Alle Beiträge von EmilHinterstoisser

Stutt ist kein Garten!

Bene, den ich wegen der sprachlichen Präzision in seiner Ausdrucksweise sehr bewundere, berichtet, dass ein Außerirdischer in seinem Garten gelandet sei. Der Außerirdische verfügte über erstaunliche Kenntnisse der deutschen Sprache, und er schien sich ihr über den Weg der Logik genähert zu haben, berichtet Bene weiter, denn der Außerirdische habe folgende Frage gestellt: „Was ist der Unterschied zwischen einem Dorf und einer Stadt?“ Ohne jedoch eine Antwort Benes auf diese Frage abzuwarten, listete er selbst wesentliche Merkmale eines Dorfes und einer Stadt auf, wie etwa die Anzahl der Bewohner, um anschließend eine weitere Frage zu stellen: „Wieso ist euer größtes Dorf Düsseldorf größer als eure größte Stadt Darmstadt?“ Bene, und hier bewundere ich ihn für seine Schlagfertigkeit, erwiderte, dass Frank keine Furt und Stutt kein Garten sei, sondern Städte, die im übrigen größer sind als Düsseldorf was die Anzahl ihrer Bewohner betrifft. Der Außerirdische schien nun an den Grenzen seiner sprachlichen Logik angekommen zu sein, so vermutet jedenfalls Bene, denn nach dieser Antwort Benes verschwand er aus seinem Garten, ohne dass es Bene vorher möglich gewesen wäre, sich einen angemessenen Eindruck über die Anatomie und das Verhalten des Außerirdischen zu machen.

Dennoch fand Bene es angebracht, diesen Vorfall dem wissenschaftlichen Beirat für Außerirdischenforschung zu melden, woraufhin dieser Beirat antwortete, dass er eine Vielzahl solcher Meldungen erhalte, die er in der Regel unbeantwortet lasse, da ihnen meist jeglicher überprüfbarer Realitätsbezug fehle, und er deshalb auch auf die Anfrage Benes nicht näher eingehen könne, da er sich sonst dem Vorwurf der Schiebung, also der ungerechtfertigten Bevorzugung, aussetze. Bene, ungewohnt fahrig in seinem Sprachverständnis, antwortete darauf, dass es sich in diesem Fall um keine Abschiebung handeln könne, da der Außerirdische seinen Garten freiwillig verlassen habe und er deshalb eine Bearbeitung seiner Meldung als angemessen, wenn nicht sogar als geboten empfinde. Nach dieser Ergänzung Benes zu seiner Meldung meldete sich der wissenschaftliche Beirat für Außerirdischenforschung nicht mehr bei ihm, womit anzunehmen ist, dass dieser Fall als beendet erklärt werden kann.

Liste deutscher Großstädte

Kniefall

Es ist ein Herumgepoltere und Geschreie, dass ich mir am liebsten die Ohren zuhalte. Jeder will Recht haben, und hat damit Recht: Denn es stimmt – jeder hat Recht, solange er in seinem Rechthaben das Recht des anderen achtet. Doch überall reklamieren die Despoten das Recht für sich alleine und ernten begeisterten Beifall. Immer mehr rücksichtslose Rechthaber scheinen die Spitzenämter der Politik zu besetzen.

Aus Angst entlarvt zu werden und um von sich abzulenken, wird als letztes Mittel die Nazikeule gegen Deutschland geschwungen. Doch die Geschichte teilt nicht in Gut und Böse, in Opfer und Täter. Waren die Menschen, die aus Ostpreußen vertrieben wurden, lauter schlechte Menschen, nur weil sie Deutsche waren? Wer hat hier Recht? Die Sowjets, die danach kamen? Oder die Polen, die vor lauter Angst nicht mehr wussten, ob sie nach links oder rechts schauen sollen?

Wo bleibt die Demut in diesem Geschreie? Die Geste der Demut ist eine große Geste. Viele sagen, Willy Brandt war damals lediglich ein großer Schauspieler, werfen ihm kalkuliertes Theater der Weltgeschichte vor, das er aufführte bei seinem Kniefall am Warschauer Ghetto-Ehrenmal am 7. Dezember 1970. Aber ich glaube an die Wahrhaftigkeit dieser Geste.

