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Schorsch Dorsch

Bei Dorschs gibt es immer Fisch. Was naheliegend ist, aber ich finde es trotzdem komisch.

Wir sitzen an der Tafel bei Dorschs mit dem Fischbesteck in der Hand, als Fini Herrn und Frau Dorsch fragt: „Warum haben Sie Ihren Sohn eigentlich Schorsch genannt?“

„Weil meine Urgroßmutter Französin war“, sagt Frau Dorsch.

Fini und ich schauen uns fragend an, einig darin, dass diese Antwort für uns keinen Sinn ergibt. Frau Dorsch, als aufmerksame Beobachterin unserer nonverbalen Kommunikation, fügt eine Erklärung hinzu:

„Schorsch heißt eigentlich Georges, zu Ehren meiner Urgroßmutter, aber alle nennen ihn Schorsch. Schorsch ist halt die eingebayerte Form von Georges, entstanden wohl zur Napoleon-Zeit, als die Franzosen in Bayern herrschten.“

Fini und ich schauen zu Schorsch, der mit seiner Gabel lustlos am Dorsch auf seinem Teller herumstochert.

„Was wir heute essen, ist übrigens Franzosendorsch, ganz nach dem Geschmack von Schorsch“, sagt Frau Dorsch dann noch.

 

Auf der Suche nach der Realität

Lieber Georg,

seit über zweihundert Episoden bist du nunmehr ein treuer Begleiter meiner Schreibversuche. Du hast meine Texte auf den Kopf gestellt und wieder zurück auf die Füße, hast sie geschüttelt und gerüttelt und von allen Seiten betrachtet wie eine geliebte Frau. Heute möchte ich den Spieß umdrehen und mich mit dir befassen, und zwar mit der konkreten Frage, ob du mehr der Realität oder mehr der Fiktion zugeneigt bist.

Ausgangspunkt dieser Frage war eine Zugfahrt nach Ismaning, die mich an Daglfing vorbeiführte. Als der Zug in Daglfing hielt, fiel mir mein Text von letzter Woche ein, in dem ein gewisser Ger aus Dingolfing der Mann einer Trude aus Ring – entschuldige – einer Trude aus Trudering ist. In Daglfing wurde es mir klar wie eine Nacht voller Sterne: Ger ist nicht aus Dingolfing, sondern aus Daglfing, einem Nachbardorf Truderings. Wie sonst hätte er Trude kennenlernen können! Dingolfing ist doch viel zu weit entfernt von Trudering! Da habe ich ziemlichen Unsinn geschrieben letzte Woche, den ich hiermit korrigiere:

Gertrude aus Trudering
hatte einen Ring am Fing,
und Ger, ihr Mann aus Daglfing,
nannte ihn den Trudering,
den Ring an Trudes Fing.

Ich habe den Text also nun aus der Fiktion in die Realität geholt. Um mich endgültig von der Realität dieser Tatsachen zu überzeugen, fragte ich den Mann, der neben mir im Zug saß: „Kennen Sie Ger und Trude?“ und er sagte: „Nein, ich komm aus Buxtehude“, was ein gewisser Rückschlag in meiner Realitätsfindung war. Außerdem fiel mir ein, dass im Text von letzter Woche nicht nur Ger und Trude, sondern auch drei Brüder mit dem gleichen Vornamen Georg und den drei unterschiedlichen Nachnamen Stürz, Türze und Ürzer vorkommen. Da wurde mir klar, dass du auch die Realität dieser drei Brüder anzweifeln würdest. Eines ist klar: Diese drei Brüder sorgen für mächtig Unordnung in einer Gesellschaft, in der die überwiegende Mehrheit der Brüder unterschiedliche Vornamen und gleiche Nachnamen trägt. Wo kämen wir denn da hin, wenn alle Brüder gleiche Vornamen und unterschiedliche Nachnamen trügen! Da kennte man sich ja überhaupt nicht mehr aus in dieser Welt!

