“, meinte Bulut. „Bulut ist türkisch und heißt auf deutsch Wolke. Mein Vater sagt, ich bin in Bayern geboren, also soll ich seinen Nachnamen haben. Meine Mutter sagt, ich bin der Sohn einer Türkin, also soll ich einen türkischen Vornamen haben.“
„Das ist eine schöne Geschichte“, sagte ich. „Schön?? Gezeugt, getrennt. Meine Mutter ist in der Türkei, mein Vater in Bayern. Wenn ich bei meiner Mutter bin, will ich bei meinem Vater sein. Und umgekehrt. Und manchmal will ich überhaupt nirgends sein. Mich auflösen wie eine Wolke. Meine beschissenen Eltern!“
„Bulut, du sollst Frieden mit deinen Eltern schließen“, sagte ich.
„Lass ihn in Frieden!“ meinte Mitterbichler in wirschem Ton zu mir.
„Aber es ist doch nicht gut für ihn, sich dauernd in seiner Scheiße zu wälzen.“
„Dauernd? Du kennst ihn ein paar Minuten. Lass ihn. Vielleicht ist Scheiße etwas Gutes für ihn und er nennt es nur Scheiße.“
Ich fühlte mich in die Enge getrieben von Mitterbichler und drehte mich um zu Bulut. Doch er war nicht mehr da. Hatte sich während der Diskussion zwischen Mitterbichler und mir unbemerkt aus dem Staub gemacht. Sich aufgelöst wie eine Wolke, um ihn zu zitieren.

So saßen wir zu zu zweit auf dem Holzgestell, während die Leute an uns vorbeiströmten.
„Sollen wir nun endlich Flüchtlinge registrieren?“ sagte ich zu Mitterbichler; mehr hilflos als überzeugend.
„Nein. Einer reicht für den ersten Tag. Wir wollen uns nicht übernehmen“, sagte Mitterbichler in einem für ihn so typisch selbstüberzeugten Ton.
„Wieso einer? Bulut ist doch kein Flüchtling!“ versuchte ich mich Mitterbichlers Entschlossenheit zu widersetzen.
„Bulut ist ein Flüchtling. Er hat doch selbst gesagt: Ich bin dauernd auf der Flucht.“
„Ja, aber…“
„Bestimmst du, ob jemand Flüchtling ist oder der, der es von sich sagt?“
Mitterbichler stieg auf das Holzgestell und rauschte davon. Ich war so verwirrt, dass ich im Moment nichts anderes zu tun wusste, als ihm zu folgen.

Unwichtige Brustgeschichte

Ich habe von einer Geschichte gehört, die mir nicht wichtig scheint. Dennoch will ich sie erzählen:

Ein Mann, ich weiß nicht welchen Alters, wobei auch das nicht wichtig ist, hatte über eine virtuelle Partnervermittlung Kontakt zu einer Frau aufgenommen. Nach einer Weile virtuellen Chattens beschlossen die beiden, sich zu sehen. Ich stellte Erkundungen über den Mann an und erfuhr, dass er recht üppig beleibt ist. Ich habe nicht erfahren, ob dies seinem Lebenswandel geschuldet ist oder aus einer Veranlagung kommt. Außerdem ist dies für den weiteren Fortgang der Geschichte nicht von Bedeutung. Weiters erfuhr ich, dass der Mann promovierter Naturwissenschaftler ist. Ich fragte nicht nach in welchem Fach. Auch das erschien mir nicht wichtig. Der Mann, so sagte man mir, sei recht klug und gebildet, doch von anderer Seite wurde mir herangetragen, dass er sich dies, seine Klugheit und Bildung, lediglich einbilde. Die Frau, mit der er sich traf, ist von zierlicher Natur und ohne rechte Kurven. Ich weiß das aus verlässlicher Quelle, kann es jedoch selbst nicht bestätigen.

Als sie sich nun trafen, in einem Lokal zum Abendessen, herrschte zunächst große Stille am Tisch. Ob die Stille an den enttäuschten gegenseitigen Erwartungen lag, lässt sich nicht ermitteln. Nach einiger Zeit wollte der Mann die Stille beenden. Es ist anzunehmen, dass er sie beenden wollte, denn er sagte:

„Es ist doch erstaunlich, dass die Brüste menschlicher Frauen wesentlich größer sind als die verwandter weiblicher Primaten.“

Ohne darauf eine abschließende Antwort zu finden, lässt sich nun spekulieren, warum der Mann dies sagte. Ist die weibliche Brust Gegenstand seiner beruflichen Forschungen? Wollte er mit dieser Aussage seine Bildung unterstreichen? Wollte er mit dieser Aussage etwas über die Brüste der Frau sagen, die ihm gegenübersaß? Die Frau war, wie gesagt, von zierlicher Natur und hatte, für eine menschliche Frau, recht kleine Brüste. Als sie den Mann reden hörte, dachte sie daran, dass sie sich schon öfter größere Brüste gewünscht hatte. Neuerdings war sie jedoch zu der Überzeugung gekommen, mit der Größe beziehungsweise Kleinheit ihrer Brüste Frieden schließen zu wollen. Sie hatte deshalb beschlossen, einen Mann zu finden, der ihre kleinen Brüste begehrt.