Ich wünsche mir, dass die Despoten, die in mir Angst und Schrecken auslösen, sich hinknien in Demut vor dem Leben, auch wenn diese Geste vielleicht viel größer ist, als sie verkraften können.

Der Erleuchtung

Ich muss mich wohl etwas dämlich angestellt haben, am Fahrkartenautomat, denn hinter mir sagte jemand: „Sie sind wohl keine Leuchte!“

Ich wollte mich umdrehen und sagen: „Nein, ich bin ein Leuchte, denn ich bin männlichen Geschlechts!“ In diesem Moment wurde mir jedoch bewusst, dass das grammatische Geschlecht nichts mit dem natürlichen zu tun hat. Ich bin ja auch eine Person, obwohl ich männlich bin. Eine Frau ist nicht eine Mensch sondern ein Mensch.

Wieso ist es immer so wichtig, alles in männlich und weiblich einzuteilen? Ist das nicht manchmal vollkommen unwichtig? Oder sind wir Menschen so sexbesessen, dass wir alles strikt geschlechterspezifisch trennen müssen? Am meisten stört mich dabei die Verinnisierung der Sprache: die Personin, die Menschin.

Vielleicht befinden sich die Männer in einer Bringschuld. Jahrhundertelang haben sie versucht, ich vermute aus Furcht vor den Frauen, die Sprache zu vermaskulinisieren. Jetzt wäre es an der Zeit, den Frauen sprachlich einen Schritt entgegenzukommen. Ich habe dafür folgenden Vorschlag: Man vertauscht ab sofort das weibliche und männliche Geschlecht in der Sprache. Es ist ab sofort der Person und die Mensch. Vor nichts soll man Halt machen: der Frau und die Mann. Denn ich weiß ja jetzt: Das grammatische Geschlecht hat mit dem natürlichen nichts zu tun.

Ja, so machen wir das, dachte ich mir, während ich mein Fahrkarte zog. Ich drehte mich um und sah ein Schlange von Menschen.

„Entschuldigen Er, dass Er solange warten mussten, aber ich bin soeben erleuchtet worden“, sagte ich: „Ich bin jetzt ein Leuchte, sozusagen. Der Welt ist jetzt ein anderer für mich, rein sprachlich, auch wenn nachts noch immer die Mond scheint und nicht der Sonne.“

Schafft die Noten ab!

Ich hatte gerade eine erfolgreiche Session im Studio hinter mir. Ein neues Stück nahm Formen an. Ich ging pfeifend die Straße entlang, um meine Tochter vom Hort abzuholen, als ich folgende Schlagzeile im Zeitungskasten sah: SCHAFFT DIE NOTEN AB!

Ich war empört! Welcher Musikbanause kann so etwas fordern! Sicher, Musik geht auch ohne Noten, aber Noten gehören zur europäischen Musikkultur. Welch ein Verlust, wenn Bach, Mozart oder Beethoven keine Noten aufgeschrieben hätten!

Ich hatte mich noch nicht beruhigt, als mir meine Tochter im Hort tränenüberströmt entgegenlief. Sie fiel mir in die Arme und schluchzte: „Papa, ich habe in der Klassenarbeit nur eine Drei geschrieben. Und sogar Maria, die sonst immer schlechter ist als ich, hat eine Zwei bekommen.“

Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht oder allen Eltern, aber wenn ich etwas nicht ertrage, ist es, meine Tochter weinen zu sehen, obwohl das mittlerweile schon acht Jahre lang mehr oder weniger oft passiert. Ich kann mich daran nicht gewöhnen. Ich war also mindestens so empört über diese Drei wie meine Tochter traurig darüber, und dachte mir: Dieser Druck ist nicht gesund für die Kinder. Schafft die Noten ab!

Mit schlechter Laune machten wir uns auf den Heimweg, der uns wieder am Zeitungskasten vorbeiführte. Ich wollte nicht mehr hinschauen, tat es aber dann doch und las: SCHAFFT DIE NOTEN AB!

Gottseidank habe ich hingeschaut! Verwundert über meine Verbohrtheit, die man auch Blödheit nennen könnte, kaufte ich mir eine Zeitung. Ich las über die Forderung der Abschaffung von Schulnoten. Kein Mensch redet von Musiknoten. Ich trällerte fröhlich die Melodie meines neuen Stückes und sagte frohgemut zu meiner Tochter: „Mach dir keinen Kopf über deine Drei! Die Schulnoten werden bald abgeschafft.“

Was ich weiß… darf niemals siegen!

