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Valentinstag (ist vorbei)

Ich wusste, es war Valentinstag, aber ich hatte keine Lust auf rote Rosen, wahrscheinlich, weil ich sie niemandem schenken wollte. Ich wollte ins Musäum des Karl Valentin gehen, was ich dann aber auch nicht tat, denn am Valentinstag ins Valentin-Musäum gehen fand ich doof, fantasie- und humorlos, sodass ich nicht ins Valentin-Musäum ging. Stattdessen hörte ich das Lied Valentinstag ist vorbei, was mir passend erschien, denn wieso sollte ich mich genau am Valentinstag mit dem Valentinstag beschäftigen? Ich hörte zehn Mal das Lied Valentinstag ist vorbei, vielleicht sogar elf Mal, ich begann zu hören um 18:45 Uhr und hörte auf zu hören um 19:29 Uhr, also müsste ich das Lied zwölf Mal gehört haben, ich glaube aber, ich habe es nur elf Mal gehört, weil ich zwischen dem Hören in die Küche gegangen war, um ein Glas Wasser zu trinken, wo ich aus dem Fenster sah und eine Amsel vor jenigem sitzen sah und sie eine zeitlang betrachtete, also kann ich, bei eingehender Betrachung nicht nur der Amsel, sondern der Gesamtsituation im Hinblick auf den zeitlichen Aspekt, das Lied nur elf Mal und nicht zwölf Mal gehört haben, vielleicht habe ich es sogar nur zehn Mal gehört, je nachdem, wie lange ich die Amsel vor dem Fenster betrachtet habe, was ich mir jedoch nicht notiert, geschweige denn gemerkt habe.

Um 19:29 Uhr machte ich jedenfalls einen Schnitt und hörte auf, das Lied Valentinstag ist vorbei zu hören, und dann, nachdem ich zu hören aufgehört hatte und Stille im Raum war, kam mir die Idee, etwas über Leute zu schreiben, die 1929 geboren sind und überlegte, welche Leute ich kenne, die 1929 geboren sind, und mir fielen keine solchen Leute ein. Es könnte sein, dass ich solche Leute mal gekannt habe, dass sie aber mittlerweile gestorben sind, ja, das ist eine sehr wahrscheinliche Tatsache, und Tote, kennt man die noch, oder sind sie nicht nur aus dem Leben, sondern auch aus der Kenntnis entschwunden?

Mitten in diese Überlegungen hinein erinnerte ich mich, dass einst – damals zu meiner völligen Überraschung – Milan Kundera und Max von Sydow durch den Ort im Alpenvorland spazierten, in dem ich aufgewachsen bin. Es war noch Winter, als ich sie dahinspazieren sah am Fluss, aber der Frühling schien nahe, und Max sagte zu Milan: „Es ist schön hier, am Fluss mit dem Blick auf die Berge, im Licht der stärker werdenden Sonne. Da will ich gar nicht an den Tod denken, obwohl ich schon Schach mit ihm spielte.“ „Ja“, sagte Milan daraufhin, „der Spaziergang hier am Fluss entlang lässt mich die Schwere vergessen, die das Leben haben kann, und ich will dieses Gefühl Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins nennen.“ Milan Kundera und Max von Sydow sind 1929 geboren, also kenne ich zumindest zwei Menschen, die 1929 geboren sind, und nicht irgendwelche Menschen, sondern Milan Kundera und Max von Sydow! Mehr Worte will ich über diese Begegnung gar nicht verlieren, denn es ist nicht originell, über Personen zu schreiben in dem Jahr, in dem sie neunzig Jahre alt werden, genauso wie es nicht originell ist, am Valentinstag über Karl Valentin oder rote Rosen zu schreiben.

Ich lief damals aufgeregt nachhause, um meinen Eltern von meiner Begegnung mit Milan Kundera und Max von Sydow zu erzählen, denn es war eine wichtige Begegnung für mich, weil ich nach dieser Begegnung beschloss, entweder Schriftsteller oder Schauspieler oder beides zu werden. Als ich nachhause kam, stand mein Vater mit roten Rosen vor meiner Mutter. Meine Mutter kokettierte damit, sie entgegenzunehmen und sagte zu meinem Vater: „Gestern habe ich dich mit einer anderen gesehen. Wer war denn das?“ „Das war meine ehemalige Zukünftige“, sagte mein Vater, und ich glaube, diese Worte hatte ihm der Valentin in den Mund gelegt.

Valentinstag ist vorbei (10x hören oder öfter)
Milan Kundera
Max von Sydow

Professor Bernd Dachluke, die Rage, die Rasche und die Frankophilie

Professor Dr. Bernd Dachluke, nach dem die heute bei Dachausbauten so beliebte Dachluke benannt ist, war zu seinen Lebzeiten ein bedeutender Architekt. Außerdem war er ein Förderer der deutschen Kultur und der deutschen Sprache.

