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Hannibal und Kannibal

eine Ballgeschichte

Hannibal und Kannibal lebten in einem etwas abgeschiedenen Landstrich. Um das Leben der beiden zu verstehen, muss man wissen, dass in diesem Landstrich ein anderes Deutsch gesprochen wurde. Das Wort ich existierte nicht, es wurde lediglich durch den Buchstaben i ausgedrückt. Das Verb haben wurde so konjugiert: I han, du hascht. Weitere Besonderheiten der Sprache in dieser Gegend: Die Bildung von Doppelkonsonanten wich von der im Standarddeutschen ab. Außerdem wurde das Prädikat immer vor das Satzsubjekt gestellt, Artikel und Präpositionen wurden weggelassen. Ein Beispiel: Wollte jemand sagen Ich gehe in das Haus, so sagte er: Geh i Haus.

Die Namen von Hannibal und Kannibal bedeuteten in dieser Sprache also soviel wie Ich habe den Ball und Ich kann mit dem Ball. Kannibal zeigte aus diesem Grund ständig, was er mit dem Ball kann, indem er ihn an Füßen, Schultern und Kopf jonglierte. Hannibal wollte den Ball jedoch haben, sodass er ihn, wenn er während Kannibals Jonglieren in der Luft war, mit seinen Händen schnappte und ihn fest an seinen Körper presste. Kannibal musste sich den Ball also wieder zurückerobern, um zu zeigen, was er mit dem Ball kann. Dabei halfen ihm in der Regel seine subtilen Jonglierfähigkeiten nicht, nein, es half nur rohe Kraft und Gewalt, um Hannibal den Ball wieder zu entreißen.

Eines Morgens, als Hannibal Kannibal den Ball wieder einmal weggeschnappt hatte, während jener mit ihm jongliert hatte, eskalierte der anschließende Kampf um den Ball. Hannibal wollte ihn unbedingt haben und ihn auf keinen Fall mehr hergeben, während Kannibal ihn mit Vehemenz zurückhaben wollte, um zu zeigen, was er mit ihm kann. Zwei Egos prallten unerbittlich aufeinander. Kannibal verfolgte Hannibal, während dieser mit dem Ball davonlief und ihn mit seinen Händen und Armen fest an seinen Körper presste. Als Kannibal Hannibal eingeholt hatte, wälzten sie sich im Staub, aber Hannibal, anders als manches andere Mal, ließ nicht locker und hielt den Ball fest umklammert. Kannibal war sehr zornig darüber, dass er nicht zeigen kann, was er mit dem Ball kann, weil Hannibal ihn nicht hergab. In einer Kurzschlusshandlung biss er Hannibal in die Kehle. Sein Biss war so stark wie sein Zorn (Sein Zorn manifestierte sich also in seinem Biss.): Er tötete Hannibal mit diesem Biss.

Hannibal bäumte sich noch einmal auf und fiel dann leblos zu Boden. Sein Lebenszweck Ich habe den Ball war dem Tod gewichen, und so ließen seine Hände den Ball endlich frei. Kannibal schnappte sich daraufhin den Ball und jonglierte ihn mit Füßen, Schultern und Kopf. Doch dann bemerkte er, dass es ihm gar nicht so viel Spaß macht, zu zeigen, was er mit dem Ball kann, wenn da kein Hannibal ist, der ihm den Ball wegnehmen will. Resigniert setzte er sich auf den Boden neben den leblosen Leib Hannibals. Der Ball kullerte davon. Kannibal langweilte sich. Wer hätte gedacht, dass sein Lebenszweck – zu zeigen, was er mit dem Ball kann – ihn ausgerechnet mit dem Tod Hannibals nicht mehr erfüllen würde. Aus dieser Langeweile heraus begann er, vom Leib des toten Hannibal zu essen. Seitdem ist Kannibal als Menschenfresser in Erinnerung geblieben, dabei ist er doch vor allem der gewesen, der mit dem Ball kann.

Sekt in der Trambahnschleife

Menschen bieten mir Sekt an, aber ich will keinen Sekt! Ich habe Sekt noch nie gemocht! Ich will weg von hier, hinaus an die frische Luft, und gerade als sich alle mit den Sektgläsern zuprosten, bahne ich mir den Weg nach draußen. Die Gläser klirren, aber nicht aneinander, sondern weil sie am Boden aufschlagen. Tizia, das sehe ich im Vorbeigehen, sieht mich vorwurfsvoll an. Sie hat allen Grund dazu, schließlich ist es ihre Galerie, die gerade eröffnet wird, die ich so stürmisch verlasse, dass Gläser auf den Boden klirren und in Scherben zerbrechen. Während meines stürmischen Abgangs fällt mir ein, dass ich früher dachte, eine Sekte sei eine Versammlung von Menschen, die gerne Sekt trinken. „Ihr Sektierer ihr!“ rufe ich in meinem Zorn, als ich endlich den Ausgang erreicht habe.

Draußen endlich Ruhe! Ich gehe die Straße entlang. Ich atme tief ein. Keine Leute um mich, die mich nerven. Ich bemerke aber jemanden hinter mir. Nicht optisch, denn weder habe ich hinten Augen noch drehe ich mich um, sondern akustisch. Es tut sich mir in Form einer lauten männlichen Stimme kund. Ich vermute Folgendes: Entweder der Mann spricht mit einem schwerhörigen Menschen, oder, und das erscheint mir die plausiblere Variante, er spricht über sein Mobiltelefon zu einem anderen Menschen. Ich drehe mich um, und finde meine Vermutung bestätigt: Der Mann spricht über sein Mobiltelefon mit einem anderen Menschen, und zwar in einer Lautstärke, die für einen Schwerhörigen angenehm, für mich, der direkt vor ihm geht, äußerst unangenehm ist.