Sie hätte diese Gedanken nun dem Mann mitteilen können. Hätte er sie verstanden? Es ist müßig darüber nachzudenken, denn sie teilte diese Gedanken dem Mann nicht mit. Stattdessen gab sie der Kränkung nach, die sie in sich spürte, und sagte zu dem wohlbeleibten Mann, der ihr gegenübersaß:

„Es ist ebenfalls erstaunlich, wie groß die Brüste menschlicher Männer manchmal sein können, größer als die ihrer weiblichen Artgenossen. Jedoch zeigen sich die Fettablagerungen bei diesen Männern meist nicht nur in der Brust, sondern am ganzen Körper.“

Ich getraue mich anzunehmen, dass die Frau diese Aussage nicht tätigte, um den Gegenstand ihrer gegenwärtigen beruflichen Forschung zu beschreiben. Über die berufliche Tätigkeit der Frau habe ich im übrigen keine Kenntnisse. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass sie mit dieser Aussage etwas über die Brüste des Mannes sagen wollte. Wobei auch dies nicht endgültig bewiesen werden kann.

Rein naturwissenschaftlich gesehen hätte es nun viele Themen gegeben, über die die beiden hätten sprechen können, zum Beispiel über die Anatomie des Menschen im allgemeinen und die seiner Brüste im besonderen. Doch praktisch gesehen herrschte große Stille an ihrem Tisch.

An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass mein Freund Vorderbrandner bis zum Zeitpunkt dieser Stille am Nachbartisch gesessen hatte und mir die Ereignisse bis hierher geschildert hatte. (Wobei er sich bei seinen Ausführungen immer wieder auf Kenntnisse von Mitterbichler berief, den ich jedoch nicht für sehr glaubwürdig erachte.) Vorderbrandner ist kein Freund der Stille, sodass er sich aufgrund dieser Stille erhob und das Lokal verließ. Im weiteren Verlauf war also niemand anwesend, der jetzt über den Fortgang dieser Stille berichten könnte. Es wird jedoch gemutmaßt, dass sich der Mann nach einiger Zeit still erhob und die Frau allein am Tisch zurückließ. Die Frau, so sagt man, verfiel daraufhin in großen Kummer ob ihrer kleinen Brüste. Ein Kummer, der mir unnötig erscheint, doch ich glaube, es ist nicht wichtig, ob er mir nötig oder unnötig erscheint, sodass ich diesen Kummer nun nicht weiter verfolgen möchte.

Ich hatte die Geschichte schon vergessen, als ich vor ein paar Tagen von Vorderbrandner aufgehalten wurde und er mich fragte, ob ich mich noch an die Geschichte mit dem Mann und der Frau im Lokal erinnern könne. „Ist das die Geschichte mit den Brüsten?“ fragte ich. Auch, sagte Vorderbrandner, aber das sei nicht wichtig. Wichtig sei zu erwähnen, dass der Mann und die Frau in der virtuellen Partnervermittlung, über die sie sich kennengelernt hatten, sich nach ihrem Treffen so schlecht bewertet hätten, dass sie wegen des daraus resultierenden schlechten Rankings noch immer keinen Partner gefunden hätten. Ich fragte ihn, woher er das wisse? „Berufsgeheimnis“, sagte er: „Ich arbeite neuerdings in der digitalen Welt.“

Ich versuche nun, diese Geschichte endgültig zu vergessen. Sie beruht auf Indizien und auf Aussagen Vorderbrandners, die nichts beweisen, und wenn ich es mir so überlege, wüsste ich gar nicht, was zu beweisen wäre. Ich habe keine Ahnung, warum ich diese Geschichte überhaupt erzählt habe. Vielleicht weil ich durch sie bemerkt habe, wie wichtig mir weibliche Brüste sind?

Gelzer und Gürzer

In einer Wirtschaft in Weichering machte sich ein Mann namens Gelzer Gedanken über die Wirtschaft und dachte sich: Wirtschaften tut der Mensch, um zu leben. Was hat der Mensch zum Wirtschaften? Er hat seine Umwelt, die Erde, und sich selbst, seine Arbeitskraft. Das haben Tiere auch. Also versuchen Menschen und Tiere jeden Tag, kraft ihrer Arbeit ihrer Umwelt das zu entnehmen, was sie zum Leben brauchen. Das ist also das ganze Wirtschaften, dachte sich der Mann namens Gelzer in der Wirtschaft in Weichering.