Bernd Dachluke

In den Tagen, in denen unsere Geschichte spielt, war Professor Dachlukes Frau Beatrix hochschwanger. Er dozierte gerade an der Universität und hielt einen Vortrag über das Hochhausprojekt, an dem er arbeitete. Er sagte, das geplante Hochhaus werde eine Rage von über hundert Metern haben. Da unterbrach ihn ein Student und stellte ihm zwei Fragen:

„Herr Professor: Haben Hochhäuser Emotionen, sodass sie in Rage kommen können? Wenn ja, kann man diese Emotionen tatsächlich in Metern ausdrücken, wie in ihrem Fall, eine Rage von über hundert Metern?“

„Ich spreche nicht von der Rage, Sie frankophiler Mensch! Die schreibt man zwar gleich, spricht sie aber anders aus“, antwortete der Professor, „nein, ich spreche vom architektonischen Begriff Rage, mit der das Hochhaus von der Erde in den Himmel ragen wird. Es wird der überragende Baukörper in dieser Stadt werden! Ach, was sage ich in dieser Stadt: in diesem Gau, in diesem Land!“

In diesem Moment betrat eine Sekretärin den Vortragssaal und bedeutete dem Professor mit ihren Blicken, dass er sofort kommen solle. Professor Dachluke wusste augenblicklich, was das zu bedeuten hatte, und es platzte aus ihm heraus: „Oh, zu meiner Beatrix kommt der Storch! Ich bin in Rasche!“

Da meldete sich der Student von eben wieder und sagte: „Herr Professor, ich bin verwirrt: Zuerst das emotionale Hochhaus, dem Sie seine Rage nicht zugestehen – und nun sind Sie selbst in Rage.“

Ach, hören Sie auf mit Ihren Wortklaubereien, junger Mann. Sie sind wohl ein Franzose, dem man das Deutschsein noch beibringen muss. Ich bin in Rasche! Es eilt! Ich muss sofort ins Krankenhaus!“ Und mit diesen Worten stürmte Professor Dachluke aus dem Saal.

Auf dem Weg ins Krankenhaus dachte er:
Also – wenn meine Frau Beatrix dieses Kind auf die Welt bringt, wird es sehr deutsch erzogen! Denn die deutsche Kultur muss gepflegt werden! Das habe ich gerade an meinen Studenten festgestellt, die zu stark den frankophilen Einflüssen unterliegen. Das soll bei meinem Kind nicht passieren!
Wie ich diese deutsche Erziehung am besten bewerkstellige, das werde ich mir in aller Ruhe beim Angeln überlegen: Petri Heil!

Künstlerische Reaktion auf Bernd Dachlukes Hochhaus, das tatsächlich gebaut wurde:

Licht im Winter

Licht im Winter heißt ein Film von Ingmar Bergman, den ich mir immer wieder ansehe. Er ist großartig gemacht und gespielt und erinnert mich auf fatale und komische Weise an meine Kindheit (siehe das Kind in den ersten zwölf Minuten des Films). Es geht im Film um einen Pastor in der Sinnkrise. Gott schweigt, sagt er. Doch nicht Gott schweigt, sondern die Menschen schweigen. Winter in der mittelschwedischen Provinz, alles ist voller Eis und Schnee. Auch die Herzen der Menschen. Sie sind unfähig, miteinander in Beziehung zu kommen, miteinander zu kommunizieren.

Der Winter ist die Zeit des Rückzugs. Alles Lebende verkriecht sich, um zu ruhen. Bis zum zweiten Februar, dem Tag, der Lichtmess genannt wird. Das bäuerliche Jahr beginnt. Die Tage sind schon spürbar lichter als an Weihnachten, eine Ahnung vom Frühjahr kommt auf. Langsam erwacht die Natur.

Zwei Minuten vor Ende des Films Licht im Winter sinkt Märta Lundberg in die Knie, senkt den Kopf, und wir hören ihre Gedanken:

Wenn wir uns nur sicher fühlen könnten und uns getrauten, zueinander zärtlich zu sein! Wenn wir nur eine Wahrheit hätten, an die wir glaubten! Wenn wir nur glauben könnten!

Dann schwenkt die Kamera zum Pastor, der den Kopf ebenfalls gesenkt hält. Er scheint überrascht von der Botschaft und erwacht aus seiner Lethargie. Kurz darauf wird Märtas Gesicht in strahlendes Licht getaucht. Da ist es, das Licht. Das Licht nach einem langen Winter!

Im schwedischen Original heißt der Film Nattvardsgästerna, was soviel bedeutet wie Die Kommunikanten. Auf ihr Kommunikanten, auf ins Licht, nach dem langen Winter! Öffnet eure Herzen und kommuniziert!

Nattvardsgästerna (OmeU)

Kronendorne

Ich rede zu viel von meinem Gefängnis, sagt Vorderbrandner, so werde ich ihm nie entkommen. Ich halte mich an ihm fest. Der Kopf will Neues, das Herz hält an Altem fest, auch wenn es daran zugrunde geht. Ich sehe die Gefängnisse anderer, weil ich selbst in einem bin. Nur weil ich selbst in einem bin. Nur wer im Gefängnis ist, sehnt sich danach, frei zu sein. Wer nicht im Gefängnis ist, weiß gar nicht, dass er frei ist. Er ist einfach frei, ohne es zu wissen. Warum sollte er es wissen wollen? Warum sollte er es wissen müssen?

Das Fatale: Ein gefangener Mann wie ich, sagt Vorderbrandner, verliebt sich nur in gefangene Frauen. Die Gefangenheit zieht mich magisch an, sagt Vorderbrandner. Je unfreier die Frau, desto mehr verfalle ich ihr. Je mehr bürgerliche Verklemmtheiten ich an ihr beobachte, desto mehr begehre ich sie. Desto mehr muss ich sie haben. Desto mehr träume ich von den lustvollen Gärten hinter diesen Verklemmtheiten. Aber diese Gärten sind zu fern, als dass ich sie jemals erreichen könnte. Weil ich sie nicht erreichen will. Weil ich mich in meinen eigenen Gärten verstecke und dabei verrückt werde bei meinem Kreisen um mich selbst.

