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Liebesknurren

Liebe geht durch den Magen. Mein Magen knurrt recht oft. Er knurrt nach Liebe. Die Liebe weigert sich, hindurchzugehen. Oder hindere ich sie daran? Wieso sonst sollte die Liebe durch so viele Mägen gehen und gerade durch meinen nicht? Mein Hirn versucht auszuhelfen in dieser Misere und schaltet sich denkend ein. Es denkt an Josefine und dass ich mich von ihr getrennt habe.

Die Trennung von Josefine – war das meine Befreiung oder mein Rückzug? fragt mein Hirn. Moment, sage ich, eines nach dem anderen: Trennung, was ist das? Trennung – so nenne ich es, was geschehen ist zwischen Josefine und mir. Ich habe Zweifel, ob das der richtige Name ist für dieses Geschehen. Trennung ist ein Ding in meinem Kopf, und das Ding an sich, sagt zumindest Fichte, ist eine Erdichtung und hat gar keine Realität. Was ist also die Realität abseits dieses Dinges der Trennung?

Mein Hirn in seinem Polaritätsdenken hilft mir und denkt weiter: Das Gegenteil von Trennung ist Vereinigung. Gibt es das, totale Trennung und totale Vereinigung? Oder hat mein Hirn diese beiden Extrempole erfunden, um das Leben zu begreifen als ein Wechselspiel zwischen Distanz und Nähe? Oszilliert die Realität zwischen Distanz und Nähe, zwischen Trennung und Vereinigung?

Während dieser Gedanken knurrt mein Magen unentwegt, knurrt nach Liebe. Ich gehe in ein Restaurant und gebe ihm Essen stattdessen. Ich stopfe mich voll, so als wollte ich der Liebe den Weg versperren. Mir wird schlecht. Obwohl ich so vollgestopft bin, fühle ich mich so leer. Ich betrauere mich, wie ich so vollgestopft allein an meinem Tisch sitze. Ich rutsche vom Stuhl und komme unter dem Tisch zum Liegen. Befreiung oder Rückzug? fragt nun mein Hirn wieder und kriecht zu mir unter den Tisch. Was weiß denn ich? Ich sehne mich nach Josefine. Ich ergebe mich dieser Sehnsucht und ziehe mich in sie zurück. Also Rückzug. Was veranlasst mich, diesen Rückzug anzutreten? Ist es eine Verweigerung der Liebe? Wieso bist du überzeugt davon, frage ich mein Hirn, dass ich es nicht wert bin, geliebt zu werden und baust alle deine weiteren Erkenntnisse darauf auf? Du verweigerst die Liebe von Josefine, um in deiner Überzeugung nicht gestört zu werden, um dich ungestört deiner unerfüllten Sehnsucht hinzugeben.

Hat diese Gedanken nun mein Hirn oder mein Magen gedacht? Mein Magen jedenfalls macht heftige Geräusche und Bewegungen, so als stoße ihm die fehlende Liebe sauer auf. Ich beschließe, das Treffen mit meinem Hirn unter dem Tisch zu beenden, hieve mich hoch, verlasse das Restaurant und gehe ins Freie. Befreiung?

Vor dem Restaurant steht zu meinem Erstaunen mitten im Freien eine Toilette, die mir und meinem Magen sehr gelegen kommt. Ich setze mich auf die Toilette und lasse den Dingen ihren Lauf. Plötzlich öffnen sich am Hochhaus gegenüber nach und nach alle Fenster. Menschen erscheinen an ihnen und beginnen zu singen, bis schließlich alle im Chor einstimmen: Nähe und Distanz, das Leben voll und ganz! Mein Hirn ist überwältigt, und mein Magen bereit für die Liebe, in diesem erhebenden Moment.

Musikalische Untermalung des Hochhauschors während der Toilettensitzung

Blick von der Freilufttoilette vor dem Restaurant zum Hochhaus

Krempelhuberplatz

Es war dunkel, was mich erstaunte, denn um diese Jahreszeit war die Nacht – die Dämmerung nicht eingerechnet – nur etwa sieben Stunden lang. Ich hätte also genügend Zeit gehabt, wenn ich richtig rechne, siebzehn Stunden, den Krempel am hellen Tag einzusammeln. Hatte ich so getrödelt, oder gab es so viel Krempel, der vor den Häusern gestanden und mit ZU VERSCHENKEN markiert war, dass ich es nicht schaffte, vor der Dunkelheit aufzubrechen?