Ich will es so sehen: Das Mobiltelefon ist ein Segen für die Menschheit. Früher telefonierten die Menschen hinter verschlossenen Wänden, zuhause in ihren Wohnungen oder in einer Zelle, und niemand anderer konnte teilhaben an ihren Gesprächen. Jetzt gehen sie während ihrer Telefonate mit ihren Mobilgeräten in der Gegend herum, um möglichst viele andere Menschen an ihren Gesprächen teilhaben zu lassen. Von diesem Blickwinkel aus gesehen ist mir das Gespräch meines Kompagnons – ja, so will ich ihn nennen: meinen Kompagnon, um das Soziale unserer Begegnung zu betonen – auf der Straße nicht mehr unangenehm. Ich fühle mich nicht mehr gezwungen, mitzuhören, habe nicht mehr den Eindruck, ein Gespräch wird mir aufgedrängt, nein, ich höre interessiert zu. Ich fühle mich als Teil einer intensiven Begegnung.

Die Diskussion meines Kompagnon hinter mir mit seinem schwerhörigen Gesprächspartner am anderen Ende der Funkverbindung dreht sich darum, wer Bier, wer Wein und wer Kippen mitbringt. Hauptsache kein Sekt, denke ich, denn das würde mich zornig machen. Sekt ist das Reizthema dieses Abends, das Reizthema meines Lebens, das bei mir das Fass zum Überlaufen bringt. Reift Sekt in Fässern? Egal. Hauptsache kein Sekt, nur Bier, Wein und Kippen. Gut. Sie vereinbaren, sich auf der Grüninsel in der Trambahnschleife zu treffen, dort seien sie ungestört und können in Ruhe feiern. Eines verstehe ich nicht: Sie wollen ungestört sein, andererseits bekommt gerade die ganze Straße mit, wo sie sich treffen werden, inklusive der Schwerhörigen. Und inklusive mir. Was machen sie, wenn die ganze Straße kommt? Haben sie genug Bier, Wein und Kippen dafür?

Mein Verständnisproblem ist mir egal: Ich will diese Begegnung nutzen, will mich einklinken in die soziale Komponente dieses offenen Mobilgesprächs. Ich drehe mich wieder um zu meinem Kompagnon und sage erfreut: „Ich komme auch!“ Offenbar irritiert verstummt er plötzlich. Sein Blick erinnert mich an den von Tizia, als ich die Galerie der sich mit Sekt Zuprostenden verließ. Mein Hirn assoziiert die Ähnlichkeit der vorwurfsvollen Blicke Tizias und meines Kompagnons sofort mit Sekt: Er wird doch wohl nicht Sekt mitbringen zur Feier in der Trambahnschleife! Streng schaue ich ihn an: Kein Sekt, sondern nur Bier, Wein und Kippen! Ich hoffe er versteht.

Trotzdem habe ich mein Vertrauen in diese Veranstaltung in der Trambahnschleife verloren. Ich biege ab in die nächste Querstraße, während mein Kompagnon, noch immer mit seinem Mobiltelefon am Ohr und das Gespräch wieder aufnehmend, geradeaus weitergeht. Zuhause angekommen, hocke ich mich betrübt in den Sessel. Ich kann Tizias Blick und den Blick meines Kompagnons nicht vergessen. Diese Blicke ähnelten sich so sehr, dass ein Zusammenhang mit Sekt zwangsläufig bestehen muss! Warum nur Sekt, warum nur immer Sekt, obwohl ich Sekt nicht ausstehen kann! Bin ich wirklich nur von Sektierern umgeben? Ich bekomme Angst. Ich bekomme Angst, dass die Partytiger der Trambahnschleife herausfinden wo ich wohne, mich abholen und gewaltsam zur Trambahnschleife schleifen, wo sie mir dann Sekt einflößen. Unruhig und voller Angst gehe ich ins Bett und schlafe erst ein, als meine Valium-Tablette endlich wirkt.

Nächster Morgen: Ich wache auf, noch benommen. Doch die Neugier treibt mich zur Trambahnschleife. Vorsichtig nähere ich mich dem Ort des Geschehens. Er ist verlassen. Ich finde leere Bier- und Weinflaschen und Zigarettenstümmel. Keine Sektflaschen, nirgends, soviel ich auch danach suche. Meine Angst war unbegründet. Da waren keine Sektierer am Werk. Die Einladung, die mein mobiltelefonierender Kompagnon an seine Umwelt ausgesprochen hat, war von ehrenhaftem Charakter, war ein Geschenk für die Welt. Um Buße zu tun und meine Gedanken zu ordnen, sammle ich Kronkorken und Zigarettenstümmel ein, die verstreut herumliegen, und gebe sie in leere Becher und Flaschen, um diesem großen Fest an der Trambahnschleife, das ich leider verpasst habe, ein Denkmal zu setzen.

Fleischgedicht

Es soll Leute geben, die sich von Licht ernähren, die also das photosynthetische Leben einer Pflanze leben. Mir ist diese Gabe nicht gegeben: Im Abstand von jeweils ein paar Stunden meldet mein Körper das Bedürfnis nach Organischem an. Momentan versuche ich, mich von Pflanzlichem zu ernähren, also auf Fleisch zu verzichten. Vielleicht steckt dahinter der unbewusste Wunsch, photosynthetische Fähigkeiten einer Pflanze zu entwickeln. Aber ich muss zugeben: Das fleischlose Leben fällt mir schwer!