Ich setze meine Kronendorne auf und höre ein Lied in meinem verklemmten Gefängnisgarten, als Ausdruck meiner unerfüllten Sehnsucht, als Ausdruck der Verklemmung, dem Gefängnis. Dieses Lied trägt meine Mischung aus Trauer, Zorn und Lust. Wenn ein Bild mehr aus tausend Worte sagt, sagt ein Lied mehr als zehntausend Worte:

Kronendorne

Oh oh  Oh oh  Oh oh  Oh oh

Du gehst mir durch Mark und Bein
Du gehst mir durch Mark und Bein
Du glaubst du bist ein Gemüse
Kommst niemals aus deinem Kühlschrank
Uuuh

G-G-G-Gurke
K-K-K-Kraut
B-B-B-Blumenkohl
Menschen auf dem Mars
Aprilregen
Oh oh  Oh oh

Du bist eine sterbende Rasse
Du bist eine sterbende Rasse
Einst warst du ein Inka
Jetzt bist du ein Cherokee
Uuuh

G-G-G-Gurke
K-K-K-Kraut
B-B-B-Blumenkohl
Menschen auf dem Mars
Aprilregen

Schlag zu! Schlag zu!

Au Huh Au Huh Au Huh Au Huh

Wart auf mich am blauen Horizont
Blauer Horizont für jeden
Warte auf mich an einem neuen Horizont
Neue Horizonte für jeden

Einmal will ich eins mit dir sein
Einmal will ich eins mit dir sein
uh uh uh uh uh

A-ah A-ah A-ah A-ah

Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Innen außen   zurück nach vor
oben unten   einmal rundherum
herum herum herum

Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Ich hab entschieden,
meine Kronendorne zu tragen
Oben unten   innen außen
zurück nach vor   einmal rundherum

Nach unten  nach unten  nach unten  nach unten
Untenuntenuntenuntenuntenuntenuntenunten
Untenuntenuntenuntenuntenuntenuntenunten

Huuuhh

Dann nehme ich meine Kronendorne wieder ab. Ich kehre zu mir zurück, sagt Vorderbrandner, und mache mich daran, meine Freiheit zu erobern, abseits der verklemmten Schönheit. Schluss mit der fatalen Schwärmerei! Raus aus dem Gefängnisgarten! ICH BIN FREI, ALLES IST MÖGLICH!

Reiner Felix und die Erfindung des Referats

Es war einmal ein Mann, der hieß Reiner Felix. Sein älterer Bruder Heiner Felix, den alle Hefe nannten, nannte Reiner Felix Refe. Reiner und Heiner Felix hatten noch einen jüngeren Bruder namens Kleiner Felix, aber das nur nebenbei.

Reiner Felix stand oft an der Straße. Es war wie ein Hobby für ihn. Als er eines Tages wieder an der Straße stand, kam jemand vorbei und sagte: Ich möchte über die Straße gehen. Reiner Felix antwortete: Dann gehst du über die Straße! Kurz darauf kam jemand anderer vorbei und sagte: Ich möchte nicht über die Straße gehen. Reiner Felix antwortete: Dann gehst du nicht über die Straße! Reiner Felix hatte Spaß daran, den Leuten zu sagen, was sie tun sollen. Es gewöhnte es sich an, allen, die vorbeikamen, einen Rat zu geben.

Es kam auch der Lehrer vorbei, den alle Quälix nannten. Lehrer Quälix sah, wie Reiner Felix allen, die vorbeikamen, einen Rat gab. Toll, dachte sich Lehrer Quälix, wie der allen einen Rat gibt! Er ging zu Reiner Felix und fragte ihn, was für einen Rat er denn den meisten Leute gebe.
Den meisten sage ich, dass sie über die Straße gehen sollen oder dass sie nicht über die Straße gehen sollen, sagte Reiner Felix.
Toll! sagte Lehrer Quälix und meinte weiter: Könnten Sie mit mir in die Schule kommen und den Rat auch meinen Schülern geben?

Irritiert ging Reiner Felix mit Lehrer Quälix in die Schule. Dort stellte sich Lehrer Quälix vor die Klasse und sagte: Dieser Mann wird uns nun etwas sagen über das Überdiestraßegehen. Ach, guter Mann, wie heißen sie eigentlich? wandte er sich an Reiner Felix.
Reiner Felix, aber mein Bruder Heiner Felix, den alle Hefe nennen, nennt mich Refe.
Die Schüler lachten.
Lehrer Quälix unterband das Lachen, indem er laut zu Reiner Felix sagte: Gut, Refe, leg los!

Reiner Felix räusperte sich kurz, dann stieg er in seinen Vortrag ein:

Über das Überdiestraßegehen

Beim Überdiestraßegehen gibt es folgende Möglichkeiten: Entweder man geht über die Straße oder man geht nicht über die Straße. Man kann jedoch auch sowohl über die Straße gehen als auch nicht über die Straße gehen, indem man zunächst über die Straße geht, dann jedoch, wenn man auf der anderen Seite der Straße angelangt ist, nicht mehr über die Straße geht.

Danke Reiner Felix, danke Refe, danke! sagte Lehrer Quälix und applaudierte. Dann wandte er sich an die Schüler: Liebe Schüler, dieser Vortrag von Reiner Felix soll ein Vorbild für euch sein. Den Rat, den er uns darin gibt, will ich künftig auch in euren Vorträgen sehen!

Die Schüler hatten sich lediglich gemerkt, dass Reiner Felix von seinem Bruder Heiner Refe genannt wird, und nannten fortan die Vorträge, die sie bei Lehrer Quälix halten mussten Referat, also Rat nach Reiner Felix.