Der Wagen holperte und stolperte über den unebenen Weg durch den Wald, mit mir und dem ganzen Krempel darauf. Ich blickte nach oben und sah die schwarzen Blätter, die an mir vorbeirauschten. Ich bezweifelte allmählich, ob es wirklich eine gute Idee war, mit dem Krempel zum Krempelhuberplatz zu fahren. Währenddessen kam ich aus dem Wald ins Freie, ich sah dunkle Wolken über mir, sodass ich meine Vermutung, die ich im Wald hatte, nämlich dass es Nacht sei, revidierte und meine neue Wirklichkeit so aufstellte: Es war Tag, der durch die dunklen Wolken am Himmel im Wald wie Nacht erschienen war. Um mich vollends zu überzeugen, blickte ich noch einmal zum Wald zurück und sah, dass aus den schwarzen Blättern grüne Blätter geworden waren.

Der Krempel am Wagen schepperte weiter, unabhängig davon, ob es Nacht oder Tag war. Endlich am Krempelhuberplatz angekommen, lud ich den Krempel ab. Ein Mann stieß zu mir, der sich als Hempel vorstellte. Hempel sagte, ich könne hier nicht den ganzen Krempel abladen. Ich bräuchte dazu eine Genehmigung der Stadtverwaltung.
Ich habe bereits beantragt, sagte ich daraufhin, meine Krempelabfuhr in die Stadtverwaltung eingliedern zu lassen. Diesem Antrag sei jedoch noch nicht stattgegeben worden. Deshalb muss ich mein Unternehmen einstweilen privat führen, mit allen Gesetzmäßigkeiten des freien Marktes. So dachte ich, es wäre aus werbetechnischen Gründen gut, den Krempel am Krempelhuberplatz abzuladen.

Am Krempelhuberplatz

Hempel ließ sich davon nicht überzeugen, und so fragte ich, ob Herr Krempelhuber selbst da sei, damit ich ihn fragen kann, ob ich den Krempel auf seinem Platz abladen darf. Nein, sagte Hempel, Krempelhuber ist nicht da. Der sei in der Botanischen Staatssammlung in einem Gebäude, welches ein gewisser Stempel errichten ließ.

Mittlerweile schien die Sonne am Himmel, die Wolken waren verschwunden. Es war Tag, ganz eindeutig, und ich fragte mich, wie es so schnell Tag werden konnte, wo doch vorhin im Wald noch tiefste Nacht war. Waren daran der Wald schuld oder die Wolken? Oder weder noch? Oder sowohl als auch? Hempel wusste darauf auch keine Antwort, und so setzte ich mich auf den Wagen und fuhr ab zur Botanischen Staatssammlung, um dort Krempelhuber im Gebäude von Stempel zu treffen, während Hempel mir hinterherrief, gefälligst meinen Krempel wieder mitzunehmen.

 

Der Krempelhuberplatz befindet sich im Münchner Stadtteil Lerchenau. Er ist benannt nach August von Krempelhuber. Krempelhuber war ein Botaniker, der sich besonders mit Flechten befasste. Seine umfangreiche Sammlung ist heute Bestandteil der Botanischen Staatssammlung Bayerns. Die Botanische Staatssammlung ist in einem Gebäude in der Menzinger Straße in München untergebracht, das unter Denkmalschutz steht und vom Architekten Ludwig von Stempel geplant wurde.

Am Ende bin ich nur ich selbst

Das war die schönste Zeit meines Lebens: die ersten neun Monate im Leib meiner Mutter. Ein schwereloses Leben, wie im Paradies. Dieses glückliche Leben wurde jäh beendet, als ich aus ihrem Leib auf die Erde plumpste. Ja, so war es mit meinem Glück, ich bin mir sicher, seitdem habe ich es verloren! Seitdem suche ich nach dem Glück. Unentwegt. Rastlos.

Als Kind suchte ich nach diesem Glück im Schoß meiner Mutter, aber es wurde mir bald klar: Mein Wachstum machte eine Rückkehr immer unmöglicher. Diese Vereinigung würde es nicht mehr geben.