Letzte Nacht hatte ich einen Traum: Ich durchwanderte eine idyllische Berglandschaft, als ich auf einer Almwiese eine junge Kuh erblickte. Friedlich riss die Kuh Grashalme aus dem Boden und fraß sie, während ich mich ihr näherte. Ich streichelte sie an den Flanken.

Unversehens zückte ich mein Schwert. Ich war sehr überrascht, wenn nicht gar erschrocken, dass ich ein Schwert bei mir trug, weil ich das im Leben außerhalb meiner Träume nicht tue. Aber in meinem Traum zückte ich es mit großer Selbstverständlichkeit und versetzte der Kuh einen gezielten Stich in ihre Brust. Ich hatte sie getötet. Adrenalin rauschte durch meinen Körper. Erstaunlich, wie mühelos ich das hinbekommen hatte, das Töten, das ohne größeren Widerstand der Kuh abgelaufen war, so sicher saß der Stich, und im Nachhinein muss ich sagen, dass mir das so wohl nur im Traum gelingen konnte. Dann machte ich mich daran, an das Fleisch der Kuh zu gelangen. Das gelang mir ebenfalls mit Fertigkeiten, die ich im Alltag von mir nicht kenne. Der Jäger in mir erwachte in diesem Traum, und meine unendlich große Lust auf Fleisch trieb mich zu Höchstleistungen.

Ich verzichtete darauf, die Kuh in ihre Teile zu zerlegen und sie in eine Küche zu verfrachten. Ich begann am Ort der Tötung vom Fleisch zu essen, solchen Hunger hatte ich. Das Fleisch war noch schön warm und von Blut getränkt. Einige Artgenossen von mir kamen den Weg entlang, wohl vom Geruch angelockt, gesellten sich zu mir und begannen ebenfalls zu essen. Es war genug Fleisch für alle da. Ich freute mich, den Hunger von so vielen stillen zu können.

Als wir uns begierig über das Fleisch hermachten, bemerkte ich Josefine neben mir. Es war ungewohnt, wie wir beide am Leib der getöteten Kuh knieten, mit blutverschmierten Mündern, aber ich freute mich, dass Josefine da war. Erst jetzt war das Festmahl ein richtiges Festmahl. Später, als wir alle satt waren, wusch ich mir das Blut von Gesicht und Händen, nahm meine Gitarre und spielte ein paar Lieder. Die Lieder handelten vom Kommen und Gehen, vom Leben und vom Tod. Neben uns machten sich währenddessen die Geier an die Reste der Kuh.

Als ich heute morgen erwachte, war mir dieser Traum noch sehr präsent. Er hatte etwas Wahrhaftiges an sich. Josefine lag neben mir und schlief selig. Ich hatte unglaublichen Appetit auf Fleisch. Doch ich widerstand meiner Fleischeslust und bereite mir kein Fleischgericht. Stattdessen schrieb ich folgendes kritisches Fleischgedicht:

Ich hatte, wie gesagt,
mir Würste in den Bauch gejagt.
Und die Würste lagen
mir dann sehr im Magen.

Vermutlich war’n sie viel zu fett!
Was Mageres soll’s sein:
Vielleicht etwas vom Schwein –
ein saftig brutzelndes Kotelett?

Pilip und Filif Otto

Ein ehemaliger Schulkamerad von mir heißt Pilip Otto. Seine Zwillingsschwester war auch in meiner Klasse, sie heißt Filif Otto. Während meiner ganzen Schulzeit fand ich die Namen der beiden etwas eigenartig. Ich habe sie aber nie gefragt, warum sie heißen wie sie heißen, sondern habe es einfach so hingenommen.

Neulich habe ich Pilip getroffen und ihn endlich gefragt, warum er und seine Schwester denn so heißen, wie sie heißen. Pilip redete gleich bereitwillig drauf los, meinte, das sei eine gute Frage. Er habe sich das selbst schon früh gefragt, als Teenager, und seine Eltern darauf angesprochen. Sie hätten lange gezögert, mit der Wahrheit über seinen und dem Namen seiner Schwester herauszurücken, so als schämten sie sich dafür, aber er blieb hartnäckig. Nun wisse er alles darüber, warum er und seine Schwester heißen, wie sie heißen.

„Also, das war so“, begann er: „Meine Eltern, so haben sie es mir erzählt, hatten beide schon früh, unabhängig voneinander, ein großes Faible für den Namen Philipp. Als sie sich kennenlernten und ihre gemeinsame Vorliebe entdeckten, wurde daraus eine Leidenschaft. Sie haben sich stundenlang damit unterhalten, sich gegenseitig den Namen Philipp zuzurufen. Sogar beim Sex, sagten sie, hätten sie ihre Lust gesteigert, indem sie immer wieder Philipp zueinander sagten. Sie wünschten sich folglich nichts sehnlicher als einen Sohn, den sie Philipp nennen können. Als meine Mutter schwanger wurde, waren sie sehr aufgeregt und hofften innigst, sie würde einen Sohn gebären, den sie dann Philipp nennen könnten. Mit Fortschreiten der Schwangerschaft stellte sich heraus, dass nicht ein Kind im Leib meiner Mutter heranwächst, sondern zwei. Meine Eltern waren – nun ja – nicht enttäuscht, aber doch geknickt. Wenn eines der Kinder ein Junge werden würde, den sie Philipp nennen, wie sollten sie das zweite Kind nennen? Jeder andere Name als Philipp wäre nur ein Abklatsch, so groß war die Leidenschaft meiner Eltern für den Namen Philipp. Das zweite Kind, das nicht Philipp heißen würde, wäre auf ewig der Außenseiter, der weniger Geliebte. Als sich herausstellte, dass höchstwahrscheinlich ein Mädchen und ein Junge im Leib meiner Mutter heranwachsen, nämlich meine Schwester und ich, überlegten meine Eltern kurzzeitig, uns Philipp und Philippine zu nennen. Diese Idee haben sie aber schnell verworfen, denn, so sagte mein Vater, Freunde von ihnen hatten damals ihre gemischten Zwillinge Clemens und Clementine genannt, was sowohl ihm als auch meiner Mutter nicht gefiel.