Zusätzlich führen zwei der drei Brüder sowohl mit Frauen als auch mit Männern intime Beziehungen. Diesen Satz muss ich wohl nicht nur gedacht, sondern ausgesprochen haben, denn plötzlich sagte der Mann, der mir im Zug gegenübersaß: „Aha, Schwuchteln also!“, stand wutentbrannt auf und verließ in Englschalking den Zug. „Nein nein“, sagte ich, „das sollte man etwas differenzierter sehen“, doch das hörte der wutentbrannte Mann nicht mehr, sondern nur der Mann neben mir aus Buxtehude. „Ja ja“, sagte ich zum Mann aus Buxtehude, „es ist nicht leicht für den dritten Bruder, der neulich mit aller Bestimmtheit und Zivilcourage zu seinen Brüdern sagte: Ich steh nur auf Muschis, und das ist gut so!“ In Zeiten der Me-Too-Debatte eine mutige Aussage, und ich hatte Glück, dass ich diese Aussage nur zitierte, denn sonst hätten sich sicher viele Frauen im Zug sexuell belästigt gefühlt.

Als ich in Ismaning aus dem Zug stieg, sah ich am Bahnsteig einen Mann, der mir bekannt vorkam. Ich fragte ihn: „Kennen wir uns?“ Er sagte: „Ich glaube nicht. Ich bin Ger aus Dingolfing.“ – „Dann habe ich Sie verwechselt“, sagte ich: „Ich kenne nämlich nur einen Ger aus Daglfing.“

Du siehst also, wie ich immer auf der Suche nach der Realität bin und das Fiktionale im Grunde verabscheue. Wenngleich sich die Realität in jeder Sekunde ändert und es nicht leicht ist, ihr zu folgen. Die Fiktion aus schwarz und weiß erscheint erträglicher und beständiger als die graue Realität. Wie sonst könnten weiße Männer der Fiktion erliegen, mehr wert zu sein als schwarze Männer und als Frauen jeglicher Couleur?

Ich hoffe, ich konnte dich von der Realität meines Textes überzeugen und kehre nun zu meiner Ausgangsfrage zurück: Bist du mehr der Realität oder mehr der Fiktion zugeneigt?

Bis bald, Dein Emil

Drei Brüder und der Ring am Fing

Es waren einst drei Brüder, die hießen mit Nachnamen Stürz, Türze und Ürzer. Als gemeinsamen Vornamen hatten sie Georg. In ihrer Kultur war es üblich, sich beim Vornamen anzusprechen. In ihrem speziellen Fall jedoch war man dazu übergegangen, sie beim Nachnamen anzusprechen.

Um ihre individuelle Entwicklung zu fördern, machten die Brüder oft unterschiedliche Dinge. So war Stürz nach Dingolfing gefahren, während Türze nach Aubing und Ürzer nach Trudering gefahren war. Als sie wieder zurückgekehrt waren von ihren Ausflügen, hatten Stürz und Türze nichts Besonderes zu berichten. Ürzer jedoch, vor allem weil er wusste, dass Stürz in Dingolfing gewesen war, berichtete von seinem Ausflug nach Trudering Folgendes:

Gertrude aus Trudering
hatte einen Ring am Fing,
und Ger, ihr Mann aus Dingolfing,
nannte ihn den Trudering,
den Ring an Trudes Fing.

Trudering

Abschied ist ein Schaf so schwer

Ich spielte mit meinen Kindern im Wohnzimmer, sagt Mitterbichler, da kamen meine Schwiegereltern noch einmal herein für den Moment, vor dem sie sich eigentlich drücken wollten: Gleich würden sie zum Bahnhof fahren und in einen Zug einsteigen, der sie nachhause nach Bremen bringt. Sie drückten ihre Enkel, meine Schwiegermutter sehr körperlich, mein Schwiegervater mehr in Gedanken. Meine Schwiegermutter meinte, es hätte schlimmer kommen können: Amerika, Australien, zum Beispiel. Da ist es doch ein Glück, dass es nur München geworden ist. München – Bremen, das ist doch eigentlich keine Entfernung in der heutigen Zeit. Und trotzdem: Abschied ist ein Schaf so schwer, sagte meine Schwiegermutter, um dem Schmerz mit Humor zu begegnen, sagt Mitterbichler.

Als sie das sagte – Abschied ist ein Schaf so schwer – kamen Erinnerungen in mir hoch, sagt Mitterbichler. Erinnerungen an Abende auf dem Sofa, als Kind, als im Fernsehen die ZDF-Hitparade lief mit Dieter-Thomas Heck und Roger Whittaker Abschied ist ein scharfes Schwert sang. Zu dieser Zeit starb mein Großvater, der Vater meiner Mutter, meint Mitterbichler daraufhin: Ich spürte die Traurigkeit zuhause im Wohnzimmer, wo die Familie versammelt war. Ich stellte mich auf einen Stuhl, als eine Art Bühne, und sang voller Inbrunst Abschied ist ein scharfes Schwert. Ich glaube, es war das erste eigene Konzert das ich gab, als damals Achtjähriger. Meine Mutter weinte hemmungslos, sagt Mitterbichler.