Als Pubertierender fühlte ich mich endgültig verstossen vom Glück. Meine Mutter, das Glück meiner Welt, war nicht mehr angesagt. Aber was war stattdessen angesagt? Ich suchte nach Ersatzbefriedigungen, die im übermäßigen Konsumismus endeten. Neben Alkohol und Drogen konsumierte ich Mädchen. Ich suchte bei ihnen die Einheit und das Glück, das mir meine Mutter in den ersten neun Monaten meines Lebens gegeben hatte. Doch ihre Schöße waren nicht der Schoß meiner Mutter. Diese Mädchen verließen mich und ich verließ sie. Das Glück war von vornherein ausgeschlossen in diesen Begegnungen. Mädchen sind keine Mütter.

Schließlich entdeckte ich, mangels personeller Alternativen, ein weiteres konsumierbares Objekt: meine Melancholie. Der Vorteil der Melancholie: Sie ist immer bei mir. Ich konsumierte sie im Übermaß. Tagsüber schloss ich mich in mein Zimmer ein und verkroch mich unter meiner Decke. Abends ging ich auf den Hügel, setzte mich auf seine Spitze und beweinte die Sonne bei ihrem Untergehen. Ich beneidete sie, wie konsequent sie unterging, langsam aber stetig, ohne einmal innezuhalten oder gar umzukehren. Untergehen, ja, ich wollte untergehen wie die Sonne!

Dieser Untergangs-Entschluss reifte so lange, bis ich schließlich bereit war, ihn umzusetzen: Ich rannte vom Hügel zum See hinunter. Ich stürzte mich ins Wasser, um unterzugehen. Das Wasser war angenehm aufgewärmt von der Sonne des Tages. Ich tauchte unter. Ich fühlte mich schwerelos. Ich ließ mich unter Wasser treiben. Jetzt war sie wieder da, die frühe Zeit meines Lebens, die Zeit im Bauch meiner Mutter. Alles war leicht und weit. Würde jetzt alles gut werden? Es war eine Mutterwelt durch und durch. Wo blieb ich in dieser Welt? Möchte ich nicht irgendetwas sein außer das Kind in meiner Mutter? Möchte ich ein Mann sein für die Frauen dieser Welt? Möchte ich noch viel mehr sein? Möchte ich ich selbst sein?

Ich dachte ich sei tot, doch ich fand mich liegend am Ufer des Sees wieder. Was war ich nun? Ein gestrandetes Kind oder ein gestandener Mann? Ich bemerkte, dass ich mich gut bewegen konnte, also nicht tot, richtete mich auf und setzte mich ins Gras. Ich blickte zur Seite und sah eine kleine Holzbühne. Einige Musiker standen auf ihr und bereiteten sich auf ihren Auftritt vor. Einer von ihnen sagte: Das erste und letzte Lied ist eine knapp achtminütige Meditation über mein Leben, also über jedes Leben. Der, der das sagte, kam mir sehr bekannt vor. Er war jung, wohl etwa in meinem Alter.

Sie begannen zu spielen, langsam und bedächtig, fast meditativ. Sie schienen nur den See vor sich zu bespielen. Der eine, den ich kannte, blickte melancholisch auf den See vor sich. Mit starrem Blick bewegte er sich zum Rhythmus. Entrückt. Plötzlich sang und spielte er sich in Rage. Dann drehte er sich zu mir und sang: Am Ende bin ich nur ich selbst, ehe er seinen Blick wieder seewärts richtete. Ich kannte ihn, mit einer Gewissheit, die mir unheimlich war, wusste aber noch immer nicht, wer er war.

Ich stand auf. Ich tanzte zur Musik. Plötzlich wusste ich, wer er war, den ich kannte: Es war mein Vater. Nur so jung, wie ich ihn nie gekannt hatte. Ungläubig rannte ich auf den Hügel. Ich nicht nur das Kind meiner Mutter, sondern auch das meines Vaters? Wo ist jetzt das Glück? Ich stand oben am Hügel und sah der Sonne beim Untergehen zu. Am Ende bin ich nur selbst. Ein Schauer durchfuhr mich, gleichzeitig fühlte ich mich noch nie so glücklich wie in diesem Moment. Ich sah und hörte, wie sie unten am See spielten. Knapp acht Minuten lang, wie es mein Vater angekündigt hatte. Dann ließen sie die Meditation über sein Leben, also über jedes Leben, ausklingen und verschwanden im See.