Reiner Felix (gespielt von Georg Stürzer) beim Referat

…Meine Zeit mit Liliane

Ich habe Liliane seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich habe nichts von ihr gehört. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Laut Wikipedia tut sie es: Liliane Kampermann ist eine deutsche Künstlerin, die in München sowie weltweit lebt und arbeitet. Vor diesen Jahren, in denen wir uns nun nicht mehr gesehen haben, haben wir uns jahrelang in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen gesehen. Ich versuche, meine Begegnungen mit Liliane über die Zeiträume zu strukturieren, aber es gelingt mir nicht. Denn wenn wir uns trafen, schien die Zeit keine Rolle zu spielen. Sie verging einfach, ohne dass wir es merkten. Wir waren eingebettet in das, was nie war und was nie sein wird, sondern einfach ist: in die Gegenwart.

Ich habe als Kind Nacktheit als etwas Verbotenes erlebt, das mit starker Scham belegt ist. Das hat dazu geführt, dass ich mich bevorzugt in Frauen verliebe, die sich nackt zeigen. Ohne jede Kleidung. Ohne jeden Schmuck. Ein nackter Frauenleib ist für mich die Offenbarung des Glücks, der Zugang ins verbotene Paradies. Liliane und ich waren nackt, als wir uns das erste Mal sahen. Und sie zeigte sich: Sie stieg vor meinen Augen nackt ins warme Wasser, lud mich mit ihren Blicken ein, ihr zu folgen. Das Paradies öffnete seine Türen. Als unser nackter Abend endete, schloss sich das Paradies. Wir zogen uns an. Aber mich zog es hin in dieses Paradies, das fortan Liliane hieß. Wir trafen uns zu unseren zeitlosen Treffen, wir redeten und redeten, im Nachhinein glaube ich, Liliane redete mehr als ich, während ich sie betrachtete: ihren Mund, wenn sie redete; ihre Augen, wenn sie schaute. Bei diesen Anblicken träumte ich vom Paradies, das sich als kuscheliges Liebesnest mit uns beiden darin darstellte.

Es ist ein sehr warmer Frühlingstag im März. Die Sonne scheint schon ungewöhnlich stark durch die noch blattlosen Äste der Bäume. Liliane und ich sind im Paradies. Wir streunen über die Wiesen, auf der die Frühlingsblumen blühen. Ein Pärchen springt bereits voller Übermut ins kalte Wasser. Ich sehe Liliane und mich in diesem Pärchen und träume schon wieder vom Paradies. Wir setzen uns ins Gras und reden. Sind wir, oder belehren wir uns? Bin ich, oder beobachte ich sie? Die Worte, die wir reden, bauen sich auf wie eine Blockade. Die Worte werden viel zu viele, und ich lege mich hin, um ihnen zu entfliehen, aber auch als ich liege, fällt mir nichts anderes ein als Worte, Worte, Worte, und ich sehe Liliane und denke mir: Sie ist schön, schön, schön, und ich denke: Gibt es eigentlich einen idealen Zeitpunkt, um sich zu küssen? Oder passiert das einfach im Paradies? Ich ringe um das Paradies in meinem Kopf und sage: Ich sehe Frauen als viel zu hohe Wesen. Ich kann kein normales Verhältnis zu ihnen aufbauen. Durch dich, Liliane, lerne ich, dass ich, um mit einer Frau zu sein, ein Mann sein muss. Noch während diese Worte meinen Mund verlassen, fühlen sie sich komisch an, schal, unwahr, bauen sich auf wie eine trennende Wand zwischen uns, und mir fallen alle unsere Gespräche ein, deren Worte sich wie ein Schleier über Nachmittage und Nächte legen, den wir nicht zu durchdringen vermögen. Ich ringe weiter um das Paradies, aber mit Worten, das ist die Illusion, der ich erliege, dass ich mit Worten das Paradies herbeireden kann, ohne etwas dafür zu tun, und ich sage also: Liliane – ich will ehrlich sein zu mir, ich will ehrlich sein zu dir, deshalb sage ich dir jetzt, dass ich dich spüren will, dass ich dich küssen und berühren will. Für einen Moment sehe ich, wie sich Lilianes Lippen öffnen, so als will sie mir sagen: Dann tu es doch! Doch dann sehe ich in ihren Augen all die Worte unserer Gespräche, die uns trennen. Ich sehe in ihnen die Trauer über Oleg, den Zorn über ihren Vater, die Bitterkeit über die Männer. Ich sehe, dass sie das alles voll in Beschlag nimmt und verhindert, dass wir uns nahe kommen. Kein Platz für mich in Lilianes Welt. Oder haben wir uns für einen kurzen Moment gefunden, um uns gegenseitig unsere Trauer zu zeigen darüber, wo wir herkommen? Sind wir jetzt soweit, hinzuschauen? Sind wir jetzt am Grund des tiefen Sees, wo sich die Wahrheit ruhig verrät?

Liliane stand auf und lief davon. Ich blieb im Gras liegen und schaute zum Himmel. Ja, ich mag die Natur, weil sie keine Meinung hat. Sie ist einfach. Jahre vergehen, so wie die mit Liliane. Eines bleibt: die Gegenwart. Und mit ihr die Chance, frei zu sein. Denn der verdient sich seine Freiheit, der täglich sie erobern muss. Ich ziehe mich aus und springe in das kalte und klare Wasser.

…Untermann…

Die Nächte voll quälender Unruhe. Jede Nacht der Fall ins Bodenlose. Oleg surft davon auf dem wilden Wasser, während ich in die schwarzen Fluten des Atlantiks stürze. Schweißgebadetes Aufwachen vor dem vermeintlichen Ertrinken.