Später, als Student, trat ich mit meiner Band auf Festen und Bällen auf, wo wir Schlager interpretierten, um Geld zu verdienen. Bald kam mir die Idee, Abschied ist ein scharfes Schwert als Schlusslied bei diesen Festen und Bällen zu spielen. Wir probten das Lied. Unser Bassist und unser Schlagzeuger waren sehr gelangweilt wegen der Eintönigkeit ihrer Linien in diesem Lied. Ich versuchte dem zu begegnen, indem ich es mit dem Whittakerschen Akzent ziemlich übertrieb und hatte großen Spaß dabei. Oder war der Spaß nur so groß, weil so großer Ernst dahinter war? Zwischen Konsti, meiner ersten großen Liebe, und mir kriselte es damals nämlich gewaltig. Außerdem wollte sie nach Göttingen zum Studieren. Ein Abschied stand im Raum. Bei den Proben war ich deswegen einmal so durcheinander, dass ich statt scharfes Schwert Schaf so schwer sang. Abschied ist ein Schaf so schwer waren seitdem geflügelte Worte innerhalb der Band. Scheinbar auch in Bremen. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass meine geflügelten Worte von meiner Schwiegermutter zitiert wurden, sagt Mitterbichler.

Als wir für einen großen Ball engagiert wurden, beschlossen wir, das Lied zum ersten Mal vor Publikum zu spielen. Ich setzte mir eine große Brille auf, wie Roger Whittaker sie immer trug, und versuchte, seinen schmachtenden Akzent so gut wie möglich nachzuahmen. Konsti und Kathi waren als Backgroundsängerinnen dabei, obwohl Konsti und ich uns gerade getrennt hatten. Da flossen bei mir die Tränen hinter der dicken Brille, sagt Mitterbichler.

Meine Schwiegermutter drückte ihre Enkel noch einmal an sich, während mein Schwiegervater die Wohnung schon verlassen hatte. Es ist anzunehmen, dass er im Treppenhaus, wo er wartete, ein paar stille Tränen verdrückte, sagt Mitterbichler. Da war er also, der Moment des Abschieds. Opa Oma Bahnhof, sagte meine Tochter zu mir, als wir am Fenster standen und den beiden nachsahen und winkten. Als wir sie nicht mehr sahen, nahm ich meine Gitarre und gab ein kleines Konzert, wie in alten Zeiten:

Der Ball war nie mein Freund

eine Fußballgeschichte

Der Ball ist nicht mein Freund, und zwar deshalb, weil ich mich nicht aufrichtig um diese Freundschaft bemühe. Er klebt mir nicht am Fuß, weil ich nicht genug übe, dass er mir am Fuß klebt. Wie soll sich der Ball da daran gewöhnen, mir am Fuß zu kleben? Ich verlange zuviel vom Ball, ohne selbst etwas dafür zu tun. Das würde jede Freundschaft überfordern.

Um mich vom Ball abzulenken, betrete ich das Fußballfeld. Es kommt mir zunächst einmal sehr groß vor. Dann betreten meine Mitspieler das Fußballfeld. Es kommt mir immer noch sehr groß vor. Aber bevölkerter. Das gefällt mir.

Der Ball, da er nicht mein Freund ist, hat sich nicht zu mir, sondern zu einem meiner Mitspieler gesellt. Neidisch betrachte ich die Freundschaft der beiden. Wie soll ich mich nun, ohne dass der Ball mein Freund ist, ins Spiel einbringen? Ich beginne, auf dem Spielfeld herumzulaufen und hoffe, dass mein Mitspieler sich vom Ball, seinem Freund, trennen kann und ihn mir zuspielt. Ich laufe herum und biete mich hinten, vorne, links und rechts für ein Zuspiel an. Als ich den Ball zugespielt bekomme, schaue ich mich unverzüglich nach einem Mitspieler um, dem ich den Ball zuspielen kann. Denn ich will den Ball nicht zu lange behalten, um uns beide in unserer Nicht-Freundschaft nicht zu überfordern.