Knapp achtminütige Meditation über das Leben

Gedankengut

Manchmal komme ich mir schon recht alt vor. Das ist natürlich relativ. Meine beiden Großväter wären jeweils schon über hundert Jahre alt. Dagegen bin ich recht jung. Doch dazu später! Ich muss mich jetzt konzentrieren: Ich befinde mich mitten in einem Bewerbungsgespräch!

Gut, sage ich also, um meine Großväter zu vergessen und wieder ins Gespräch einzusteigen, lehne mich in den Stuhl und sehe zum Fenster hinaus.

„Gut?“ fragt die Bewerberin. „Was soll das heißen?“

„Ich gebe zu: nicht viel. Ich verwende dieses Wort, wenn ich Gedanken in meinem Kopf habe, die mich meiner Umwelt mehr entrücken als mich ihr anzunähern. Wenn ich gedanklich abwesend bin. Wenn ich zum Beispiel an meine beiden Großväter denke, die jeweils schon über hundert Jahre alt wären, wenngleich sie, das nur nebenbei, relativ alte Väter ihrer Zeit waren. Ich will damit nicht sagen, dass ich jung bin, ich will damit nur sagen, dass diese Gedanken nichts mit unserem Gespräch zu tun haben. Die Äußerung dieser Gedanken, die ich nun bereits geäußert habe, allerdings nur beispielhaft, würde Sie verwirren und unsere Beziehung, die durch das Gespräch, das wir gerade führen, aufgebaut werden soll, an ihrem Aufbau hindern. Deshalb sage ich in solchen Situationen solange gut, bis diese Gedanken wieder weggehen aus meinem Kopf, der Nebel um mich sich lichtet und ich wieder anwesend bin… Was fragten Sie gerade, bevor ich gut sagte?“

„Ich habe Sie gefragt, was mein Aufgabenbereich wäre, wenn Sie mich anstellen.“

„Ihr Aufgabenbereich, natürlich… Nun, ich möchte es so sagen: Wir möchten, dass Sie unsere Präsenz in den sozialen Medien erhöhen. Dabei aber gleichzeitig den sozialen Medien kritisch gegenüberstehen. Eine kritische Haltung ist uns sehr wichtig. Das ist in etwa so wie mit dem Leben: Man kann es einfach leben, oder es leben und gleichzeitig kritisch reflektieren. Verstehen Sie?“

Die junge Frau sieht mich verwirrt an.

Wer ist diese junge Frau? Sie ist Absolventin eines Bachelor-Studiengangs in Kommunikations- und Mediendesign. Das sehe ich in ihrem Lebenslauf. Sie ist hochmotiviert, mit dem erworbenen Wissen nun ins Berufsleben einzusteigen. Das sehe ich in ihren blauen Augen. Ich trage Verantwortung für sie. Das sehe ich in ihrer Jugend.

Ich habe nun viele Gedanken in meinem Kopf, die vielleicht damit zu tun haben, dass ich mich gerade relativ alt fühle und dass ich drauf und dran bin, mich in diese junge Frau zu ver… – ich will nicht sagen, mich in sie zu verlieben, das scheint mir unpassend, klischeehaft und erwartbar – nein: dass ich drauf und dran bin, mich in diese junge Frau zu… – verdenken. Ja, das ist das richtige Wort: verdenken! Sie regt meine Gedanken an.

Ich sage jedenfalls nicht gut, was naheliegend wäre in dieser Situation voll abwesender Gedanken, nein, ich sage:
„Wollen wir etwas essen gehen und den Rest dabei bedenken?“

Gut, sagt daraufhin die junge Frau.

Das Glück im Zeller Wald

War ich enttäuscht im Leben, bin ich davongelaufen. Ich wollte diesmal Josefine die Schuld für meine Enttäuschung geben, sie als die Verkörperung meiner Enttäuschung definieren und vor ihr davonlaufen. Sie verlassen, um mein Unglück mit ihr hinter mir zu lassen. Aber es funktionierte nicht. Ich spürte die Enttäuschung tief in mir, und nichts und niemand sonst war schuld daran. Kann ich vor mir davonlaufen?

Ich lief tief in den Zeller Wald hinein und verirrte mich. Ich lief zwischen den Bäumen hin und her, bis ich schließlich entkräftet stehen blieb. Ich stützte meine Hände auf meine Knie und atmete keuchend. Es ist nicht nur die Enttäuschung, vor der ich davonlaufe, sondern auch das Glück, dem ich hinterherlaufe. Wo ist das Glück, dem ich so rastlos hinterherlaufe, um es schließlich nie zu finden? Wann finde ich es endlich? Wie weit muss ich noch laufen? Und wohin?