In einer Wirtschaft in Wasserburg fragte sich ein Mann namens Gürzer, was Menschen von Tieren unterscheide und rief zu diesem Zweck Gelzer in Weichering an. Gelzer sagte daraufhin zu Gürzer, er habe gerade festgestellt, dass Menschen und Tiere, was das Wirtschaften betrifft, sich nicht unterscheiden.

Gelzer bezahlte daraufhin in der Wirtschaft in Weichering, und während des Bezahlens dachte er: Das ist es, was Menschen von Tieren unterscheidet – das Geld. Gelzer dachte weiter: Der Mensch kann seine Arbeitsleistung speichern, und zwar mit Geld. Wenn er gerade nichts benötigt, legt er seine Leistung in Geld an, um später etwas dafür zu bekommen. Wie klug der Mensch ist, das Geld erfunden zu haben, dachte sich Gelzer. Er ging zufrieden nachhause und träumte davon, viel Geld zu besitzen.

Am nächsten Morgen rief Gürzer Gelzer an und sagte ihm, dass er dreißig Millionen Euro in bar besitze und dass er diese auf der Stelle los werden möchte. Er habe nämlich davon geträumt, regelmäßig viel Geld zu bekommen, aber keines mehr zu besitzen. Er sei gestresst von der jahrelangen Geldbesitzerei und seinem zwanghaften Bemühen, es werthaltig zu halten.

Gelzer meinte, dass er ohnehin gerade geträumt habe, viel Geld zu besitzen und er gerne bereit sei, Gürzer die dreißig Millionen Euro abzunehmen. Doch wie willst du regelmäßig viel Geld bekommen, wenn du keines mehr besitzst? fragte Gelzer Gürzer. Indem du, der du es jetzt besitzt, es mir regelmäßig zurückzahlst. Ich habe nämlich beschlossen, wie ein Tier zu leben, ohne auf das Geld zu verzichten.

In einer Wirtschaft in Wien saß ein Quantenphysiker und dachte sich: Alles Immaterielle manifestiert sich im Materiellen. Wie passt das jetzt zum Geld von Gelzer und Gürzer?

Ausflug aufs Land (München-Pasing)

Emil, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, möchte der Enge seiner städtischen Bleibe entfliehen und für ein paar Tage aufs Land fahren. Von einem werten Kollegen hat er gehört, dass zu Pasing, westlich der Stadt gelegen, vor längerer Zeit ein Architekt eine geschmackvolle Villensiedlung im Grünen errichten ließ. Emil fährt mit der Bahn nach Pasing. Dort angekommen, verlässt er den Bahnhof Richtung Norden und findet sich in der August-Exter-Straße wieder. Hier muss es sein! Denn so hieß er, der Architekt, der hier auf grünem Land die Villen plante und errichten ließ: August Exter. Emil fühlt sich oft verbunden mit Menschen, nach denen Straßen und Plätze benannt werden. Zu oft, findet er, kommt die Würdigung bedeutender Menschen zu kurz, im Allgemeinen wie im Besonderen.

Emil geht die August-Exter-Straße entlang und sieht ein paar durchaus prächtige Gebäude. Doch insgesamt ist es ihm zu geschäftig, als dass herrschaftliche und erhabene Gefühle aufkommen könnten. Er will die Straße überqueren und wird dabei fast von einem schnöden Omnibus überfahren, der hier auch noch durchfährt. Hier will er nicht wohnen. Das ist kein landschaftliches Wohnen, das er sich vorstellt. Er beschließt, auf die Suche nach ruhiger gelegenen Villen zu gehen. Er sieht einen Herrn mit Hut und Spazierstock aus einer Seitenstraße spazieren, dessen Noblesse ihm geeignet erscheint, ihn für einen Villenbesitzer zu halten. „Verzeihung, mein Herr: Ich bin auf der Suche nach einer ruhigen Villa im Grünen; einer Villa, in der selbst der gesegnete Herr Exter mit seiner anvertrauten Gattin Luise gerne gewohnt hätte.“ Emil präsentiert stolz das Wissen über die Extersche Familie, das er sich angeeignet hat. „Da lang ist der Luisengarten, wenn Sie den meinen“, sagt der etwas verwundert dreinblickende Herr und zeigt auf die Seitenstraße, aus der er gerade gekommen ist. Emil geht die Seitenstraße entlang: Luisengarten, das ist gut – sicher benannt nach der Gattin des Herrn Exter.