Als die Gegner auf das Spielfeld kommen, werden die Räume, in denen man den Ball bekommen und in die man ihn spielen kann, enger. Denn das ist das Ziel des Gegners: die Räume eng zu machen, um selber den Ball zu bekommen. Wobei es, auch im Profibereich, immer mehr Mannschaften gibt, die den Ball gar nicht haben wollen – ich vermute, weil keiner in der Mannschaft ein Freund des Balles ist. Anders kann ich es mir nicht erklären. Solche Mannschaften haben keine Freude am Spiel, sondern wollen den Ball irgendwie ins Tor bugsieren und hoffen danach, dass das Spiel schnell vorbei ist. Aber das nur nebenbei.

Unser Trainer hat uns eine Taktik verordnet, also uns gesagt, wie wir uns auf dem Spielfeld positionieren sollen, um die Räume gut zu besetzen; um bei eigenem Ballbesitz möglichst gut anspielbar zu sein und bei gegnerischem Ballbesitz den Ball möglichst schnell zu erobern. Die radikalste Taktik, die ich je erlebt habe, war, als unser Trainer sagte: „Heute spielen wir gegen eine schlechte Mannschaft. Wir spielen ohne Torwart, dafür mit einem Stürmer mehr. Wir gehen voll auf Offensive.“ Diese Taktik hat sich jedoch nicht bewährt, und wir spielen seitdem immer mit Torwart.

Das Problem bei der Taktik ist: Oft funktioniert sie nur unzureichend, weil erstens jeder in der Mannschaft die Aussagen des Trainers anders interpretiert. Ich zum Beispiel habe an manchen Tagen große Lust, Tore zu schießen, an anderen große Angst, Tore zu kassieren. Je nach Gefühlslage spiele ich also offensiver oder defensiver. Und zweitens ist der Gegner ständig darauf bedacht, die Umsetzung der eigenen Taktik zu verhindern. Fußball ist also ein komplexes soziales Gefüge von zweiundzwanzig Personen, die ständig ihre räumliche Zuordnung ändern, um den Erfolg der eigenen Mannschaft zu ermöglichen und den der anderen zu verhindern. Und dazwischen rollt und fliegt der Ball herum.

Zurück zu meinem zwiespältigen Verhältnis zum Ball und unserer verhinderten Freundschaft. Da er nicht mein Freund ist, konzentriere ich mich sehr auf den Gegner: Wo er herumläuft und welche Räume er zulässt. Ich konzentriere mich also auf die Räume, in die der Ball gespielt werden kann, um mich oder meine Mannschaftskameraden dem gegnerischen Tor anzunähern. Oft vergesse ich dabei – ich habe es bereits erwähnt – den Ball. Ich entferne mich immer mehr von ihm und es ist unwahrscheinlich, dass wir jemals noch Freunde werden.

Warum ich immer noch Fußball spiele? Weil ich ein sozialer Mensch bin und weiß, dass das Soziale auf dem Fußballfeld nur durch den Ball ermöglicht wird. Und weil ich insgeheim davon träume, dass der Ball und ich noch einmal dicke Freunde werden, ich mit ihm durch die sich öffnenden Räume gehe und ihn mit einem liebevollen Tritt ins Tor bugsiere.

Von Kombi-Nationen und einstürzenden Hauswänden

Es ist eine gewagte These, die Schweden als Kombi-Nation zu bezeichnen. Ich tue das nur, weil die Nachbarn meiner Eltern einen Volvo Kombi besaßen und im Film Szenen einer Ehe von Ingmar Bergman immer wieder ein gelber Volvo Kombi prominent im Bild ist. Volvo Kombis waren Kästen auf vier Rädern. Sicher wie eine Trutzburg und geräumig wie eine große Rumpelkammer. Als Kind träumte ich davon, einmal so einen Volvo Kombi zu besitzen. Aber selbst die Volvo Kombis sind heute nicht mehr eckig wie einst. Sie sind abgerundet und haben eine schräge Heckklappe, als wollten sie Sportwagen und Kombi in einem sein und sind doch nichts von beidem.