Mitten in meiner Verzweiflung sprang plötzlich Goethe aus dem Gebüsch. Hatte er sich ebenfalls im Zeller Wald verirrt? Lief er auch vor einer Enttäuschung davon? War er nicht längst tot? Ich war beeindruckt von seiner Erscheinung. Er stellte sich neben mich und rezitierte:

Warum denn in die Ferne schweifen,
wenn das Gute liegt so nah?
Lerne nur das Glück ergreifen,
denn das Glück ist immer da!

Dann verschwand er ebenso plötzlich wie er gekommen war und ließ mich alleine. Seltsam, dachte ich, dass Goethe sich im Zeller Wald herumtreibt und mir Glücksbotschafen überbringt. Woher wusste er, dass ich seine Worte gerade jetzt brauche? Sein Auftritt zeigte jedenfalls Wirkung: Er hat recht, dachte ich – das Glück ist immer da! Natürlich!

Ruhe. In mir. Um mich. Ich begann zu gehen und setzte einen Schritt vor den anderen. Nennt man das Vertrauen, was ich jetzt spürte? Dass mich meine Schritte dort hinleiten würden, wo es gut für mich ist? Der Duft der Bäume und Pflanzen durchströmte mich.

Ich setzte einen Schritt vor den anderen. Während des Gehens hörte ich plötzlich Musik:

Ich ging in die Richtung, aus der ich sie vernahm. Ich kam auf eine Lichtung. Am Rand der Lichtung, unter den Bäumen, hatte sich ein Orchester platziert und spielte. Davor saß Schostakowitsch am Klavier. Ich wunderte mich. Ich wunderte mich, dass ich Schostakowitsch erkannte. Kannte ich denn Schostakowitsch? Ich wunderte mich, dass Schostakowitsch, wie Goethe, in den Zeller Wald gekommen war, und noch dazu sein ganzes Orchester mitgebracht hatte. Ich wunderte mich und auch nicht: denn ich war bereit, Wunder geschehen zu lassen. Ich setzte mich ins Gras und hörte Schostakowitsch und seinen Musikern zu. Ein so unfassbar großer Raum tat sich in mir auf, noch viel größer als der Zeller Wald, dass ich mein Glück kaum fassen konnte. Das Glück ist immer da, in diesem Raum voller Wunder und Möglichkeiten, den ich mein Selbst nennen will. Ja, so will ich ihn nennen, diesen Raum!

Geburtstags-Poesie

Mir schwante, dass es nicht gut ausgehen würde. Die Fassaden der Hochhäuser rauschten an mir vorbei. Mein weicher Körper bewegte sich mit voller Schwerkraft auf den harten Boden zu. Kurz vor dem tödlichen Aufprall weckte mich der Klingelton meines Handys, auf dem folgende Nachricht von Steffi stand: Alles Gute zu unseren Geburtstagen! Steffi hatte mir soeben das Leben gerettet, durch das rechtzeitige Senden der Nachricht vor dem Aufprall. Deshalb wollte ich ihr vorschlagen, als Dank sozusagen, dass wir den Tag unserer gemeinsamen Geburtstage gemeinsam verbringen.

Doch dann erinnerte ich mich an Vorderbrandners Worte, der sagt, dass man seinen Geburtstag verbringen soll wie jeden anderen Tag auch. Denn nur die Poesie des Alltags führt uns ins Glück, nicht willkürlich erdachte Festlichkeiten. Der Geburtstag sei ein willkürliches, von der Kalenderlogik bestimmtes Datum. Gäbe es die Kalenderlogik nicht, würde man einfach von Tag zu Tag schleichend älter werden, ohne diesen harten Sprung von einem Lebensjahr ins nächste.

Von harten Sprüngen hatte ich bereits genug an diesem Morgen der schlechten Träume, deshalb beschloss ich, Steffi nicht zu schreiben und stattdessen ins Büro zu gehen, wie jeden Tag. Dort traf ich Vorderbrandner an, wie jeden Tag. Jedoch trug er an diesem Tag eine Nazi-Uniform, einen aufgeklebten Hitler-Bart und seine Haare waren zum Seitenscheitel gegelt.