Was also tun? Sie verfielen in zunehmende Ratlosigkeit, je größer der Bauch meiner Mutter wurde. Als sie eines Abends wieder zusammensaßen und darüber sinnierten, wie sie denn ihre Kinder nun nennen könnten, fiel ihnen auf, dass ihre eigenen Vornamen beide Palindrome sind, also Wörter, die vorwärts wie rückwärts gelesen identisch sind: Meine Mutter heißt Anna und mein Vater Otto. Sie waren begeistert von dieser Tatsache und fanden beide, dass es schön wäre, die Tradition der Palindrome in der Familie aufrechtzuerhalten.

Nun standen sie jedoch vor einem neuen Problem. Sie fanden keine Palindrome für Namen außer Anna und Otto. Meine Schwester und mich wieder Anna und Otto zu nennen kam vor allem für meinen Vater nicht in Frage. Unser Familienname ist Otto, also heißt mein Vater Otto Otto, was ihn schon sein ganzes Leben lang sehr belastet, so sehr, dass er ständig auf psychologische Hilfe angewiesen ist. Diese Belastung wollte er mir, seinem Sohn, nicht weitergeben. Meine Eltern kamen also nicht weiter bei der Namensfindung.

Als meine Mutter einige Tage später erneut bitterlich darüber klagte, dass sie nicht einen Sohn gebären würde, den sie dann Philipp nennen könnte, sondern auch eine Tochter, hatte mein Vater eine Idee: Philipp sei ja, vom Schriftbild her, beinahe ein Palindrom – Philipp rückwärts ist Ppilihp. Da müsste doch was zu machen sein. Nach längerem Herumtüfteln beschlossen sie, mich palindromgerecht Pilip zu nennen. Was für eine Freude!

Blieb immer noch das Problem, wie sie meine Schwester nennen sollten. Da hatte meine Mutter die rettende Idee: Den Jungen werden wir rufen, wie man ihn schreibt, also zweimal mit P – Pilip. Damit das gesprochene F aus Philipp nicht verloren geht, nennen wir das Mädchen Filif – so haben wir es doppelt verankert.

Und genauso haben es meine Eltern dann gemacht, als meine Schwester und ich auf die Welt kamen.“

Pilip Otto schaute mich an und ich schaute ihn an. Wir schwiegen. Er hatte mir erklärt, warum er und seine Schwester so heißen wie sie heißen, nämlich Pilip und Filif Otto, und das war es ja, was ich ihn gefragt hatte. Es gab nichts mehr zu besprechen, alles war gesagt.

Qual der Wahl

Ich gehe die Straße entlang, weil ich es zuhause nicht aushalte. Der Entscheidungsdruck wird unerträglich. Soll ich wie üblich SPD wählen, obwohl ich Martin Schulz gar nicht leiden kann? Ich kann meine Entscheidung doch nicht von einer Person abhängig machen, oder Sigmar? Soll ich grün wählen, als Alternative? Um ehrlich zu sein, sind mir da mittlerweile zu viele schwarze Sprenkel drin in diesem Grün. Da kann ich gleich Union wählen. Ich höre oft den feschen Christian reden, aber ich habe das Gefühl, der spricht nur zu den Männern, deren Frauen mit ihren SUVs die Straßen der Stadt verstopfen. Weiß der Kuckuck was die aneinander so toll finden! Ich fühle mich jedenfalls außen vor.

Ich wollte good old Heiner um Rat bitten, wen ich wählen soll, aber der wollte sich das auch nicht mehr antun und hat sich davor aus dem Staub gemacht. Soll ich diesmal also wirklich über meinen Schatten springen und good old Angi wählen, damit alles so bleibt wie es ist?

Ich gehe an einem Mülleimer vorbei, bei dem zwei ältere Männer darüber streiten, wer zuerst die Pfandflasche entdeckt hat, die darin steckt. Da kommt mir eine neue Idee: Ich wähle AfD, um sicherzugehen, dass ich, wenn ich selbst einmal ein älterer Mann bin, mich nicht mit Afghanen und Syrern um wertvolle Pfandflaschen streiten muss.

Ich gehe weiter, und als hätte eine höhere Macht meine Gedanken mitbekommen, sehe ich folgendes Plakat:

Jetzt weiß ich endlich, welche Partei ich wähle bei der Bundestagswahl am Sonntag: Ich wähle die Partei DIE PARTEI – denn sie ist sehr gut!