Ich hatte mich aufgerappelt, aber ich stand in der Ecke wie ein Mauerblümchen. Völlig geschafft von diesen geträumten nächtlichen Abstürzen. Ich war kurz davor zu gehen. Da spürte ich die bewundernden Blicke von Jannick auf mir. Kokett blickte ich zu ihm auf. Wie schön, bewundert zu werden! Er näherte sich mir. Nein, komm mir nicht nahe! Nein, lass mich in Ruhe! – Doch! Komm her! Komm her! Ich lächelte ihn an. Er kam zu mir, ganz nah zu mir. Er gefiel mir. Mein Gott, er war jung! Noch keine zwanzig, oder gerade mal so. Jannick redete, aber ich nahm das nur undeutlich wahr. Ich wollte nur, dass er mich erlöst. Ja, Jannick, sei mein Erlöser!

Als er mich am nächsten Morgen verließ, war sein Rücken voller Kratzer, so fest hatte ich mich an ihn gekrallt. Ich hielt mich fest an ihm. Ja, durch Jannick würde dieses Fallen ins Bodenlose aufhören, dieses allnächtliche Ertrinken im Strudel meiner Gefühle. Wir trafen uns wieder und wieder und wieder. Jannick wurde mein neuer Oleg. Nein, Jannick ist nicht mein neuer Oleg! Bei Oleg taumelte ich. Bei Jannick stehe ich fest. Bei Jannick habe ich die Kontrolle. Ich habe die Reife. Ich habe das Geld. Ich habe die Macht. Er hat den Schwanz, über den ich herrsche.

Aber da ist die Geschichte mit Emil. Emil spricht von seiner Übermutter und davon, dass er ihretwegen kein normales Verhältnis zu Frauen aufbauen könne. Ich kann mit dem, was er sagt, nichts anfangen. Ich bin doch eine Frau, und er redet ganz normal mit mir, die ganzen Jahre, die wir uns mittlerweile schon kennen. Er verwirrt mich. Ich fühle mich bedroht. Er ist nämlich ein Mann. Ein gefährlicher Mann!

Mit Emil, das hat so angefangen: Ich fühlte mich sehr entspannt an jenem Abend. Ich war in die Sauna gegangen. Da saßen wir auf unseren Handtüchern und schwitzten, nur er und ich in der Kabine, und lächelten uns an. In der Dusche, im Ruheraum, im Gang: Unsere Blicke trafen sich immer wieder. Schließlich stieg ich wie eine Meerjungfrau vor ihm ins Warmwasserbecken und räkelte mich darin. Er kam zu mir, und ich sprach ihn an.
Künstlerin? fragte er.
Ja! sagte ich.
Künstler sind verlorene Seelen, sagte er. Wir sind zwei verlorene Seelen, die im Wasser schweben.
Wir zwei schwebten im Wasser. Freiheit! Er sagte, er werde nun ins Dampfbad gehen, und ich sagte: Ich auch! Im Dampfbad räkelte ich mich auf den Fliesen. Als ich das Dampfbad verlies, wurde mir klar, dass ich rausmuss aus dieser Nummer. Er aber passte mich in der Umkleide ab und fragte, ob wir nicht noch gemeinsam ins Café gehen nebenan. Ich zierte mich. Wir schlenderten vor die Tür. Er reizte mich. Mit seiner gelassenen Beharrlichkeit. Schließlich willigte ich ein. Ich kann mir diese Einwilligung nur so erklären: Wir waren jetzt angezogen. Die Nummer war nicht mehr so heiß wie in der Sauna, als wir beide nackt waren.

Ich merkte, wie er mich verliebt ansah, als wir am Tisch saßen. Ich merkte, wie toll er es fand, dass ich Künstlerin bin. Zwei verlorene Seelen, die sich gefunden haben. Mitten in seine Euphorie hinein erwähnte ich Jannick. Ich schob Jannick als Riegel zwischen uns. Jannick als Stoppschild gegenüber anderen Männern. Die meisten von ihnen ziehen sich dann zurück, wenn sie merken, dass nichts geht. Emil aber zog sich nicht zurück. Zwar meldete er sich wochenlang nicht. Dann aber plötzlich und unerwartet. Ich merkte, wie ich mich freute, dass er sich meldete. Wir trafen uns immer wieder, im Abstand von Wochen, manchmal im Abstand von Monaten. Halbe Nächte lang saßen wir beisammen und redeten und redeten. Er sagte, es wäre doch gut, dass wir beide einen Partner hätten, so wäre das ganze unbefangener, und ich versuchte ihm zu glauben, aber ich glaubte ihm nicht. Ich vermisste etwas bei unserem Gerede, eine Berührung, einen Kuss, aber gleichzeitig fürchtete ich mich davor, vor einer Berührung, vor einem Kuss. Ich hatte das Gefühl, eine Berührung, ein Kuss, könnte meine ganze Welt ins Wanken bringen.

An einem schönen Frühlingstag verabredeten wir uns im Park. Ich trug ein tiefes Dekolleté. Das wurde mir erst bewusst, als wir uns gegenüberstanden und er es betrachtete. Was will ich eigentlich von ihm? Was will er von mir? Wir setzten uns ins Gras. Dann streckte er sich und legte sich hin.
Leg dich doch auch hin! sagte er.
Nein, nein! sagte ich: Ich bleibe lieber sitzen!
Viel zu gefährlich, dachte ich, sich neben ihm ins Gras zu legen. Viel zu gefährlich mit ihm, alles, sowieso, dachte ich plötzlich. Wie hatte ich ihn nur so anmachen können damals in der Sauna!

Er lag im Gras und redete von den Blumen neben uns und dem Himmel über uns und plötzlich ertappte ich mich dabei, dass ich mich neben ihn ins Gras gelegt hatte.
Er schaute zum Himmel und sagte: Vera und ich haben uns getrennt. Ich will mein Leben endlich in meine eigenen Hände nehmen, und ich habe das Gefühl, dass ich das mit ihr nicht schaffe. Dann schaute er mich an und meinte: Durch dich, Liliane, habe ich gemerkt, dass ich, wenn ich eine Frau will, erst ein Mann sein muss.