„Was ist mit dir los?“ fragte ich.
„Ich feiere Geburtstag.“
„Aber du hast doch gesagt, man soll am Geburtstag der Poesie des Alltags huldigen und ihn verbringen wie jeden anderen Tag auch!“
„Natürlich. Das mache ich auch. Denn heutzutage gehört es zur Poesie des Alltags, um jeden Preis aufzufallen. Deshalb habe ich heute Morgen bereits einen Selfie gepostet mit dem Titel: Anlässlich des Referendums in der Türkei feiert Nazi-Deutschland den Geburtstag seines Führers dieses Jahr besonders ausgelassen und heiter.“

August und Auge

Es waren einst zwei Brüder, die hießen Gustav und Georg. Sie wohnten in einem einsamen Häuschen mitten in der Au, deshalb wurden sie August und Auge genannt.

An einem wunderschönen, sonnigen Tag sagte August zu Auge: „Ich werde heute einen Ausflug zu Betty auf dem Bühel machen!“

Auge wollte den Tag lieber mit August in der Au verbringen und versuchte ihn umzustimmen. Er sagte zu August: „Wie willst du einen Ausflug machen ohne Flügel? Fliegen können nur die Vögel!“

August überlegte und sagte schließlich: „Du hast du recht, Auge. Ich habe keine Flügel, deshalb kann ich keinen Ausflug zu Betty auf dem Bühel machen. Ich bleibe bei dir in der Au.“

Auge setzte sich daraufhin an den Flügel, stimmte eine Melodie an und sang mit August das Lied Wenn ich ein Vöglein wär für Betty auf dem Bühel:

Notenständer der Welt

Vorderbrandner hatte ein Treffen mit dem ägyptischstämmigen Künstler Bahiti Chigaru arrangiert, und weil Vorderbrandner große Stücke auf Bahiti Chigaru hält, hatte er den Lokalreporter einer großen süddeutschen Tageszeitung zu diesem Treffen eingeladen. Der Lokalreporter war dieser Einladung gefolgt und gekommen. Zu Beginn des Treffens informierte Vorderbrandner den Reporter, dass er sich mit Bahiti Chigaru im folgenden über die Logik in der Sprache unterhalten wolle. Daraufhin meinte der Reporter, dass das ein Thema sei, das durchaus interessant sei, er jedoch bezweifle, dass es seine Redaktion genauso sehe. Vorderbrandner platzte daraufhin der Kragen, und er schrie den Lokalreporter an:

„Über jedes noch so dilettanische Laienschauspiel in einem abgehalfterten Gemeindezentrum berichten Sie und stellen es als große künstlerische Errungenschaft dar! Oder diese ganzen Hobbymaler und Hobbyschriftsteller, die nichts zu malen und nichts zu schreiben haben, die Sie mit einer Schleimspur in Ihr Blatt hineinredigieren! Aber über Bahiti Chigaru, der schon oft bewiesen hat, wie großartig er die menschliche Existenz darzustellen vermag, der die Ambivalenz der Dinge würdigt wie kein zweiter, über den wollen Sie nichts schreiben! Ich dachte immer, die Presse sei ein sensibles Organ für gesellschaftliche Notstände, aber Sie sind nur ein erbärmliches Anhängsel irgendwelcher Lobbies! Sie haben Angst, nichts als Angst! Jeder Buchstabe, den Sie schreiben, schreit vor Angst! Sie sind an Einfältigkeit nicht zu überbieten! Gehen Sie, verlassen Sie diesen Raum, Sie nichtsnutziger Schmarotzer dieser Gesellschaft!“

Der Lokalreporter wollte zunächst etwas erwidern, überlegte es sich dann jedoch anders und ging mit geöffnetem Mund zur Tür hinaus.

Eine Weile saßen Bahiti Chigaru und Vorderbrandner daraufhin schweigend da. Dann stand Chigaru auf und holte drei Notenständer, die in der Ecke des Raumes lehnten. Er stellte sie in der Mitte des Raumes auf und sagte zu Vorderbrandner:

„Valentin, ich bemerke deine Erregung. Das ist nicht schlimm! Wir werden diese Erregung nutzen für unsere Arbeit. Wir wollten über die Logik in der Sprache sprechen. Du hast vorhin, in deiner Erregung, über Notstände gesprochen. Da ist mir aufgefallen, dass ich dieses Wort lange nicht kannte. Als ich als Kind nach Österreich kam und deutsch gelernt habe, erschien mir eines sehr unlogisch: die Mehrzahlbildung. Es gibt Regeln, aber ich bekam sie nicht in mein Hirn. So dachte ich lange, die Mehrzahl von Notstand sei nicht Notstände, sondern Notenständer. Das war meine Logik: ein Notstand, mehrere Notenständer.