 

Komisches und Tragisches (das Leben)

Komisch und tragisch erlebe ich Vorderbrandner. Er sagte mir zuletzt unter Tränen, dass er unendlich froh und unendlich dankbar sei, seinen Platz hier in diesem Leben zu haben. Das war tragisch im Vortrag, aber auch komisch. Warum komisch? Vorderbrandner ist ständig auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Das hängt meiner Meinung nach damit zusammen, dass er nicht bereit ist, seinen Platz einzunehmen. Vom Suchen und nicht Finden(wollen) des Platzes im Leben könnte man also Vorderbrandners bisheriges Leben betiteln. Stattdessen verkriecht er sich oft in der Ecke. Er erfindet für dieses Verkriechen alle möglichen Argumente. Er sagte zum Beispiel einmal, er sei eine konstante Belastung für seine Umwelt, seine CO2-Bilanz sei konstant negativ, wie im übrigen die eines jeden Menschen. Deshalb bezweifle er, ob seine menschliche Existenz über eine berechtigte Grundlage verfüge, wie im übrigen die eines jeden Menschen. Gleichzeitig, und das macht die Sache so komisch, hat er eine unglaublich große Sehnsucht nach dem Leben.

Bevor ich mich in Allgemeinheiten verliere, will ich konkret werden: Vorderbrandner und ich fuhren mit unseren Fahrrädern die Ainmillerstraße in München-Schwabing entlang. Das war gar nicht tragisch. Das war auch nicht komisch. Deshalb erwähne ich es, weil es ungewöhnlich ist, mit Vorderbrandner etwas zu erleben, das nicht tragisch und nicht komisch ist. Ein Auto fuhr vor uns durch die Ainmillerstraße. Es fuhr so langsam, dass wir zu ihm aufschlossen. Wir fuhren hinter ihm her, bis wir kurz vor dem Ende der Ainmillerstraße angelangt waren.

Der Ort des Geschehens

Die Ainmillerstraße mündet in die Kurfürstenstraße. An dieser Einmündung muss man sich entscheiden: Biegt man nach links oder nach rechts in die Kurfürstenstraße ein? Geradeaus weiterfahren ist nicht möglich. Der langsam fahrende Autofahrer vor uns tat seine Entscheidung nicht kund: Er setzte keinen Blinker. Oder hatte er sich noch nicht entschieden und zuckelte unentschieden auf die Kreuzung zu? Das Auto wurde jedenfalls immer langsamer. Warum erzähle ich das? Weil Vorderbrandner unvermittelt mit seinem Fahrrad links an dem langsamer und langsamer werdenden Auto vorbeifuhr. Auf Höhe der Fahrertür, deren Scheibe geöffnet war, sagte er zum Fahrer: „Es wäre nett von Ihnen, wenn Sie blinken würden und uns so mitteilen, ob Sie links oder rechts abbiegen wollen!“ Er sagte es in einem subtil provokanten Ton, der sich schwer beschreiben lässt.
„Wieso? Ich suche einen Parkplatz“, hörte ich den Fahrer irritiert aus dem Wagen antworten.
„Dann wäre es nett von Ihnen, wenn Sie Ihrer Umwelt mitteilen, wo Sie beabsichtigen, Ihren Parkplatz zu suchen, links oder rechts.“
Der Fahrer wurde verbal ungehalten, woraufhin Vorderbrandner durch die offene Scheibe ins Auto griff und den Blinkerhebel betätigte. Der Wagen war inzwischen mitten auf die Kreuzung gerollt und blockierte den Verkehr. Links und rechts hupten andere Autos.
„Sie Unverschämter Sie!“ schrie der Fahrer aus dem Wagen.
„Bitte nach rechts fahren, nach dorthin ist der Blinker gesetzt!“ erwiderte Vorderbrandner scheinbar ungerührt und herablassend und gab mir Zeichen zum Weiterfahren.

Ich folgte seiner Anweisung. Nichts wie weg hier! Wir fuhren weiter und überließen die angerichtete Szene den anderen Protagonisten. Beim Weiterfahren dachte ich über den, wie ich finde, äußerst dreisten und provokanten Auftritt Vorderbrandners nach. Einerseits hat Vorderbrandner diese große Scheu, seinen Platz im Leben einzunehmen, andererseits legt er Auftritte wie eben jenen hin.

Wir fuhren in unser Büro in der Georgenstraße 146 in München-Schwabing. Dort angekommen, hörte Vorderbrandner ein wenig Musik. Das macht er oft, um Erlebtes zu verarbeiten. Diesmal drangen trällernde Opernstimmen durch den Raum. Ich ging näher zu Vorderbrandner und sah auf dem Bildschirm zwei Opersängerinnen, als Männer verkleidet, die sich in einem gesanglichen Zwiegespräch befinden.

Vorderbrandner, ungewöhnlich kommunikativ für einen solchen Moment der inneren Besinnung, sagte: „Das ist ein Ausschnitt aus der Oper Serse von Händel – komische Tragödie und tragische Komödie.“
„Komisch ist das in der Tat“, sagte ich: „Wieso sind denn die Frauen als Männer verkleidet?“
„Es gibt keine Kastraten mehr, die die Rollen singen könnten.“
„Tragisch… Für die Oper, meine ich, – dass es keine Kastraten mehr gibt“, und meinte es komisch.
Wir lauschten dem Gesang.
„Der in weiß Gekleidete ist König Serse“, erläuterte Vorderbrandner und zeigte auf die Opersängerin in der weißen Uniform. „Er offenbart seinem Bruder Arsamene (die in schwarz gekleidete Dame im Video – Anm. d. Red.), dass er der schönen Romilda seine Liebe gestehen wird, obwohl Arsamene mit ihr verlobt ist.“
Vorderbrandner interessierte vor allem eine Sequenz des Videos, zwischen 1:00 und 2:30, die er mehrmals abspielen ließ. Hier verkündet Serse seine Absicht: Io le dirò che l’amo, ne mi sgomentarò. (Ich werde ihr sagen, dass ich sie liebe, ich werde nicht davor zurückschrecken.)