Während ich also versuche, meine gewagte These der Schweden als Kombi-Nation zu falsifizieren und mich von dem nostalgischen Gedanken abzulenken, einen eckigen Volvo Kombi zu erwerben, liege ich in meinem Bett und schaue Richtung Osten. Da es Morgen ist, liegt es nahe, dass ich durch meine Blickrichtung nach Osten in die Sonne blicke. Doch ich blicke nicht in die Sonne, sondern an die Wand. Selbst wenn ich es zu meinem Tagwerk machen würde, die Wand zu beseitigen, die meinen Blick nach Osten versperrt, würde ich nur an eine weitere Wand blicken. Außerdem würde ich – es ist zu vermuten – meine Nachbarn verärgern, indem ich die trennende Wand zwischen unseren Wohnungen beseitige. Und selbst wenn sich meine Nachbarn einverstanden zeigten, wären mindestens die Wände von zwei weiteren Häusern zu beseitigen für den freien Blick nach Osten in die tiefe Morgensonne. Zu den statischen Problemen, die sich aus diesen Einreißaktionen ergeben würden, kann ich mangels technischer Expertise an dieser Stelle nichts sagen. Insgesamt erscheint es jedoch nicht lohnend, die Wände einzureißen wie einst Themroc, nur um ein paar Strahlen der Morgensonne abzubekommen.

Doch zurück zu der Zeit, als die Schweden eckige Volvo Kombis besaßen und eine Kombi-Nation waren. Damals gab es auch Autos namens Hummer, die aussahen wie gefährliche kleine Panzer. Hummers werden heute nicht mehr gebaut, dafür aber viele andere Autos, die ebenfalls aussehen wie gefährliche kleine Panzer. Man nennt diese Autos SUVs – Sport Utility Vehicles. Das Wort Sport soll von der eigentlichen Bestimmung ablenken: Während man sich nämlich früher mit Sportwagen selbst zu Tode gefahren hat,

sehen SUVs so aus, als ob damit andere zu Tode gefahren werden sollen.

Viele dieser SUVs fahren in der Stadt herum, auf dem beengten Platz zwischen den Wänden der Häuser. Warum fahren die großen SUVs zwischen den Wänden der Häuser herum? Ich habe dazu folgende – gewagte – These: Die Fahrer der SUVs wollen mit ihren Autos nicht zwischen den Hauswänden fahren. Dies sind nur Erkundungsfahrten, um ihre eigentliche Aktion vorzubereiten: nämlich um gegen die Häuswände fahren, um diese einzureissen und um so ein paar Strahlen der tiefen Morgensonne abzubekommen, wenn sie morgens in ihren Betten erwachen. Mit Spannung und Furcht zugleich erwarte ich also nun den Tag, an dem die SUV-Fahrer mit ihrer Aktion beginnen.

Oder sollte ich diese These ebenfalls falsifizieren?

Vater und Sohn

ein Stück für zwei Personen

Vater (Mitte vierzig)
Sohn (elf Jahre alt)

Der Vater hält den Sohn in fester Umklammerung. Der Sohn schaut ihm über die Schulter, den Blick sehnsuchtsvoll in die Ferne gewandt, und will sich aus der Umklammerung befreien. Der Vater aber hält ihn stoisch fest, scheinbar liebevoll, aber doch auf eine subtile Art gewaltsam.

Vater: Mein Junge, mein Junge, mein lieber kleiner Junge!

Der Sohn entkommt der Umklammerung und wendet sich mit stolzer Brust vom Vater ab. Der Vater schaut den Sohn traurig von hinten an.

Vater: Ich habe alle Tischkanten abgeschrägt, damit du dir nicht mehr den Kopf an ihnen aufschlägst.

Sohn: Ich schlage mir den Kopf nicht mehr auf.

Der Sohn geht ein paar Schritte.

Vater: Wo gehst du hin?

Sohn: In den Garten.

Vater: In welchen Garten?

Sohn: In den Obstgarten.

Vater: Nein! Bitte nicht! Der Obstgarten liegt direkt neben der Straße. Wenn wieder ein Auto von der Straße abkommt, wird es dich zu Tode fahren.

Sohn: Die Autos kommen nicht von der Straße ab. Sie bleiben auf der Straße. Außerdem haben sie jetzt eine Leitplanke montiert, die ein Auto nicht mehr von der Straße abkommen lässt.

Vater: Ach, Leitplanke! Neulich wurde ein Auto von der Leitplanke ausgehoben und kopfüber in den Garten geworfen. Normalerweise wäre der Fahrer gestorben. Wie durch ein Wunder hat er überlebt. – Du warst nicht da, als dieser Unfall passierte.

Sohn: (genervt) Nein, ich war auf Landschulwoche. – Ich gehe jetzt in den Garten!