Sind es zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß? Die Blätter an den Bäumen, sind sie Wirklichkeit, jetzt, wo sie noch nicht da sind, und ich nur aus meinen bisherigen Frühlingserfahrungen annehmen kann, dass sie kommen werden? Sind es die Blätter oder sie, die kommen werden, oder ist es der Einfachheit halber leichter, anzunehmen, dass beide kommen werden?

Die Wirklichkeit ist im Kopf, und ist sie nicht im Kopf, so ist sie nirgendwo. Das ist mir zu kopflastig, und ich denke: Pure Vernunft darf niemals siegen, ich brauche dringend neue Lügen. Wenn nur die Blätter an den Bäumen bald kommen würden, und vor allem sie, dass sie kommt, die Wirklichkeit!

Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß

Pure Vernunft darf niemals siegen

Im Raum gesenkte Köpfe und hängende Arme

Ich hatte Angst davor, den Raum zu betreten. Doch ich betrat ihn, weil er mir so vertraut war. Ich betrat ihn, wie ein kleiner Junge sich in den Schoß seines Vaters schmiegt. Im Raum sah ich nichts, und als ich inmitten der Finsternis stand, sprach eine Stimme zu mir:

Da kam der Winter und zehrte an mir. Dunkel war es und der weiße Schnee begrub alles unter sich. Ein weißes Blatt, das alles vorherige ungeschrieben macht. Ein Neuanfang in tiefer Einsamkeit. Äußerlich wärmt der Ofen, innerlich friere ich weiter. Werde ich jetzt lernen zu leben? Man zeigte mir nur, wie man stirbt, wie man elendig verreckt, bei lebendigem Leib. Wie man äußerlich noch lebt und innerlich schon gestorben ist. Die Schläge eines Aufgegebenen auf meinem Körper, wie Peitschenhiebe aus der Hölle. Warum tut er das? Ich will sie nicht sehen, die Verzweiflung im Gesicht eines Gestorbenen. Ich will dem Tod nicht ins Auge sehen. Ich krümme mich zusammen und habe schon lange aufgegeben zu glauben, dass er kommt, der Frühling.

Diese Stimme war mir sehr vertraut gewesen, als sie gesprochen hatte. Ich wollte mich anschmiegen an sie. Doch sie sprach nicht mehr. Es war wieder Stille im Raum, stille Finsternis, als zu meiner Überraschung plötzlich ein Sonnenstrahl in eine Ecke des Raumes leuchtete und dort, in dieser Ecke des Raumes, zu meiner weiteren Überraschung, ich einen Körper erkannte mit gesenktem Kopf und hängenden Armen. Vor mir erkannte ich nun ein Fenster mit zugezogenem Vorhang, jawohl, ein Fenster mit zugezogenem schwarzem Vorhang, der einen Spalt frei ließ für den Sonnenstrahl. Ich ging zum Vorhang, um ihn gänzlich beiseite zu ziehen, um das Licht hereinzulassen, da hob sich plötzlich ein hängender Arm neben mir und packte mich fest an der Schulter. Erschrocken ob dieser Vitalität des eben noch hängenden Arms blieb ich stehen und sah wie ein anderer Arm, der eben ebenfalls noch hängend war, den Vorhang vor mir wieder fest zuzog und den Sonnenstrahl aus dem Raum verbannte.

Nun also wieder Stille im Raum, stille Finsternis, was mich wahnsinnig machte und mich veranlasste, laut zu schreien. Doch die Stille hielt an trotz meiner Schreie. Die Köpfe wieder gesenkt und die Arme hängend. Ich sah sie nicht in der Finsternis, aber ich spürte sie, wie sie sanken und hingen. Die Stille kommentarlos, beklemmend. Von irgendwo – von wo? – von draußen, ja, von draußen, ein Lachen, dass hier im Raum wie ein Weinen wirkte.