Ich schreckte hoch. Jetzt brachen die Dämme, und die schwarzen Fluten über mich herein. Er redete weiter: Der erste Schritt in mein neues Leben ist, ehrlicher zu sein. Ehrlicher zu mir selbst. Ehrlicher zu anderen. Und deshalb, Liliane, sage ich dir jetzt, was ich gerade denke. Deshalb sage ich dir jetzt, dass ich dich berühren, dass ich dich küssen will.

Nein! Nein! Jetzt ging er zu weit! Was erlaubt er sich? Warum berührt und küsst er mich nicht einfach? Was labert er da herum? Männer sind Alphatiere, die sich nehmen was sie wollen und reden nicht davon. Nein! Nein! Ich will nicht, dass er mich berührt und küsst! Die schwarzen Fluten stürzten auf mich ein. Ich begann zu zittern. Oleg! Oleg! rief alles in mir. Ich liebe dich doch noch immer! Vater, du Schuft, so hilf mir doch! Jannick! Ja, Jannick, ich muss zu dir! Rette mich! Ich stand auf und rannte weg, ich rannte so schnell ich konnte. Die Wiese so grün und der Himmel so blau, doch um mich herum nur schwarze Fluten. Ein Schluchzen in mir, dass die ganze Umgebung erfasste und alles fortriss und ich konnte nicht anders und weinte und weinte und weinte…

…Unterfrau…

Nach dem Erlebnis im Sommer, als ich dreizehn war, begann ich, meinen Körper hinter weiten T-Shirts und pludrigen Pullovern zu verstecken. Nicht begehrenswert, nicht begehrenswert. Keiner der Männer sollte mir zu nahe kommen und mich enttäuschen. Ein Mauerblümchen war ich, ein scheues, sensibles Seelchen. Das sagten die Leute.

Ich vergrub mich in Bücher, bis ich eines Tages las: Ein bildender Künstler ist jemand, der durch sein Werk Eindruck macht, nicht durch sich selbst. Das faszinierte mich. Mit seinem Werk Eindruck machen und selbst unsichtbar bleiben. Ich studierte Kunst, und dann arbeitete und arbeitete ich: Graphik und Design für die Werbung. Ich arbeitete tagelang, nächtelang, Projekt über Projekt. Eindruck machen mit dem was ich mache. Wahrscheinlich hätte ich mich zu Tode gearbeitet, wäre nicht Oleg in mein Leben gekommen. Oleg interessierte sich für mich. Ich war irritiert. Mein Werk, nicht ich, sollte Eindruck machen. Ich wehrte mich gegen seine Avancen. Er würde sich schon verziehen. Aber er verzog sich nicht. Er ließ nicht locker. Bis ich mich fangen ließ. Er zog mir meinen pludrigen Pullover und mein weites T-Shirt aus. Heftig pochte mein Herz, als ich nackt vor ihm stand. Jede seiner Berührungen ließ meinen Körper explodieren. Ich wurde feucht wie ich es noch nie gewesen war. Seine Stöße brachten mich in Ekstase. Begehrt! Begehrt! Ich wurde begehrt!

Durch Oleg war ich in einen Kreislauf gekommen, aus dem es kein Entrinnen gab. Er begehrte mich. Ich ließ mich begehren. Ich wurde süchtig nach Oleg, er war mein Übermann.

Mitten in diesem Begehren geschah etwas Unvorhergesehenes: Mein Vater starb. Nicht ganz so klischeehaft, wie man es vermuten würde, nämlich beim Sex mit einer jungen Geliebten, aber fast: Er war in Begleitung einer wesentlich jüngeren Dame – zwei Jahre jünger als ich, wie sich später herausstellte – als er zusammenbrach und nicht mehr wiederbelebt werden konnte. Ein Schock. So wie damals, als ich dreizehn war. Der Mann der Männer: tot. Meine Mutter: ein Häufchen Elend, Trost suchend bei ihrer jüngsten Tochter – mir.

Materiell gesehen war ich plötzlich reich geworden: Mein Vater hatte ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Insgesamt gesehen war es eine Misere: Das unerträgliche Gejammer meiner Mutter. Ohne meinen Vater geriet das Gefüge aus den Fugen.
Oleg sagte: Lass uns abhauen! Du hast doch jetzt Geld!
Wohin denn?
Nach Biarritz. Ich mach den Surflehrer und du widmest dich deiner Kunst.
Ohne etwas zu sagen, sagte ich mit meinen Blicken: Ja Oleg, gehen wir nach Biarritz! Für dich mache ich alles! Du bist alles was ich habe! Du darfst mich nur nicht verlassen! Versprich mir das!

In Biarritz hatte Oleg das Surfen und ich die Kunst. Alles schien gut. Aber ich bekam Angst. Angst, Oleg zu verlieren. Eines Abends – ich wusste, Oleg würde gleich nachhause kommen – stellte ich mich im sanften Abendlicht splitternackt ans Fenster, wie eine Skulptur. Ich machte mich selbst zum Kunstwerk. Oleg kam zur Tür herein und sah mich erstaunt an. Ich spürte meine Verletzlichkeit. Ich musste mein Kunstwerk retten und sagte: Oleg, bitte berühre mich und sag mir, dass ich eine schöne Frau bin!
Sei nicht lächerlich, Liliane! sagte er: Ich habe Hunger, und ging zum Kühlschrank.
Ein Schock! War ich ihm nicht mehr schön genug? War es mein Schicksal, von Männern nicht begehrt zu werden?