Dazu eine kurze Geschichte: Nehmen wir an, ein Notstand heißt Engelbert, ein anderer Adolf – wir haben also zwei Notenständer, nach meiner früheren Logik. In diesem Raum haben wir drei Notenständer. Wer ist also der dritte Notstand? Manche würden ihn Norbert nennen, andere Heinz-Christian, andere Roman Haider. Aber soll man die Notenständer auf dieses braune Gesindel im deutschsprachigen Raum beschränken? Nein! Vielleicht will dieses braune Gesindel uns nur zeigen, dass überall auf dieser Welt Notenständer herrschen, als eine Art repräsentativer Querschnitt.“

Bahiti Chigaru verteilte die drei Notenständer im ganzen Raum und fuhr fort:

„Angenommen, dieser Raum ist die ganze Welt. Es gibt überall auf der Welt Notenständer. Mein Notstand der Kindheit heißt Hosni, andere nennen ihren Notstand Viktor, Recep, Vladimir oder Donald. Aber wie wir die Notenständer auch nennen – ist es nicht vor allem wichtig, die Menschen hinter diesen Notenständern zu erkennen? Warum handeln diese Notenständer wie Notenständer? Ist es die Stimme der Menschheit, die sie treibt? Ist man nicht zuallererst selbst gefordert, kein Notenständer für andere zu werden beziehungsweise sich von anderen nicht zum Notenständer machen zu lassen? Vielleicht bin ich naiv, aber ich habe immer die Hoffnung, dass Notenständer vor allem auch Menschen sind, die andere Entwicklungsmöglichkeiten haben als Notenständer zu sein.“

Er machte eine kurze Pause und fuhr fort: „Entschuldige! Ich bin etwas vom Thema abgekommen. Eigentlich wollte ich nur erklären, dass Notenständer für mich immer die Mehrzahl von Notstand waren. Das war für mich vollkommen logisch. Deine Erregung jedoch hat mich zu weiteren Ausführungen verleitet.“

Bahiti Chigaru blieb stehen, inmitten der Notenständer. Ist das die hohe Schule der Installationskunst? Vorderbrandner hatte sich mittlerweile wieder beruhigt, fühlte sich aber wie ein Notenständer. Er bereute es, den Lokalreporter so rüde verscheucht zu haben: Vielleicht hätte er ja über den soeben gehaltenen Vortrag von Bahiti Chigaru einen Artikel geschrieben.

Und trotzdem lieb ich sie

Auf dem Weg ins Büro ging ich den Gehsteig entlang und dachte an Dirk von Lowtzow, der sagt, dass es schwer ist, über Musik zu schreiben und leicht ist, sie zu hören. Ich hatte einen kleinen Kuchen für Vorderbrandner dabei: Es war sein Geburtstag.

Als ich an der Tür zum Büro war, hörte ich Musik von drinnen. Ich öffnete, und ein Chanson von Charles Aznavour trällerte in voller Lautstärke durch den Raum. Ich trat näher und sah Vorderbrandner, in seinem Stuhl sitzend nach hinten gelehnt, mit verquollenen Augen. Die Musik und Vorderbrandners lethargischer Zustand erzeugten eine besondere Atmosphäre. Ich sagte nichts. Vorderbrandner sah mich hilfesuchend an. Ich ging näher an seinen Bildschirm und las darauf die Nachricht:

Cher Valentin,

ça va? Bon anniversaire! Heute ich erinnere die Chanson, die du mir hast geschickt damals: Und trotzdem lieb ich sie de Charles Aznavour. Tu es toujours bienvenu a Angers!

Je t'embrasse,
Françoise

Françoise! Vorderbrandner hatte mir oft von einer Françoise erzählt, die er während seinem Auslandsjahr an der Uni in Angers kennengelernt hatte. Er hatte sich unsterblich in sie verliebt. Dann hatte sie ihn während einer Party geohrfeigt. Er weiß nicht mehr wieso, sagt er. Wahrscheinlich hat er es verdrängt, oder die genauen Umstände gingen in seiner Trauer unter. Danach hat er jedenfalls nie mehr mit ihr geredet, sagt er, hörte aber nie auf, über sie zu reden.