„Schau!“ sagte Vorderbrandner und zeigte auf den Bildschirm, „wie stolz Serse ist; wie er sich auf seine Sänfte heben lässt und immer wieder betont, dass er Romilda seine Liebe gestehen wird! Was für ein stolzer, leidenschaftlicher Platzhirsch!“ Seine Augen leuchteten vor Begeisterung, als nähme Serse stellvertretend für ihn den Platz ein, den er sich gerne nehmen würde. Wir waren wieder mitten drin im Komischen und Tragischen.

Während wir weiter dem Gesang lauschten, stellte ich mir Vorderbrandner in der Ainmillerstraße vor, wie er auf den Dächern der hupenden Autos steht und im Falsett die Arie des Serse singt. Wieso ist mit Vorderbrandner immer alles komisch und tragisch? Liegt es wirklich nur daran, dass er seinen Platz im Leben sucht und nicht finden will? Oder liegt es daran, dass er mir beständig vorführt, was das Leben ist: Komische Tragödie und tragische Komödie?

Ein Foto für die Welt

Ich habe mich lange gegen die sogenannte Digitalisierung gewehrt, wollte meine Privatsphäre achten, wollte der Instagramisierung trotzen. Doch nun haben mich all die netten Menschen von Google, Facebook etc. bekehrt.

Ich weiß jetzt, dass es notwendig ist, sich zu zeigen, ja mehr noch, dass es glücklich macht. Darum teile ich heute voller Freude ein Foto mit der Welt, dessen Motiv aus meinem tiefsten Herzen kommt:

Ich bin sehr froh, dass ich diesen Schritt getan habe, fühle mich sehr erleichtert und warte auf die spannenden Kommentare der Welt. :—)

Die Liebe unter der alten Linde

Ich zögerte in zweierlei Hinsicht. Zuerst zögerte ich, die Geschichte Vorderbrandners zu meiner Geschichte zu machen. Dann, als ich die Geschichte Vorderbrandners zu meiner gemacht hatte, zögerte ich, sie noch einmal – als meine Geschichte – zu erzählen. Da mein Zögern jeweils der Aktion wich, hier eine Zusammenfassung der Ereignisse:

Es war der Vormittag nach einer sehr stürmischen Nacht. Der Wind hatte sich gelegt, der Regen war abgezogen. Es herrschte Ruhe nach dem Sturm. Die Sonne bestrahlte diese Ruhe. Ein Freund hatte mir geschrieben, dass der Maibaum in seinem Garten, nach einem langen, erfüllten Leben von über fünf Maibaum-Jahren, nach kurzer schwerer Morschheit, wie er sagte, einer Sturmböe zum Opfer gefallen ist und nicht mehr unter uns weilt. Sehr in Sorge fuhr ich daraufhin in den Park, um der alten Linde einen Besuch abzustatten. Würde sie noch dastehen, stolz wie eh und je, allein auf weiter Flur, oder hatte der Sturm einige ihrer weit ausladenden Äste von ihr gerupft? Hatte sie gar ein ähnliches Schicksal wie den Maibaum ereilt, und sie weilt auch nicht mehr unter uns? Musste ich mich darauf vorbereiten, auch von ihr Abschied zu nehmen? Unter schlimmsten Befürchtungen und mit zittrigen Beinen trat ich in die Pedale meines Fahrrads, das mich zur Lindenwiese führte.

Als ich auf die Wiese kam, stand sie da, die alte Linde, stolz wie eh und je, ihre Blätter im Sonnenschein wiegend. Erleichtert und erfreut lief ich unter ihren Schatten. Ich lehnte mich an ihren Stamm, fühlte mich glücklich und zufrieden wie einst Perserkönig Serse unter der Platane und breitete meine Arme aus. Ich sah zu den Blättern hoch, die wie zartklingende Saiten von Violinen im Wind säuselten, und begann zu singen:

Ombra mai fu
di vegetabile
cara ed amabile
soave più.

(Nie war der Schatten
einer Pflanze
lieblicher angenehmer
süßer.)

Ich war in einer Hochstimmung. Ich wusste nicht, ob ich jemals etwas anderes auf dieser Welt würde lieben können als die alte Linde.

Doch ich wurde jäh aus meiner Hochstimmung gerissen – vom Gekläffe eines kleinen Hundes. Ich wurde so dermaßen aus meiner Hochstimmung gerissen, dass ich in meiner Verzweiflung das Gekläffe des kleinen Hundes zu imitieren begann.

„Hören Sie auf, Sie Spinner!“ rief der Besitzer des kleinen kläffenden Hundes zu mir herüber, während der kleine Hund ohne Pause weiterkläffte.