In den nächsten Tagen folgte ich Oleg heimlich in die Surfschule. Ich sah, wie er mit anderen Frauen flirtete. Ich stellte ihn zur Rede. Er meinte, ich solle ihn nicht mit meiner kranken Eifersucht belästigen, er würde doch wohl mit anderen Frauen reden dürfen. Ich bat ihn auf Knien, mich zu lieben. Er aber verließ mich.

Was sollte ich alleine in Biarritz? Oleg war der einzige, den ich kannte. Außer ihm gab es hier niemanden für mich. Außer ihm würde es niemanden geben. Ich setzte mich ins Auto und ließ Biarritz hinter mir.

L’amour en fuite. Liebe auf der Flucht. Ich hörte diesen lächerlichen Chanson von Alain Souchon. Ich hörte ihn immer wieder. Ein darstellender Künstler stellt sich selbst dar. Wie schrecklich! Wie abscheulich! Wie verletzlich! Ça coule sur ma joue. Tränen fließen über meine Wange. Ich fuhr und fuhr. Ich schleppte mich nach München. Meine Mutter empfing mich mit offenen Armen. Sie berührte und küsste mich wie damals, im Sommer, als ich dreizehn war. Wie ein kleines, schutzbedürftiges Mädchen. Mittlerweile war ich aber über dreißig Jahre alt…

…Übervater…

Er saß mir gegenüber und sprach von seiner Übermutter, und davon, dass er ihretwegen kein normales Verhältnis zu Frauen aufbauen könne. Ich konnte mit dem, was er sagte, nichts anfangen. Ich bin doch eine Frau, und er redete ganz normal mit mir. Sicher, ich hatte ihm bereits signalisiert, dass er mir nicht zu nahe kommen soll: Ich hatte meine Gründe. Aber das wird doch nicht bei jeder Frau so sein, die er trifft!

Er machte mich neugierig. Irgendetwas zog mich zu ihm hin. Er brachte mich zum Nachdenken: Übermutter? Ich konnte mit dem Begriff nichts anfangen. Meine Mutter war keine Übermutter. Sie war eine hilfsbedürftige Frau, die sich meinem Vater ausgeliefert hatte. Mein Vater war der Chef im Ring. Er hatte als Kind den Bombenhagel über Dresden überlebt. Allein deswegen war er schon eine Art Übermensch. Durch vielerlei Irrungen und Wirrungen kam er nach dem Krieg nach München. Schlug sich durch. Wurde Arzt. Die Autorität im weißen Kittel. Er ehelichte meine Mutter, was soviel bedeutete, dass er sie in Besitz nahm. Meine Mutter gebar ihm drei Mädchen: meine beiden älteren Schwestern und mich. Mein Vater war sehr stolz auf meine beiden älteren Schwestern. Er betrachtete sie wie zwei heranwachsende weibliche Trophäen. Ich war immer außen vor, zu groß war der Altersunterschied: Juliane ist acht, Adriane sechs Jahre älter als ich.

Im Sommer flogen meine Eltern mit uns dreien immer ans Meer, wo wir nackt badeten. Ich weiß noch genau den Moment in dem Sommer, als Juliane das letzte Mal mit uns kam. Sie war siebzehn und Adriane fünfzehn: Ich spielte gerade im Sand, als ich aufblickte. Mein Vater stand mit meinen beiden Schwestern nackt da. Er legte triumphierend die Hände um ihre Schultern. Anschließend fasste er Juliane an die Brust und sagte: Ja, das fühlt sich gut an! Wirst eine ordentliche Frau! Zu Adriane, deren Brüste er auch berührte, sagte er: Ja, auch bei dir ist das schon ganz ordentlich. Und außerdem hast du ja noch zwei Jahre mehr Zeit als deine Schwester. Meine Schwestern grinsten stolz. Wie eine verschworene Gemeinschaft standen sie da mit ihren nackten Körpern, die drei. Ich saß im Sand und verstand nichts. Ich merkte nur, dass bei mir noch nichts auf der Brust war, das mein Vater gerne angefasst hätte, und fühlte mich schlecht. Von diesem Zeitpunkt an konnte ich es kaum erwarten, dass mir Brüste wachsen.

Vier Jahre später: Ich war dreizehn und nur mit meinen Eltern – ohne meine beiden Schwestern – im Strandurlaub. Meine Brüste hatten sich bereits ansehnlich entwickelt. Stolz ging ich im Sand herum und hoffte, dass mein Vater nun endlich auch meine Brüste berührt. Mir wurde ganz schwindelig bei dem Gedanken, ich konnte es kaum erwarten. Dann, eines Abends, lag ich im Bett und konnte nicht schlafen. Ich wünschte mir, dass mein Vater kommt und mich berührt. Mir war heiß. Ich stand auf und wollte auf die Terrasse unseres Bungalows gehen, wo meine Eltern noch saßen. Als ich den Flur betrat, hörte ich sie reden. Leise schlich ich zur Ecke, wo sie mich nicht sehen konnten, und belauschte ihr Gespräch.

Wolfgang, sagte meine Mutter, ich habe nur eine Bitte an dich: Lass unsere Kleine in Ruh! Ich merke, wie fixiert du schon wieder auf sie bist. Aber ich werde das nicht dulden! Sie soll ohne dein Gegrapsche eine Frau werden!

Ach was, sagte mein Vater: Als ob das schaden würde! Sind Juliane und Adriane wegen meinem Gegrapsche, wie du es nennst, schlechte Menschen? Im Gegenteil: Sie sind selbstbewusste junge Frauen!