Der Luisengarten

Der Luisengarten

Emil kommt an eine bayrische Wirtschaft, den Luisengarten. Da es noch warm ist, lässt er sich unter der Kastanie nieder. Er sitzt da und träumt davon, mit August Exter und Luise am Tisch zu sitzen und um die Hand einer der drei Exter-Töchter anzuhalten: Eva, Gabriele, Klara – eine schöne als die andere in seinem Kopf. Welche soll er nur nehmen? August Exter ist schon lange tot. Seine Frau auch. Seine Töchter noch nicht so lange, aber tot sind sie auch. Doch Emil lässt sich nicht beirren: Er will eine Villa finden, dort wohnen und von den schönen Exter-Töchtern träumen. Er fragt den Wirt, wo es denn hier eine von Exter erbaute Villa gebe, die ruhig und im Grünen liegt. Er, der Wirt, könne ihm doch sicher helfen, als Besitzer einer Wirtschaft, die nach der hochgeschätzten Luise Exter benannt ist. Der Wirt schweigt, sieht Emil prüfend an, meint dann: „Gehen Sie die Straße weiter, da kommen Sie an den Nymphenburger Kanal. Da ist es grün.“ „Danke“, sagt Emil und erhebt sich vom Tisch. „Und für was brauchen Sie eine Villa?“ „Zum Wohnen.“ Emil geht locker-beschwingt aus dem Wirtsgarten hinaus und weiter die Straße entlang.

Kurz vor dem Kanal mit seinem begrünten Ufer sieht er linkerhand eine schöne Villa in einem großzügigen Garten stehen. Er ist begeistert. Hier will er wohnen! Er geht zum Gartentor und klingelt. Er blickt über den Zaun und bewundert das Anwesen. Ruhig und im Grünen, sehr stilvoll. Hier will er wohnen! Er klingelt ein zweites Mal. Er versucht, die stilistischen Merkmale der Villa architektonisch einzuordnen. Doch sein Enthusiasmus weicht jäh der Ernüchterung. Noch immer öffnet niemand die Tür. Ist niemand zuhause oder hat man beschlossen, ihn am Gartentor stehen sehend, nicht einzulassen? Emil wird unsicher. Soll er nochmals klingeln? Er sieht seinen Traum vergehen, hier in dieser Villa zu wohnen. Ach Eva, ach Gabriele, ach Klara! Womit habe ich das verdient!

Emils Villa

Emils Villa

Wie ein Geschlagener trottet er die Seitenstraße zurück. In der August-Exter-Straße angekommen und auf den Bahnhof zugehend, spricht ihn eine Frau an, die gerade auf den Omnibus wartet: „Junger Mann, Sie sehen so niedergeschlagen aus. Kann ich Ihnen helfen?“ „Ich wollte in einer Villa wohnen, aber niemand war zuhause.“ „In welcher Villa?“ Emil zeigt in die Seitenstraße: „Beim Luisengarten vorbei, am Kanal.“ „Aber die Villen, die stehen doch stadtauswärts, über der Würm“, sagt die Frau. „Stadtauswärts, über der Würm?“ „Ja. Biegen Sie vor dem Bahnhof rechts ab und überqueren Sie anschließend die Pippinger Straße. Da stehen Sie dann, die Villen, in der Alten Allee und der Marschnerstraße.“ „Von August Exter erbaut?“ „Das weiß ich nicht. Kann schon sein.“ „Vielen Dank Luise!“ sagt Emil mit einem Ausruf des Entzückens und will die Frau am liebsten umarmen. „Nichts zu danken. Aber – ich heiße nicht Luise.“ „Natürlich nicht. Entschuldigen Sie, Eva! Und grüßen Sie Gabriele und Klara von mir!“ Emil marschiert schnell weiter. Die Frau, deren wahren Namen wir nicht erfahren, bleibt so verwundert stehen, dass sie vor Verwunderung den Omnibus ohne sie abfahren lässt.

Emil steht an der Pippinger Straße und ist aufgrund des vielen Verkehrs gezwungen zu warten, bevor er sie überqueren kann. Gegenüber beginnt sie, die Alte Allee. Er sieht zwei alte Villen. Die müssen wohl von Exter sein. Sie sind von Verkehr umtost. Wie Relikte aus vergangenen herrschaftlichen Zeiten stehen sie da. Das ist kein landschaftliches Leben, von dem er träumt. Als er endlich die Pippinger Straße überqueren kann, geht er hurtig an den verkehrsumtosten Villen vorbei. Er gelangt zu einer Kirche. Rechts von ihr geht die Alte Allee weiter, links beginnt die Marschnerstraße. Von beiden Straßen hat die Frau gesprochen, deren wahren Namen wir nicht erfahren haben. Welcher Straße soll Emil entlanggehen? Er entscheidet sich für die Alte Allee. Aus einem Gefühl heraus. Alte Allee klingt erhaben. Hier würde er seine Villa für das Landleben finden. Emil fallen vor allem die alten Bäume an der Alten Allee auf. Es gibt einige Villen, linkerhand, doch es gibt nach wie vor diesen Verkehr, der Emil stört. Rechterhand tut sich eine unbebaute, freie Wiese auf, an deren anderem Ende eine Kirche steht. Emil misst der Entfernung zur Kirche eine Strecke von dreihundert Metern bei. Hier noch einmal so stehen wie Exter, vor dem unbebauten Land, und im Kopf die Villen planen! Emil geht weiter und kommt an einem eher armseligen, kleinen Häuschen vorbei, das einen Outdoor-Shop beherbergt. Soll er sich ein Zelt kaufen und es wie ein Pionier auf der Wiese aufschlagen? Dreihundert Meter freie Sicht nach Osten. Die Sonne würde ihn früh am Morgen erreichen und ihn beleuchten wie einen König der Landschaft.