Vater: In den Obstgarten?

Sohn: Ja, in den Obstgarten!

Vater: Wieso musst du jetzt in den Obstgarten gehen? Es ist zu gefährlich!

Sohn: Ich will jetzt in den Obstgarten gehen! Ich will sehen, ob es schon rote Äpfel gibt.

Vater: Die Äpfel! Die Äpfel! Ich bin der Meinung, man sollte den Apfelbaum fällen. Es ist viel zu gefährlich, sich dort aufzuhalten, direkt neben der Straße, wo jederzeit ein Unfall passieren…

Sohn: (unterbricht den Vater) Es ist wunderschön im Schatten des Apfelbaums.

Vater: Immer diese Sturheit! Wenn ich etwas sage, sagst du genau das Gegenteil. Wieso hört mir eigentlich nie jemand zu?

Sohn: Ich will einfach nur in den Obstgarten gehen.

Vater: Es ist zu gefährlich! Lass dir das sagen! Ich weiß, was gefährlich ist. Ich weiß es noch genau, damals, als die Amerikaner Salzburg bombardierten…

Sohn: Was haben die Bomben auf Salzburg damit zu tun, dass ich in den Obstgarten gehen will? Immer entwickelst du aus Lappalien deine Horrorgeschichten! Hör endlich auf damit! Niemanden interessiert das!

Vater: Aber es war ein flammendes Inferno damals. Die Nacht war hellerleuchtet…

Sohn: (stürmt auf den Vater zu und schlägt auf ihn ein) Hör endlich auf mit dieser damit! Es interessiert mich nicht!

Der Vater holt mit der Hand aus, gefriert dann aber in seiner Bewegung und fängt zu weinen an.

Der Sohn geht in den Obstgarten, steigt auf die Leitplanke und lässt die Autos nah an sich vorbeirauschen.

Sohn: Frei! Ich bin frei!

Die Welt in schwarz und bunt

Da kommt mir also folgender Satz in den Sinn: Ich sehe eine rote Tür, aber sehen will ich sie schwarz, und ich weiß nicht, ob es bloß ein musikalisches Zitat ist oder ein ernstzunehmender Gedanke, denn es fühlt sich an wie eine Wahrheit.

Allmählich, ganz langsam und schleichend, übernimmt das musikalische Zitat die Macht über mich und ich entgleite mir und meinem Leben. Die Menschen auf der Straße sind nicht schön in meiner schwarzen Welt, im Gegenteil, sie öden mich an, speziell die Frauen, die ich speziell verachte, und nun, als ich mich so in meiner schwarzen Welt bewege, fällt mir Josefine ein, und ich verachte sie umso mehr, noch mehr als alle anderen, und ich kann nicht verstehen, wie ich jemals an unsere Beziehung glauben konnte.

Es fällt mir schwer, diese Geschichte nun weitererzählen, denn meine Welt wird immer schwärzer und man möchte meinen, dass es nicht mehr viel zu erzählen gibt. Doch als meine Welt am wohl schwärzesten Punkt angelangt ist, beschleicht mich plötzlich eine Ahnung, dass es auch eine andere Welt als die schwarze geben könnte. Diese Ahnung hat es schwer gegen meinen festen Glauben an die schwarze Welt, denn so schwarz die schwarze Welt auch ist, sie bietet mir Schutz gegenüber dieser anderen Welt die ich vermute, und ich vermute sie bunt und mein schwarzer Glaube malt lauter Gefahren in diese bunte Welt.

Nichtsdestotrotz – im Nachhinein ist es wie ein Wunder – entwickelt sich diese Ahnung von einer bunten Welt zu einer Neugier, die mich beschließen lässt, jeden Tag ein Stück der bunten Welt zu entdecken, bevor ich mich nachts wieder in die schwarze Welt zurückziehe, um mich auszuruhen von meinen Entdeckungen in der bunten Welt. Auf meinen täglichen Streifzügen gehe ich zunächst, um es mit den Farben nicht zu bunt zu treiben und mein schwarzes Gemüt nicht zu überfordern, über grüne Wiesen. Ich bestaune die Gräser an meinen Füßen. Bald getraue ich mich, zum Himmel hochzublicken und das Blau zu bestaunen, das ich bei diesem Hochblicken wahrnehme. Bei einem meiner Streifzüge komme ich schließlich an eine Wiese, die mir besonders gut gefällt. Ich lege mich in das Gras dieser Wiese. Im Liegen sind die Gräser neben mir noch grüner und der Himmel über mir noch blauer. Ich stehe wieder auf und beschließe, die Wiese, die mir so besonders gut gefällt, weiter zu erkunden, denn nun fühle ich mich bereit, nach dem Grün der Gräser und dem Blau des Himmels die Wiese nach bunten Blumen zu durchsuchen.