Du weißt, wie mir die Kleine am Herzen liegt! Ich habe sie mir so gewünscht! Bei den beiden Großen habe ich dir freie Hand gelassen. Aber sie, sie gehört mir! Lass die Finger von ihr! Ich dulde alle deine Frauengeschichten. Aber wenn du auch nur einmal Liliane begrapschst, dann verlasse ich dich mit ihr!

Ich lief davon, sprang ins Bett, zog mir die Decke über den Kopf und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich heulte und heulte, ohne Ende. Eine Welt brach zusammen. Mein Vater würde mich nicht berühren. Mein Vater berührte meine älteren Schwestern. Mein Vater berührte andere Frauen. Nur mich und meine Mutter nicht. Ich war verzweifelt. Ich hatte das Gefühl, meinen Vater verloren zu haben. An meine beiden älteren Schwestern. An alle Frauen dieser Welt.

Meine Mutter hatte mich heulen gehört. Sie kam zu mir ins Zimmer und schob die Decke von meinem Kopf: Was ist denn, meine Kleine? Hast du schlecht geträumt? Sie begann mich zu streicheln und zu küssen, aber ich wollte das nicht. Ich wollte Zärtlichkeiten von meinem Vater, aber nicht von meiner Mutter. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Wie sonst hätte ich dieser Situation entkommen sollen? Was hätte ich denn sagen sollen? Meine Mutter ließ nicht los von mir. Nachdem ich ihr mehrmals gesagt hatte, dass ich schlafen will, ging sie schließlich. Geschlafen habe ich die ganze Nacht nicht. Ich wäre am liebsten gestorben.

Am nächsten Tag, am Strand, hatte ich das Gefühl, den hässlichsten Körper aller Frauen zu haben. Ich vergrub ihn mitsamt meinem Kopf im Liegestuhl…

Übermutter…

Spricht man von der Übermutter, vergisst man gern den Untervater. Ich hatte beides: eine Übermutter und einen Untervater.

Ich wuchs im Elternhaus meiner Mutter auf. Es wurde vergrößert, damit wir alle Platz haben. Alle, das waren: die Eltern meiner Mutter, meine Mutter, mein Vater, meine ältere Schwester und schließlich auch ich. Als ich fünf war, starb mein Großvater an den Spätfolgen seiner Kriegsverletzungen. Blieb mein Vater als männliches Oberhaupt der Familie. Mein Vater, im Krieg geboren, der früh seinen eigenen Vater verloren hatte, war aufgewachsen mit dem Glaubenssatz: Maul halten und funktionieren. So hielt er das Maul und funktionierte. Und wurde mein Untervater. Die Männlichkeit machte Platz für das weibliche Dreigestirn: Großmutter, Mutter, Schwester. Meine Großmutter übernahm fortan die Macht, wurde unumstrittene Herrin des Hauses. Meine Schwester begab sich an die Seite der Macht, wurde ein Herz und eine Seele mit meiner Großmutter. Zwei der drei Frauen wurden also Überfrauen, die keine Nähe zuließen. Waren sie überhaupt Frauen für mich? Waren sie nicht eher seltsam entrückte Menschen, die im selben Haus mit mir wohnten?

Wohin also mit meinen Bedürfnissen als kleiner Junge? Zu meiner Mutter! In der gegebenen Konstellation umso mehr. Ich verlangte alles von meiner Mutter: Geborgenheit, Liebe, Glück. Nur bei ihr suchte ich, was ich brauchte. Sie wurde meiner Übermutter, ohne dass sie es wollte.

Ich schlug mir die Stirn blutig an der Tischkante. Mein Vater lief entsetzt davon. Vermeidung als Funktionsstrategie. Meine Mutter blieb und tröstete mich, versorgte mich und brachte mich ins Krankenhaus. Mein Vater rundete unterdessen alle Tischkanten im Haus, um zukünftiges entsetztes Davonlaufen zu vermeiden.

Als ich ein Teen wurde, wurde meine Schwester interessant. Ich fand es toll, wenn sie sich am See oben ohne sonnte und ich ihre Brüste sehen konnte. Ich habe diesen Anblick als sehr schön in Erinnerung. So schön also können Frauen sein! Als meine Mutter sie für das Oben-Ohne-Sonnen tadelte, wurde mir zum ersten Mal klar, dass ich, je älter ich wurde, nicht mehr alles Glück von meiner Mutter würde verlangen können. Beim Anblick der Brüste meiner Schwester bröckelte erstmals der Status meiner Mutter als Überfrau. Aber da war sie längst meine Überfrau geworden. Es war für mich nicht vorstellbar, in meinem Leben einen anderen Glücksbringer zu finden als meine Mutter. Meine Verzweiflung darüber wurde sehr groß. Sie manifestierte sich unter anderem dadurch, dass Blumentöpfe gegen Fensterscheiben flogen.

Mein Untervater sammelte die Scherben ein, während meine Mutter instinktiv spürte, dass ihr Übermutter-Dasein in meinem Kopf ein Ende nehmen musste. Sie forderte psychologische Hilfe an. Diese psychologische Hilfe wiederum forderte meinen Vater auf, aus seiner Untervater-Welt aufzutauchen und mir so zu ermöglichen, ein Mann zu werden. Mein Vater bewies große Vaterliebe, denn er bemühte sich redlich. Doch sein Glaubenssatz Maul halten und funktionieren war so tief in ihm verwurzelt, dass er mir in unseren Vater-Sohn-Gesprächen vor allem vermittelte, dass Frauen die Macht haben und wir Männer uns dieser Macht zu unterwerfen haben. Ich wurde furchtbar wütend auf die Frauen, weil ich sie so sehr liebe und ihnen nicht dauerhaft unterlegen sein wollte. Die Frauen sollten fortan Erfüllung und Bedrohung zugleich für mich sein…