Mit dem Zelt auf die Wiese?

Mit dem Zelt auf die Wiese?

Doch dann denkt er an die Autos, die aus den Seitenstraßen in die Alte Allee abbiegen und mit ihren Lichtkegeln in der Dunkelheit sein Zelt beleuchten. Er verwirft die Idee. Allmählich bekommt er Hunger. Dieses Landleben beziehungsweise das Suchen nach ihm ist anstrengend. Er blickt die Alte Allee entlang und glaubt zu erkennen, dass sie wohl in einem knappen Kilometer einen Rechtsknick beschreibt, folglich nach einem Kilometer noch immer nicht zu Ende ist. Würde er hier seine Villa finden? Zaghaft geht er ein paar Schritte weiter. Linkerhand sieht er eine Wirtschaft namens Jagdschloss. Er spürt Wut in sich aufkommen über diesen Namen. Wie soll man in diesem Trubel eine Jagd veranstalten? Wer hier das Jagdhorn bläst, verhallt ungehört ob des Autolärms. Er denkt kurz nach, ob wohl die Marschnerstraße eine ruhigere Straße sei, eine Straßen mit vielen noblen Herren in ihren herrschaftlichen Villen. Doch dann hat er nur noch ein Bedürfnis: Nachhause zu fahren, in die Behaglichkeit seiner Stadtwohnung, um sich zu erholen, von diesem anstrengenden Ausflug aufs Land.

Emils Forschungsgebiet im Überblick

Emils Forschungsgebiet im Überblick

Mehr zu August Exter und den Pasinger Villenkolonien

Agathe und das Fenster

Ich wollte heute die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählen. Doch ich begann zu zweifeln an dieser Geschichte. Ich erzählte Bene die Geschichte von Agathe und dem Fenster und er meinte, er würde sie so nicht erzählen. Wie soll ich sie denn dann erzählen?

Ich bin heute bei Agathe vorbeigefahren. Zumindest glaube ich, bei ihr vorbeigefahren zu sein. Ich bin an der Tür vorbeigefahren, wo sie vor zwei Monaten auf mich wartete und mir sagte, dass sie hier wohne, in diesem Haus. Wir sind dann, damals vor zwei Monaten, nicht ins Haus gegangen, sondern haben uns unter die Akazien gesetzt und durch ihre Blätter den blauen Himmel betrachtet.

Dann bin ich weitergefahren, heute, in die Straße wo Josefine wohnt beziehungsweise wo ich vermute dass Josefine wohnt. Vor drei Monaten habe ich Josefine nachhause begleitet und wir standen an einer Tür von der Josefine sagte, das sei die Eingangstür zu dem Haus in dem sie wohne.

Ich wundere mich, warum ich die Geschichte von Agathe und dem Fenster erzählen wollte, wo es doch jetzt um Türen geht und ich viel lieber die Geschichte von Agathe, Josefine und den Türen erzählen würde. Oder habe ich diese Geschichte bereits erzählt?

Ich bin nachhause gefahren und habe dort durch die tiefstehende Sonne festgestellt, dass die Scheiben des Fensters schmutzig sind. Das Fenster sollte geputzt werden. Ich öffne das Fenster, um die Wärme der Sonne hereinzulassen. Bene meint, er sei nicht sicher, ob Agathe und Josefine noch in den Häusern wohnten, deren Türen sie mir vor zwei beziehungsweise drei Monaten gezeigt haben. Ich bin mir sicher, entgegne ich, dass die Akazien mittlerweile ihre Blätter verloren haben und wenn man unter ihnen sitzt man den Himmel besser sieht als vor zwei Monaten. Ich weiß allerdings nicht, ob Agathe das genauso sieht. Das weiß Bene auch nicht.

Als ich das Fenster schließe, ist die Sonne hinter den Häusern versunken. Ich sehe den Schmutz an den Scheiben nicht mehr. Bene meint, er würde die Geschichte von Agathe und dem Fenster jetzt nicht erzählen. Ich sage daraufhin: Ja, ich werde die Geschichte von Agathe und dem Fenster jetzt nicht erzählen.

München, Schleißheimer Straße

Emil, ein Hagestolz noch nicht zu alten Datums, ging die Schellingstraße entlang. Davon wurde an anderer Stelle bereits berichtet: München, Schellingstraße.