Bei diesem Suchen kommt eine Frau in mein Blickfeld. Sie liegt in der Wiese zwischen den Gräsern. Meine Neugier treibt mich, ich nähere mich der Frau zwischen den Gräsern. Beim Näherkommen bemerke ich, dass die Frau zwischen den Gräsern Josefine ist. Ich bekomme heftiges Herzklopfen. Es ist ein neues Gefühl, Josefine in der bunten und nicht in der schwarzen Welt zu begegnen. Meine Neugier darüber, wie es ist, Josefine in der bunten Welt zu begegnen, ist größer als alle meine Sorgen und Bedenken, die ich aus der schwarzen Welt kenne, ja ich glaube so ist es, denn ich gehe freudig auf sie zu und setze mich zu ihr ins Gras. Wir sitzen im Gras und erzählen uns von unseren Sorgen und Nöten, von unseren Freuden und Glücksmomenten, und die Welt – im Nachhinein ist es wie ein Wunder – hört nicht auf, bunt zu sein.

Josefine sagt, sie hatte sich bereits entschlossen, fortzugehen, sie war innerlich schon fort, doch vor ein paar Tagen hat sie entschieden, hier zu bleiben.

Dann bist du ja neu hier! sage ich und stelle fest, dass Josefine zwar aussieht wie immer, aber sich in meinen Augen verändert hat. Ich glaubte sie zu kennen, aber jetzt merke ich, dass ich sie nicht kannte und dass ich sie gerade neu kennenlerne.

Ich habe mir angewöhnt, jeden Tag als etwas Neues zu betrachten, sagt Josefine, als die Sonne schon tief hinter ihr steht.

Deine Haare waren nie blonder und die Sonne nie goldener als jetzt, und obwohl es nicht regnet, leuchtet alles um dich herum in den Farben eines Regenbogens, sage ich, und wieder weiß ich nicht, ob mich lediglich in musikalischen Zitaten bewege, doch es ist zu vermuten, dass dieses musikalische Zitat eine Annäherung an das ist, was ich als meine bunte Welt erlebe.

 

Schriftstellerei über das Versicherungswesen

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, mit der Absicht, meine Gedanken in Schrift zu stellen, denn schließlich entspricht es meinem Selbstverständnis, ein Schriftsteller zu sein.

Ich stellte die Schrift mit der Hand in mein Notizbuch, beschloss jedoch nach ein paar Zeilen, meinen Computer für die weitere Schriftstellerei zu benutzen. Bevor ich den Texteditor öffnete – das nur nebenbei – hörte ich Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, und da es sich bei diesem Album um ein Konzeptalbum handelt, sah ich mich gezwungen, es bis zum Ende anzuhören. Danach öffnete ich den Texteditor, um die Schriftstellerei in meiner Lieblingsschrift Courier New fortzusetzen.

Als ich den geöffneten Texteditor vor mir sah, fiel mir ein, dass ich seit zwei Tagen nicht mehr nach der Post gesehen hatte. Dieser Gedanke wich nicht von mir, sodass ich beschloss, bevor ich mit dem Stellen der Schrift fortfahren würde, dem Gedanken nachzugehen und nach der Post zu sehen. In der Post befand sich ein Brief meiner Rechtsschutzversicherung, mit der Aufforderung, die fällige Prämie zu bezahlen. Diese Aufforderung bereitete mir Unbehagen, sodass meine Gedanken um das Versicherungswesen zu kreisen begannen und ich die Idee hatte, Schrift mit Gedanken über das Versicherungswesen zu stellen.