„Wieso soll ich aufhören?“ rief ich zurück: „Ihr Hund macht genauso. Zu ihm sagen Sie auch nicht, er soll aufhören!“

Mit einer abfälligen Handbewegung wandte sich der Hundebesitzer von mir ab. Da fiel mir die Geschichte Vorderbrandners ein, die ich vor einigen Wochen erzählt habe. Ich zögerte kurz – und beschloss dann, sie zu meiner zu machen: Ich ging zum Besitzer des kleinen kläffenden Hundes und fragte, ob er einen Kotbeutel für mich hätte. Mit seinem bereits arg strapazierten Nervenkostüm verneinte er dies. Ich fragte ihn, ob er, wenn sein Hund sein Geschäft macht, das einfach liegenlassen würde? Ich vernahm nur ein Brummen von ihm, sodass ich beschloss, zur Dramaturgie der Vorderbrandner-Geschichte zurückzukehren:

„Wissen Sie“, sagte ich weiter, bereits in die heiße Phase der Geschichte kommend, „ich müsste dringend mal, und da dachte ich, ich könnte den Kot, den ich dabei ausscheide, mit Ihrer Tüte aufsammeln. So könnten Sie ihn gleich mitnehmen.“

„Sie spinnen ja, Sie spinnen ja!“ rief der Mann agitiert, nervös den Stock werfend, um seinen kläffenden Hund für ein paar Sekunden zu sedieren. Da kam eine Frau mit ihrem Hund den Weg entlang. Kurzerhand fragte ich sie, ob sie einen Kotbeutel für mich hätte. Der Besitzer des Kläffers funkte sofort dazwischen und sagte: „Geben’S ihm nix! Der spinnt! Der möchte hier hinmachen!“ Mit Bemühungen, die ich als manisch wahrnahm, zerrte er die Frau auf seine Seite. Ich konnte aus seinem Verhalten nur schließen, dass er in mir das Böse und Bedrohliche der Welt komprimiert sah, gegen das er sich und die Frau schützen musste. Er steigerte sich in einen regelrechten Wahn, sodass ich erkennen musste, dass meine ursprüngliche Anfrage, nämlich einen Kotbeutel zu erhalten, wohl bis auf weiteres unbeantwortet bleiben würde. Ich sagte also, dass ich mein Bedürfnis noch ein Weilchen unterdrücken kann und etwas später wieder komme, um nach einem Kotbeutel zu fragen. Meine Aussage ging in den Agitationen des Mannes unter, der nach wie vor wie besessen auf die Frau einredete. Bahnte sich hier eine Liebesgeschichte an nach dem Motto: Hunderlherrln geselln sich gern? Sogar seinen Hund vergaß der Mann in seinem Liebeswerben, der laut kläffend nach seinem Stock verlangte.

Ich zog mich währenddessen wieder unter den Schatten der Linde zurück, wo gerade ein anderer Hund deren Stamm markierte. Spontan wollte ich selbiges tun, zögerte aber und widerstand der Aktion, meine Blase zu entleeren, mit folgender Überlegung: Wenn ich den Stamm der Linde markiere, werden dadurch sicher viele andere Menschenmännchen angelockt und markieren ebenfalls. Das will ich dem alten Baum nicht antun. Hohe Nitratbelastungen sind im fortgeschrittenen Baumalter nicht gut. Und ich will gut zur Linde sein, liebe ich sie doch über alles!

Ich lehnte mich wieder an ihren den Stamm und sah, dass sich etwas entfernt eine ganze Traube von Hundebesitzern gebildet hatte, mitten unter ihnen der Besitzer des kleinen kläffenden Hundes. Aus seinen wilden Handbewegungen folgerte ich, dass er einen Vortrag über das Böse und Bedrohliche der Welt hielt. Ich war indessen froh über die alte Linde, die den Sturm so prächtig überstanden hatte, und sang nochmals ein Lied für sie, was den Besitzer des kleinen kläffenden Hundes, so sah ich im Augenwinkel, aber nicht besänftigte, im Gegenteil: Er redete noch eindringlicher auf die um ihn versammelte Schar ein.

Damit sollte die Geschichte erzählt sein, all meinem Zögern zum Trotz.

Deutschland, 2039 – ein Bericht

Die Bevölkerung leidet an akuter Erschöpfung. Auch neue Konsumimpulse, noch von der alten Regierung verordnet, reissen die Bevölkerung nicht aus ihrer Lethargie. Das Wirtschaftssystem ist am Zusammenbrechen, weil nur mehr das Nötige gekauft wird, nicht aber das Unnötige, was aber so dringend nötig wäre für eine Konjunkturbelebung.

Das noch größere Problem ist jedoch, dass die Leute offensichtlich auch die Lust am Sex verloren haben. Es werden kaum mehr Kinder geboren. Zentren künstlicher Befruchtung, die mit ihren Angeboten ebenfalls einen Teil zur Konjunkturbelebung beitragen sollen, melden stark rückläufige Klientenzahlen.

Mittlerweile haben militante Sozialaktivisten die Macht übernommen. Sie versprechen, die Menschen wieder in ihre Energie zu führen. Da die sexuelle Energie die stärkste Energie ist, wird als erstes an diesem Hebel angesetzt. Wir bedauern, dass wir die Menschen zum gemeinsamen Sex zwingen müssen, aber wir sehen keine andere Möglichkeit als Zwang auszuüben, denn die Menschen haben verlernt, gemeinsam Sex zu haben, sich aufeinander einzulassen. Sie haben nur mehr alleine Sex, mit technischen Hilfsmitteln, so eine Sprecherin der neuen Machthaber.