Allmählich fragte ich mich, was ich hier tat, in diesem Raum voll gesenkter Köpfe und hängender Arme. Mich beschlich eine grauenvolle Ahnung, dass ich vielleicht nichts tun kann, als hier zu sein, in diesem dunklen Raum, der mir, obwohl so finster, doch so vertraut war. Ich wusste, dass ich nichts weiter tun müsste, als den Vorhang beiseite ziehen, doch ich tat es nicht. Hatte ich Angst vor den hängenden Armen, die plötzlich wieder stramm zupacken würden? Jedenfalls unternahm ich nicht den Versuch, den Vorhang beiseite zu ziehen, sondern setzte mich auf den Boden, senkte meinen Kopf und ließ meine Arme hängen. Sollte ich nun warten, bis das Leben von mir weicht, oder hatte das Leben noch anderes mit mir vor? War dieser Raum mein Schicksal?

Als ich mitten in dieser stillen Finsternis saß und gelegentlich noch immer überlegte, aufzustehen und den Vorhang beiseite zu schieben, um den Sonnenstrahl in den Raum zu lassen, stürzten plötzlich alle Mauern um mich ein. Durch diesen Einsturz war die stille Finsternis so schnell gewichen, dass das viele Licht mich schockierte. Erschöpft streckte ich mich zu Boden.

Als ich wieder zu mir gekommen war, sagte eine Stimme, eine fremde Stimme, zu mir, dass ich aufstehen soll. Ich war erstaunt über die Klarheit dieser Stimme. Ich blickte mich nach den gesenkten Köpfen und hängenden Armen um. Denn sie waren mir vertraut in dieser nun so fremden, offenen Welt. Aber sie waren nicht mehr da. Nach Lage der Dinge ist davon auszugehen, dass die eingestürzten Mauern die gesenkten Köpfe und hängenden Arme unter sich begraben haben. Jedenfalls sah ich sie nicht mehr. Seltsam, dass ich überlebt habe, dachte ich mir, als die fremde Stimme mir nochmals sagte, aufzustehen, was ich schließlich, zu meinem Erstaunen, tatsächlich tat, denn ich dachte mir bis zu diesem Moment, dass ich nie mehr aufstehen würde.

Ich stand also auf und ging über die Reste der eingestürzten Mauern. Ich stolperte mehr als ich ging. Die Luft war erstaunlich frisch. Ich hatte großen Spaß daran zu atmen und wurde ebenso frisch wie die Luft. Was sollte ich jetzt anfangen mit dem Raum, wo er plötzlich so groß war? Mit dieser neuen, weiten Welt. Keine Mauern mehr. Reflexartig wollte ich den Kopf einziehen, um mich zu schützen, als mich die fremde Stimme, die mir mittlerweile sehr vertraut und nicht mehr fremd war, ermahnte, den Kopf zu heben. So ist das also nun, dachte ich: den Kopf heben! – Ich lachte und stolperte weiter über die Reste der eingestürzten Mauern.

 

Das Wohnzimmer im besonderen Kontext des Lebens meiner Großeltern

oder: Lichtmess und der zweckloseste Raum, den ich je erlebt habe

Meinen Soziologieprofessor an der Uni, Herrn Dr. Klaus Zapiczinsky, habe ich als einen sehr gutherzigen und weltoffenen Menschen kennengelernt. Manchmal übertrieb er es mit seiner Gutherzigkeit, wie ich finde: Als ich und ein paar Kommilitonen unsere mündliche Prüfungen bei ihm ablegten und alle gemeinsam in seinem mit Büchern zugestellten Büro saßen, wusste einer der Kommilitonen auf keine der Fragen, die ihm Professor Zapiczinksy stellte, eine rechte Antwort, woraufhin Professor Zapiczinsky zu ihm sagte: Sie haben leider nichts gewusst. Genügend. Andererseits ermutigte mich seine Gutherzigkeit dazu, ihm folgendes Thema für meine Seminararbeit vorzuschlagen: Das Wohnzimmer im besonderen Kontext des Lebens meiner Großeltern.

Das Wohnzimmer ist das meistüberschätzte Zimmer in einer Wohnung. Man isst nicht darin, man schläft nicht darin, die Geselligkeit erschöpft sich oft im gemeinsamen Fernsehen. Allein ist man sowieso nie, ständig kann jemand unangemeldet hereinkommen, sei es der Partner, die Kinder oder sonstige Personen, mit denen man die Wohnung teilt. Das Wohnzimmer ist purer Luxus, ein Salon der kleinen Leute. Nach diesen Argumenten erkannte Professor Zapiczinsky die Notwendigkeit einer soziologischen Untersuchung des Wohnzimmers und stimmte meinem Seminarthema zu.