Als ich wieder vor dem Texteditor saß, hörten die Gedanken auf, um das Versicherungswesen zu kreisen und konzentrierten sich stattdessen auf das Wort Rechtsschutzversicherung. Dieses Wort besteht aus vierundzwanzig Buchstaben. Vierundzwanzig ist eine gut teilbare Zahl. Da bei Courier New alle Buchstaben gleich breit sind, würden sich diese Teilungen als optisch ansprechendes Resultat präsentieren. Meine Schriftstellerei über das Versicherungswesen erschöpfte sich deshalb auf eine Worttrennungsstudie des Wortes Rechtsschutzversicherung. Diese Studie erstreckt sich von radikaler Horizontalität bis zu radikaler Vertikalität:

Rechtsschutzversicherung
Rechtsschutz
versicherung
Rechtssc
hutzvers
icherung
Rechts
schutz
versic
herung
Rech
tssc
hutz
vers
iche
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Rec
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Nana, Boris und ich

Eigentlich will ich nichts sagen, denn alles was ich sage, sind Mutmaßungen von dem was ich glaube, das die Wirklichkeit ist. Ich erlebe die Wirklichkeit als ein äußerst fragiles gefühlsbasiertes Gedankenkonvolut, das ständig seine Gestalt ändert; das ständig in Bewegung ist, und ehe man es begreift, einem wieder entwischt. Ich denke die Wirklichkeit gerne als Felsen, auf dem ich stehe, aber ich fühle sie wie Wasser, in dem ich treibe.

Als Nana und ich uns das erste Mal begegneten, trieb ich im Wasser, angenehm, in einem warmen kleinen See, und Nana stand, zumindest was meine Wirklichkeit betrifft, auf einem Felsen. Ich wünschte mir sofort, dass Nana zu mir ins Wasser kommt. Ich fand sie schön und begehrenswert, und wie immer, wenn ich eine Frau schön und begehrenswert finde, kann ich das nicht näher beschreiben: Es ist einfach so. Ich wünschte mir also, dass Nana zu mir ins Wasser kommt. Aber sie kam nicht. Sie lächelte mir freundlich zu, aber sie blieb auf dem Felsen stehen.

Bei jetziger Betrachtung der Dinge sehe ich die Lage allerdings etwas komplexer. Jetzt denke ich, dass ich mir gar nicht wünschte, dass Nana zu mir ins Wasser kommt, sondern dass ich sie so schön und begehrenswert fand, weil sie auf dem Felsen stand und nicht ins Wasser kam. Die Wirklichkeit ist eben ein gefühlsbasiertes Gedankenkonvolut, dass sich schwer begreifen lässt und sich immer wieder neu erfindet.

Doch zurück zu meiner ersten Begegnung mit Nana. Nana wurde begleitet von Boris. Boris sprang sofort zu mir ins Wasser, in den warmen kleinen See. Ich fand das sehr sympathisch, und wir lächelten uns zu. Doch ich war zu abgelenkt von der Schönheit Nanas, die nach wie vor auf dem Felsen thronte. Ich begehrte Nana so sehr, dass ich Boris nicht weiter beachtete. Wir verloren sofort wieder unseren Kontakt. Irgendwann drehte ich mich um und sah Boris am anderen Ufer des Sees aus dem Wasser steigen und in den angrenzenden Wald verschwinden.

Ich blieb im Wasser, im warmen kleinen See. Nana blieb auf dem Felsen stehen und sagte mir, dass Boris nun durch den Wald zum Meer läuft und sich im weiten Wasser verirren wird.

Aber das ist doch schrecklich! sagte ich. Sollen wir ihm nicht folgen und ihn daran hindern, dass er sich verirrt?

Ich habe Boote organisiert, die ihn suchen werden, sagte Nana kühl und bestimmt. Ob sie ihn finden, weiß ich nicht, sagte sie dann noch.

Ich blickte hinüber zum Wald, wo Boris aus dem See gestiegen war, und stellte mir hinter dem Wald das weite Meer vor. Ich bangte um Boris. Dann wanderte mein Blick zurück zu Nana. Ich fand sie schön und begehrenswert, wie sie auf ihrem Felsen stand. Gleichzeitig fand ich mich schön und begehrenswert, wie ich im Wasser trieb und bekam große Lust, gemeinsam mit Nana im Wasser zu treiben. Ich stellte mir vor, wie Nana zu mir ins Wasser springt, mit all der Weiblichkeit, die ich an ihr wahrnahm. Aber Nana zierte sich. Sie steckte ihre Zehen kurz ins Wasser, um dann zu beschließen, auf dem Felsen zu bleiben.

So trieb ich alleine im Wasser weiter. Boris will nicht an Land. Nana will nicht ins Wasser. So ist das eben. Mehr gibt es dazu im Grunde nicht zu sagen.