Als er das Ende der Schellingstraße erreicht, erinnert er sich, dass er bei seinem Spaziergang die Schleißheimer Straße überschritten hat. In Schleißheim steht ein kurfürstliches Schloss. Emil beschließt, die Schleißheimer Straße entlangzugehen. Emil ist ein gründlicher Mensch. So präzisiert er seinen Beschluss und beschließt weiters, die Schleißheimer Straße von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende zu begehen.

Am Ende der Schellingstraße stehend, befragt er Vorbeikommende, die er als ortskundig erachtet, wo denn die Schleißheimer Straße beginne.
Einer der Vorbeikommenden sagt: „Hier endet die Schellingstraße. Was weiß denn ich, wo die Schleißheimer Straße beginnt.“
Ein Anderer: „Da gehst jetzt zurück, dann kommst du an die Schleißheimer Straße.“
Emil meint, das wisse er, er habe sie ja bereits überquert, die Schleißheimer Straße, aber er wolle wissen, wo sie beginne.
„Jetzt gehst mal hin zu ihr, zu der Schleißheimer Straße, und dann kannst schauen, wo sie beginnt, oder?“ antwortet der Andere auf Emils Einwand.
Das befriedigt Emil nicht, denn er möchte die Schleißheimer Straße von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende begehen, und nicht grob irgendwo in ihrer Mitte in sie reinstechen. Also schlägt er sich auf eigene Faust durch das Straßendickicht, um zum Beginn der Schleißheimer Straße zu gelangen. Aus Sorge, vor ihrem Beginn auf sie zu stoßen, geht er einen großen Bogen. Vorbeikommende fragt er keine mehr, da sie nach seinen bisherigen Erfahrungen alle als ortsunkundig zu gelten haben. Nach langen Bogengängen, die ihn bis an den Hauptbahnhof geführt haben, landet er auf dem Stiglmaierplatz. Dort ist seine Sorge, dass er die Schleißheimer Straße überhaupt nicht findet, schließlich größer als seine Sorge, ihren Beginn zu verpassen. Er fragt also einen Vorbeikommenden, wo die Schleißheimer Straße sei. „Dort vorne beginnt sie“, sagt der Vorbeikommende und zeigt nach Norden. Emil kann sein Glück kaum fassen, dass der Vorbeikommende tatsächlich sagt: „Dort vorne beginnt sie.“ Als er dort ist, wo der Vorbeikommende hingezeigt hat, steht er auf einem weiteren Platz. Das Schild sagt „Rudi-Hierl-Platz“. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als einen weiteren Vorbeikommenden zu fragen, wo denn die Schleißheimer Straße beginne.
„Die Schleißheimer Straße hat hier mal begonnen“, sagt der weitere Vorbeikommende, „doch sie haben einen autofreien Platz daraus gemacht. So ist die Schleißheimer Straße an ihrem Beginn keine Straße mehr. Dort geht sie weiter“, sagt er schließlich und zeigt nach Norden.

Rudi-Hierl-Platz - Beginn der Schleißheimer Straße

Rudi-Hierl-Platz – Beginn der Schleißheimer Straße

Die Schleißheimer Straße, auf der einst Kurfürsten zu ihrem Schloss ritten, hat keinen Beginn mehr. Emil kann es nicht fassen und wird fast von einem Fahrradfahrer überfahren, der den autofreien Rudi-Hierl-Platz überquert. Etwas missmutig geht er. Wohin? Nun, nicht zum Beginn der Schleißheimer Straße, denn sie hat ja keinen mehr, sondern zur Schleißheimer Straße. Es ist, als ob er irgendwo in sie reinstechen würde, und es schmerzt Emil. Eng und einspurig ist sie auf ihren ersten Metern. Hier ist der Kurfürst entlanggeritten? Bald wird sie zumindest zweispurig. Emil erreicht die Schellingstraße, durch die er vorhin die Schleißheimer Straße überschritten hat. Das Café Emil an dieser Kreuzung lädt zum Verweilen ein. Emil aber ist wie besessen von seinem Vorhaben, das Ende der Schleißheimer Straße aufzusuchen. Umso mehr, als die Auffindung ihres Beginns derart erfolglos verlaufen ist.

Der Blick nach Norden zeigt eine lange, gerade Straße. Schritt für Schritt geht Emil diese lange, gerade Straße entlang, akkurat alle Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf speichernd. An der Stelle, wo links die Lerchenauer Straße abgeht, bemerkt er eine langgezogene Rechtskurve der Schleißheimer Straße. Er ist sehr gespannt, was sich hinter dieser langgezogenen Rechtskurve verbirgt, dass er völlig vergisst, weitere Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf zu speichern. Diese Zählung darf also, wenngleich nicht bewusst, an der Lerchenauer Straße für beendet erklärt werden.