Als ich die Arbeit abgeschlossen hatte, stellte ich sie dem Auditorium zwischen den Bücherstapeln in Professor Zapiczinskys Büro vor:

Meine Großeltern haben kurz nach dem Krieg ein kleines Häuschen gebaut: quadratischer Grundriss, je drei Zimmer im Erdgeschoss und im ersten Stock, und im nordöstlichen Eck eine Diele, die über eine gekurvte Treppe die Stockwerke verband. Die Zimmer im ersten Stock lagen bereits unter dem Dach. Außerdem gab es einen Anbau mit Waschküche, Holzlage und Hühnerstall, über die Diele erreichbar. Meine Großeltern bewohnten nur die zwei südlichen Zimmer im Erdgeschoss: ihre Wohnküche und ihr Schlafzimmer. Das dritte Zimmer im Erdgeschoss war Kinderzimmer, die Mansardenzimmer im ersten Stock haben sie als Einliegerwohnung vermietet.

Als mit den Jahren das Nachkriegs-Wirtschaftswunder immer wunderbarer und meine Mutter erwachsen wurde, war meiner Großmutter, die einem stolzen Bauerngeschlecht entstammte, das kleine Häuschen ohne Wohnzimmer nicht mehr repräsentativ genug. Mein Großvater meinte, man könne doch das nördliche Zimmer als Wohnzimmer nutzen, weil meine Mutter ohnehin bald ausziehen würde, woraufhin meine Großmutter meinte, dieses Zimmer sei viel zu dunkel für ein Wohnzimmer, und wer sagt denn, dass meine Mutter ausziehen werde. Meine Mutter hatte während dieser Diskussionen meinen Vater kennengelernt und ihn geheiratet. Mein Vater entstammte einem ebenso stolzen Bauerngeschlecht wie meine Großmutter, was meiner Großmutter gefiel, und so beschloss meine Großmutter: Meine Eltern sollten den ersten Stock des Hauses beziehen. Dazu sollte das Haus vergrößert werden. Der vergrößerte Grundriss würde es erlauben, ein südwärts gerichtetes, helles Wohnzimmer im Erdgeschoss einzurichten.

Dieser Beschluss wurde umgesetzt, bereits in Anwesenheit meiner älteren Schwester, jedoch in meiner Abwesenheit. Aus dem ersten Stock wurde eine geräumige 5-Zimmer-Wohnung mit schönem Balkon, einer Wohnküche und einem modernen Bad. Meine Großeltern aber schienen dem Wirtschaftswunder während der Bauphase nicht mehr recht zu trauen, denn ihre Wohnung im Erdgeschoss blieb diesselbe, lediglich um einen Raum gestreckt. Sie wohnten in ihrer Wohnküche und schliefen in ihrem Schlafzimmer, das durch die bauliche Vergrößerung um einen Raum nach Westen gerückt war. Sie hatten also einen zusätzlichen Raum zwischen Wohnküche und neuem Schlafzimmer: ihr vormaliges altes Schlafzimmer. Diesen Raum richteten sie als Wohnzimmer ein, mit schönem Holzboden, einem eleganten Sofa mit dezenten grün-blauen Stoffbezügen und zwei dazupassenden Sesseln. Die Besuche konnten nun kommen und mit Stil empfangen werden. Doch da man das Wohnzimmer nur durch die Wohnküche betreten konnte, blieben die Besuche immer in der gemütlichen Wohnküche hängen, mit ihrem Holzofen, der Sitzecke und dem Diwan. Das Wohnzimmer sollte immer nur ein Durchgangszimmer zum Schlafzimmer bleiben – das zweckloseste Zimmer, das ich je erlebt habe. Oder wollten meine Großeltern mit dieser innenarchitektonischen Anordnung lediglich die Absurdität der Wohnzimmerkultur aufzeigen?