Ich stellte den kleinen Kuchen auf Vorderbrandners Schreibtisch, zündete die Kerze darauf an und setzte mich an meinen Schreibtisch. So hörten wir zu zweit Charles Aznavour.

Mir fiel ein, dass Vorderbrandner ständig behauptet, seine Geburt sei ein großes Missverständnis zwischen seiner Mutter und ihm gewesen. Sie hätte ihn nie geliebt, und er wollte nie auf diese Welt kommen. Jetzt sei er aber nun einmal auf dieser Welt und habe dieses Leben durchzustehen. Dies sei eine Version seiner Wahrheit, sagt Vorderbrandner, und im übrigen die Version, an die er sich entschieden habe zu glauben. Eine andere Version würde seinen Vater berücksichtigen. Seinen Vater habe er jedoch nie gekannt, sagt er, das Prinzip Vater sei ihm überhaupt ein Fremdes. Deshalb sei diese andere Version mit Vater keine Möglichkeit für ihn. Er sei ein Muttersohn, den seine Mutter nicht liebt, und dabei bleibt es.

Vorderbrandner saß weiterhin reglos in seinem Stuhl. Ich dachte an die totalitären Denkstrukturen, von denen er oft spricht, in denen er sich gefangen fühle, die ihm aber gleichzeitig Halt geben. Im Totalitarismus sei kein Platz für Liebe, und er sei ein dem Totalitarismus Verfallener, der sich damit abzufinden habe, ohne Liebe zu leben.

Und trotzdem lieb ich sie lief in der Wiederholungsschleife. Eine Träne lief über Vorderbrandners Wangen. An wen denkt er bei diesem Chanson? An Françoise oder an seine Mutter? Wieso erzählt er mir in seinem Schweigen viel mehr, als er mir jemals sagen könnte? Ahnt er die Liebe, nach der er sich so sehnt?

Habe ich jetzt über Musik geschrieben? Ich hoffe, Dirk von Lowtzow verzeiht mir.

Perspektivenwechsel

Ich betrat das Büro und fand Vorderbrandner im Handstand auf dem Schreibtisch stehend vor, sein Gesicht dem Bildschirm zugewandt.

„Was machst du?“ fragte ich erstaunt.

„Agathe hat mir einen Text geschickt, aber ihn leider verkehrt herum eingescannt. Deshalb muss ich ihn verkehrt herum lesen.“

„Du hättest doch den Text um 180 Grad drehen können, anstatt dich selbst zu drehen und in den Handstand zu gehen.“

„Daran habe ich auch gedacht, aber ich war zu faul dazu.“

Etwas verwundert setzte ich mich an meinen Schreibtisch und sah Vorderbrandner dabei zu, wie er kopfüber im Handstand auf dem Schreibtisch stehend den Text las, den Agathe verkehrt herum eingescannt hatte.

„Um was geht es in diesem Text?“ fragte ich.

„Es geht darum, dass das Gehirn eine Gewohnheitsmaschine ist. So steht hier unter anderem, dass es mit ein bißchen Training ohne Probleme möglich wäre, einen Text verkehrt herum zu lesen, also ein Blatt um 180 Grad zu drehen und von rechts unten nach links oben zu lesen, wir aber aus Gewohnheit das Blatt nicht drehen und von links oben nach rechts unten lesen.“

„Dann hat Agathe dir den Text also absichtlich verkehrt herum geschickt: Du solltest den Text normal sitzend von rechts unten nach links oben lesen!“

„Glaubst du?“ fragte Vorderbrandner, während er seine Füße per Überschlag auf den Boden katapultierte. „Agathe meinte jedenfalls, unsere Beziehung brauche einen Perspektivenwechsel, sie bewege sich zu sehr in eingefahrenen Bahnen.“

„Siehst du! Da ist es doch ein guter Start, Texte verkehrt herum zu lesen, um eine neue Perspektive zu bekommen.“

„Finde ich nicht. Wozu soll ich mein Gehirn strapazieren, wenn ich einen Körper habe, den ich bewegen kann!“ sagte Vorderbrandner und katapultierte sich wieder in den Handstand, um weiterzulesen.