Hinter der langgezogenen Rechtskurve verbirgt sich eine relativ abrupte Linkskurve. Was sich Emil nach der abrupten Linkskurve darstellt, kommt ihm bekannt vor: ein Blick nach Norden, auf eine lange, gerade Straße. Hätte Emil einen Stadtplan bei sich, stellte er fest, dass sein Blick ihm eine fast fünf Kilometer lange, schnurgerade Straße zeigt, die nahezu exakt nach Norden führt. Doch er hat keinen bei sich und sein Blick ist trüb wie das Wetter. Er geht weiter, wieder alle Querstraßen und Ampeln in seinem Kopf speichernd. Es lässt sich feststellen, dass lediglich die Strecke zwischen Lerchenauer Straße und abrupter Linkskurve von Emil nicht vermessen wurde.

Die Schleißheimer Straße ist ab der abrupten Linkskurve teilweise vierspurig. Doch Emil erscheint sie auch hier nicht wie eine kurfürstliche Prachtstraße. Vielleicht ist es dem trüben Wetter oder seinem trüben Blick geschuldet, dass die Häuser am Straßenrand teilweise so grau aussehen. Er kommt an eine Querstraße, die nennt sich Hamburger Straße. Da die Hamburger Straße von Ost nach West verläuft und somit unmöglich nach Hamburg führen kann, kommen ihm ernste Zweifel, ob die Schleißheimer Straße überhaupt nach Schleißheim führt. Er geht weiter.

Viele Häuser und Querstraßen und auch Ampeln weiter: Plötzlich und unverhofft der freie Blick auf die Heidelandschaft. Auch die Schleißheimer Straße weitet sich. Ihre beiden Fahrtrichtungen sind getrennt durch einen großzügigen Grünstreifen. Enthusiasmus in Emil. Hier ist der Kurfürst also entlanggeritten, durch die weite Heide. Erwartungsvoll geht er weiter Richtung Norden. Doch der großzügige Grünstreifen verengt sich bald, und dort, wo die Schleißheimer Straße weitergehen soll, steht ein Straßenschild mit der Aufschrift „Fortnerstraße“. Ganz eindeutig: Nach Süden sagt das Straßenschild „Schleißheimer Straße“, nach Norden „Fortnerstraße“. Beim Blick zurück auf den großzügigen Grünstreifen inmitten der Schleißheimer Straße stellt Emil fest, dass es sich um die ehemalige Wendeschleife einer aufgelassenen Trambahnlinie handelt. Ist der Kurfürst mit der Trambahn hierher gefahren, um dann zu Fuß nach Schleißheim weiterzugehen?

Das Ende der Schleißheimer Straße

Das Ende der Schleißheimer Straße

Emil zieht es in die Fortnerstraße. Er will dieses schnöde Ende nicht akzeptieren. Die Schleißheimer Straße hat nach Schleißheim zu führen. Ist die Schleißheimer Straße etwa zu Ende, bloß weil sie Fortnerstraße heißt? Nach wenigen Metern, an einer Kirche mit dem Namen „Mariä Sieben Schmerzen“, wird die Fortnerstraße schließlich zu einem namenlosen Waldweg. Ist das alles, das von der Schleißheimer Straße übrig bleibt? Acht Kilometer ist sie wohl lang, die Schleißheimer Straße, errechnet Emil jetzt in seinem Kopf, wobei das nur eine ungefähre Zahl sein kann, denn ihr Beginn und ihr Ende sind für ihn nicht abschließend geklärt. Wenn man dieses – wohlgemerkt vorläufige – Ergebnis von acht Kilometern auf die sieben Schmerzen der Maria umlegt, ist jeder Kilometer ein Schmerz und einer schmerzfrei.

Beginn des namenlosen Waldwegs

Beginn des namenlosen Waldwegs

Emil zieht es weiter in den namenlosen Waldweg. Das Konzept der Querstraßen ist belanglos geworden, das der Ampeln sowieso. Wo ist Schleißheim? Emil geht den Weg entlang durch den Wald. Als der Wald zu Ende ist, steht Emil vor einer großen, freien Fläche, die umzäunt ist. Es geht nicht mehr weiter, geradeaus nach Norden, nur nach rechts oder nach links. Als ein Vorbeikommender vorbeikommt, fragt ihn Emil in seiner Verzweiflung: „Wieso ist hier ein Zaun? Hier muss es doch nach Schleißheim gehen!“
Der Vorbeikommende, der sich als ausgesprochen ortskundig erweist, erwidert: „Da geht’s schon lange nicht mehr nach Schleißheim. Da ist schon seit über hundert Jahren ein Flugplatz.“
„Und der Kurfürst, wie ist der dann nach Schleißheim gekommen, zu seinem Schloss?“ fragt Emil weiter.
„Der Kurfürst ist die ersten Jahre mitten durch das Flugfeld geritten, bis ihn ein landendes Flugzeug beinahe überfahren hätte. Dann hat er es auch bleiben lassen.“
Der Vorbeikommende fährt weiter und lässt Emil am Zaun zurück. Emil blickt über das Flugfeld nach Norden, und trotz des trüben Blicks misst er der Entfernung zu Schloss Schleißheim eine Strecke von eineinhalb Kilometern bei.