Am 2. Februar denke ich oft an das ehemalige Wohnzimmer meiner Großeltern, das sie nur als Durchgangszimmer nutzten. Meine Großeltern hatten jedes Jahr bis zu diesem Tag, dem 40. nach Weihnachten, einen Weihnachtsbaum in ihrem Wohnzimmer aufgestellt, wahrscheinlich um eventuellen Besuchen einen festlichen Rahmen zu bieten. Da der Raum nie beheizt wurde, weil sich nie jemand darin aufhielt, blieben die Nadeln des Baums jedes Jahr bis zum 40. Tag schön grün. Oft saß ich als Kind in der Weihnachtszeit am Baum, um mich an den brennenden Kerzen zu wärmen und mit den Figuren der darunterstehenden Krippe zu spielen. Ich war also, wenn ich mich recht erinnere, die einzige Person, die sich in diesem Raum aufhielt und ihn nicht nur durchschritt wie meine Großeltern, um zu ihrem Schlafzimmer zu gelangen.

Am 2. Februar haben meine Großeltern den Baum und die Krippe abgebaut, denn an diesem Tag endet nach dem christlichen Bauernkalender die Weihnachtszeit. Die Sonne wandert schon seit über einem Monat Richtung Nordhalbkugel. Die dunkelsten Nächte sind vorbei, und der Frühling meldet langsam seine Ansprüche gegenüber dem Winter an. Der Tag wird Lichtmess genannt, weil wieder Licht ins Leben kommt, weil das Leben neu erwacht. Dank Lichtmess habe ich an das Wohnzimmer meiner Großeltern schöne Erinnerungen, obwohl es der zweckloseste Raum war, den ich je erlebt habe.

Nach Ende meines Vortrags blickten die meisten meiner Kommilitonen recht gelangweilt drein, während Professor Zapiczinsky zufrieden nickte und sagte: Gratulation – Sie hatten, man kann es wohl so sagen, eine glückliche Wohnzimmer-Kindheit. Sehr gut.

Lichtmess in Volksmund und Tradition

Raum zwischen uns

So sieht dieser Raum also aus, denke ich mir, wenn ich ihn von dieser Seite betrete, wenn die Lichter auf mich gerichtet sind. Hinter dem starken Licht erahne ich den Zuschauerraum und die darüberliegenden Logen. Die Probe startet in Kürze, bitte alle hinter die Bühne, ruft jemand von der Regie. Raum zwischen uns heißt das Stück, für das geprobt wird. Es handelt von Menschen, die keinen Raum lassen zwischen sich und anderen Dingen: Paare kleben aneinander, bis sie sich angeekelt auseinanderreissen; Eltern halten ihre Kinder an der kurzen Leine, bis sie sich damit strangulieren; Besitztümer werden angehäuft, bis man an ihnen zu ersticken droht.

Die Bühne ist leer und dunkel, Ruhe im Saal. Plötzlich ein lautes Stöhnen von oben, von einer der Logen. Der Psycho! sagt jemand hinter mir.
„Was machen Sie hier? Wer hat Sie zur Probe hereingelassen?“ höre ich draußen im Zuschauerraum die Regie nach oben rufen.
„Ich hatte einen schlechten Tag. Bitte, bitte – lassen Sie mich bleiben! Hier ist mein einziger Ort der Ruhe, während ich draußen nur bedrängt werde! Bitte, lassen Sie mich bleiben!“ tönt es von der Loge herab.
„Also gut. Aber seien Sie ruhig während der Probe!“

Hinter der Bühne werde ich aufgeklärt über den Vorfall: Der sogenannte Psycho ist ein Dauerkarteninhaber, der eine Loge gemietet hat, im Haus bekannt als Psycho-Loge. Er habe schon viele Premieren empfindlich gestört, zu den Proben sei er aber bisher noch nie gekommen.
„Kommt bestimmt aus der Wirtschaft“, sage ich: „Geschäftsführer, Manager – alles Psychopathen!“ Kein Raum zwischen mir und meinen Vorurteilen, denke ich noch, als es wieder ruhig wird.