Als erstes wurde das sogenannte Sexualitätssozialkontrollgesetz verabschiedet. Das Gesetz schreibt unter anderem vor, dass in keiner Wohnung mehr die Vorhänge geschlossen werden dürfen. So soll ermöglicht werden, eine bessere soziale Kontrolle über sexuelle Aktivitäten zu erhalten. Sexuelle Aktivitäten an öffentlichen Plätzen sind nach diesem Gesetz ausdrücklich erwünscht, mit der Einschränkung, dass dadurch das öffentliche Leben in seinem Ablauf nicht empfindlich gestört werden darf. Ein Beispiel für eine solche empfindliche Störung sei, Sex mitten auf der Straße zu haben, sodass der Verkehr nicht mehr fließen kann, erläuterte die Sprecherin der neuen Regierung der Sozialaktivisten.

Die katholische Kirche, mittlerweile eine gesellschaftliche Randgruppe aus dem konservativen Spektrum, protestiert aufs heftigste gegen dieses neue Gesetz. Jahrhundertelang erkämpfte Werte des Abendlandes würden dadurch endgültig ausgelöscht, ein Verfall der Sitten halte Einzug. Die katholische Kirche proklamiert traditionell eine Verbannung sexuellen Lebens aus dem öffentlichen Raum. Ihre männlichen Eliten praktizieren stattdessen Sex mit jungen Knaben hinter verschlossenen Türen. Sie ist deshalb naturgemäß einer der schärfsten Kritiker des neuen Regierungskurses und des neuen Sexualitätssozialkontrollgesetzes.

Die neue Gesetzgebung stellt einen drastischen Einschnitt in das bisherige Leben der Menschen dar. Gespannt wartete man daher auf erste Erfahrungsberichte aus der Bevölkerung. Ein junges Paar, das vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes nur über das Internet gelegentlich sexuellen Austausch hatte, also eine übliche virtuelle Partnerschaft unserer Tage unterhielt, berichtet, dass es aufgrund des Sexualitätssozialkontrollgesetzes beschlossen habe, sich physisch zu treffen. Anfangs war es komisch, nebeneinander dazuliegen bei offenem Fenster oder auch im Park, berichten sie. Sie hatten das Gefühl, das befördere eher die Lethargie. Sie konnten nichts anfangen mit der Nähe ihrer Körper. Sie wollten sich Alkohol reinziehen oder andere berauschende Substanzen oder Pornos. Doch dann haben sie irgendwann angefangen, sich zu berühren, sich zu spüren. Es war schön, sagen sie, auch, weil sie nicht aufhören mussten, obwohl sie mitten im Park waren. Das Gesetz gab ihnen guten Rückhalt. Sie konnten sich ihrer Lust hingeben, hier und jetzt. Sie mussten nicht nachhause gehen, wie früher, wo die Lust dann oft verflogen war in den engen vier Wänden und sie sich Alkohol reinzogen oder andere berauschende Substanzen oder Pornos, um wieder Lust zu bekommen.

Von Regierungsseite heißt es, man hoffe, dass das Beispiel dieses Paares Schule macht und solche Berichte andere Menschen aus ihrer Erschöpfung und Lethargie reissen. Während die Hersteller von Alkoholika und Pornos aufs schärfste vor diesen Entwicklungen warnen.

Mister von Beruf

Als Entwicklungsingenieur für Verbrennungsmotoren, Fachbereich Dieselaggregate, habe ich gestern noch im Betriebschor – zur Hebung der Arbeitsmoral – Danke für meine Arbeitsstelle gesungen. Heute bin ich mit einem eigens bereitgestellten Bus unterwegs zur Agentur für Arbeit, da eine Restrukturierung leider die Kündigung einer ganzen Busladung von Personen notwendig gemacht hat.

Um bald wieder dankend im Chor der Beschäftigten singen zu können, blättere ich in der Agentur eine Broschüre durch, in der es um alternative Berufsfelder geht. Dabei fällt mir der Beruf des Misters auf. Es steht geschrieben:

Mister sind überwiegend in landwirtschaftlichen Betrieben tätig und auf die Beschäftigung mit Mist spezialisiert. Meist beschäftigt sich ein Mister mit Mistlogistik, also mit Fragen wie: Wo wird der Mist erzeugt? Wo soll er kompostiert werden? Wie wird seine Weiterverwendung garantiert und effizient ermöglicht? Bei diesen Fragestellungen reicht das Aufgabengebiet eines Misters heutzutage weit über den traditionellen Misthaufen hinaus.

Neueste Entwicklungen haben das Aufgabenfeld eines Misters über logistische Fragestellungen hinaus erweitert. Der Mister ist heute oft auch an der Gesundheits- und Nahrungssteuerung der misterzeugenden Tiere beteiligt, indem er den Mist untersucht und daraus wertvolle Rückschlüsse auf die Gesundheit der Tiere zieht. Er kann über den Mist feststellen, wie sich die Tiere ernährt haben und wertvolle Hinweise geben, ob die Ernährung beibehalten oder eventuell geändert werden soll.

In sehr großen landwirtschaftlichen Betrieben gibt es innerhalb des Berufsfelds des Misters noch weitere Spezialisierungen, wie etwa den Schweinemister oder den Kuhmister. Äußerst begehrt sind Stellen als Rossmister in Reitställen, da der Rossmist traditionell als hochwertigster Mist gilt. Der Umgang mit ihm geht daher mit einer entsprechenden Reputation einher.

Da der Beruf des Misters gegenwärtig ungemein populär ist, bezeichnen städtische Verwaltungen, die Mitarbeiter für Kanalisation und Abfallentsorgung suchen, diese neuerdings als Menschenmister. So vereint der Beruf des Misters Tradition und Moderne und bietet viele Entwicklungsmöglichkeiten.