Mehr zur Schleißheimer Straße

Drei Katzenkinder und Emil von vor vielen Jahren

Diese Woche durfte ich dem freudigen Ereignis einer Katzengeburt beiwohnen. Drei Stück wurden geboren, zwei Mädchen und ein männlicher Nachzügler. Der hatte einen recht großen Kopf und daher eine etwas anstrengende Geburt. Das Ereignis lässt sich am besten so zusammenfassen:

Zwei Katzenkinder auf der Welt:
Beate und Renate.
Das dritte kommt mit rotem Kopf,
das nennt man dann – Tomate.

Außerdem habe ich am Dienstag, dem 20. Oktober, wie jedes Jahr mit einer großen Feier meinen halben Geburtstag zelebriert. (Mein ganzer ist am 20. April.) Da ich allmählich in ein Alter komme, wo ich ab und zu auch zurückblicke, habe ich auf dieser Feier spontan die Rubrik „Emil von vor vielen Jahren“ erfunden, um folgende Geschichte aus meinem Frühschaffen vorzutragen. Es handelt sich um ein Historiendrama mit dem bedeutungsschweren Titel „Firmians Erkenntnis“. Die Verhandlungen mit dem ZDF zur Verfilmung laufen:

Firmians Erkenntnis

Damals in Debalzewe

Im Februar dieses Jahres ließ mich eine Nachricht aufhorchen: Die heftig umkämpfte ostukrainische Stadt Debalzewe ist bei Kämpfen zwischen prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee völlig zerstört worden. Man wisse nicht, wieviele der geschätzten fünftausend verbliebenen Einwohner die Kämpfe überlebt haben. Mir gefiel der Name dieser Stadt: Debalzewe. Umso tragischer empfand ich es, dass diese Stadt nun zerstört ist. Erst jetzt wusste ich, dass es sie gibt, und musste gleichzeitig erfahren, dass es sie nicht mehr gibt.

Heute morgen, mehr als ein halbes Jahr danach, erinnerte ich mich wieder an diese Nachricht, und an die Schönheit des Namens dieser Stadt, die zerstört wurde. Aber ich wusste ihren Namen nicht mehr. Ich wusste nur noch, dass es ein schöner Name ist. Ich recherchierte im Internet und fand bald heraus, dass der Name dieser Stadt Debalzewe ist. Ich wollte mehr herausfinden. Ich wollte herausfinden, was jetzt ist mit dieser Stadt, ein gutes halbes Jahr nach ihrer Zerstörung. Doch die letzten Netzeinträge, die Debalzewe betreffen, sind vom März dieses Jahres und berichten vom großen Ausmaß der Zerstörung.

Ich recherchierte weiter, was davor war in Debalzewe, vor den Kämpfen im Februar. Die Stadt ist ein strategisch wichtiger Verkehrsknotenpunkt, vor allem der Eisenbahn. Wegen der Eisenbahn wurde sie 1878 als kleines Dorf gegründet, wuchs zu einer Stadt heran, ehe sie von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Danach wurde sie von den Russen wieder aufgebaut, ehe sie im Februar dieses Jahres von den Russen wieder zerstört wurde. Gibt es Menschen in Debalzewe, die beide Zerstörungen erlebt haben?

Wieso übt der Name Debalzewe eine derartige Faszination auf mich aus? Ich glaube nicht, dass einer meiner Großväter mir als Kind eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt hat mit dem Titel Damals in Debalzewe und sie deshalb noch so schön in meinen Ohren nachklingt. Oder doch? Wie wäre es, nach Debalzewe zu reisen? Züge fahren keine mehr seit den Kämpfen. Mit dem Auto sind es laut Google von München aus 2.528 Kilometer zu fahren. Es gibt lediglich zwei Baustellen auf der Route, eine in Polen, eine in der Zentralukraine. Fahren wir nach Debalzewe – wer kommt mit? Am besten jemand, der Russisch kann oder Ukrainisch oder noch besser beides… Das könnte über Leben und Tod entscheiden.

25.000 Menschen lebten bis 2014 in Debalzewe, vor den Kämpfen wurden die meisten von ihnen evakuiert. 5.000 aber sind geblieben. Wo sind die 20.000 Evakuierten hin? Gibt es die 5.000 noch, die geblieben sind? Wieviele sind bei den Kämpfen gestorben?

25.000 Menschen aus Debalzewe gegen Millionen von Menschen, die gerade nach Europa flüchten. Aus 2.528 Kilometern Entfernung schreibe ich betroffene Worte, die doch keine Ahnung vermitteln. Denn ich war nicht dabei, gottseidank, damals in Debalzewe.