Die Bühne also nach wie vor leer und dunkel, wieder Ruhe im Saal. Wir fangen an. Die Probe läuft gut, ohne Unterbrechungen. Schließlich kommt die Szene zwischen ihr und ihm: Sie, die bezeichnenderweise Liane heißt, küsst ihn, umarmt ihn, bis er sich schließlich von ihr losreisst und verzweifelt sagt: „Ich liebe dich, aber du gibst mir keine Luft zum Atmen. Ich ersticke mit dir. Ich brauche Raum zwischen uns!“

Nach diesem Satz ertönt plötzlich ein lauter Schrei von der Psycho-Loge:
„Ja, das ist es!“ ruft der Psycho. „Ich brauche einen Raum zwischen meinem Büro und dem meiner Sekretärin! Diese Frau bringt mich noch um mit ihrer Kontrollsucht! Kein Wunder, dass ich meine Ehefrau vernachlässige! Und vor allem mich, dass ich mich vernachlässige! Ich brauche einen neuen Porsche, nur für mich!“

Wir stoppen unser Spiel, alle blicken zur Loge hoch. Der Psycho blickt kurz zu uns herab, steht dann auf und rennt aus der Loge. Wir proben weiter, sagt daraufhin die Regie, und Liane schlingt sich wieder um ihren Liebhaber.

Otto der Maulwurf

In der Schule war ich recht gut im Sport, was die Beine und Füße betraf. Ich lief sehr schnell und ausdauernd und konnte gut gegen den Ball treten. Sobald es aber auf die Fertigkeiten mit Armen und Händen ankam, verließen mich Kraft und Geschick. Handball, Basketball und Volleyball waren eine Qual für mich. Beim Völkerball durfte ich nie König sein, denn ich schaffte es nicht, den Ball ordentlich über das Feld zu werfen. Am schlimmsten war das Speerwerfen. Ich konnte mit dem Speer nicht umgehen, warf ihn kraftlos und ungelenk, und meist landete er wenige Meter vor mir unwürdig im Gras.

Ich wäre leicht zum Gespött meiner Mitschüler geworden. Doch unser Sportlehrer hatte eine Vorliebe für Fußball, sodass ich die seltenen Speerübungen irgendwie rumbrachte, ohne größeren Schaden zu nehmen. Und es gab Otto. Otto hatte solch krumme Beine, dass er mit ihnen entweder ausschlug wie ein wildes Pferd oder eines dem anderen im Weg war. Beim Speerwerfen war er so damit beschäftigt, nicht über seine Beine zu fallen, dass der Speer schließlich beim Abwurf wie ein nasses Handtuch von seiner Wurfhand fiel. Einmal hätte er es fast geschafft, sich selbst mit dem Speer zu erschlagen.

In einem Schuljahr hatten wir einen jungen Referendar als Sportlehrer. Der bevorzugte Handball, Basketball und Volleyball gegenüber Fußball. Und auch Speerwerfen machte er recht gern mit uns. Es war ein furchtbares Schuljahr für mich. Die einzige Zeit in meinem Leben, in dem Sport eine Qual war.

Ich mühte mich also wieder beim Speerwerfen, aber der Speer wollte nicht recht weit fliegen. Beschämt schlich ich mich nach jedem Wurf von dannen. Dann kam Otto an die Reihe, an jenem sonnigen Frühlingstag, als wir wieder einmal Speere warfen. Otto galoppierte mit dem Speer über die Wiese, bei jedem Schritt in Gefahr, dass seine Beine sich ineinander verhaken. Er holte mit seinem Wurfarm weit aus, viel weiter als sonst. Es sah tollkühn aus, aber man brauchte kein Prophet sein um zu erkennen, dass das schief gehen musste. Indem er diese für ihn ungewöhnlich weite Armbewegung machte, verloren seine Beine vollends ihre Koordination. Sie zappelten hilflos ineinander verschlungen in der Luft, bis er schließlich mit dem Kopf vorwärts zu Boden stürzte. Sein Gesicht lag im Gras, es hatte ihn voll aufs Maul gelassen. Der Speer, den er vor Schreck vergaß loszulassen, steckte direkt neben ihm in der Erde.

„Na Otto“, sagte der junge Referendar, der nicht wusste wie er mit Ottos Tolpatschigkeit umgehen soll, daraufhin flapsig: „Das war nun kein Speerwurf, sondern ein Maulwurf!“

Die ganze Klasse johlte: „Maulwurf! Maulwurf!“, während Otto sein Gesicht, das blutverschmiert war, langsam zur Seite drehte. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Später stellte sich heraus, dass er sich dabei den Schädel geprellt und die Nase gebrochen hatte. Ich war heilfroh, dass es Otto gab, denn sonst wäre ich der Maulwurf gewesen, über den sich Hohn und Spott ergossen hätte.

Ich beschloss nun, die Sache mit dem Werfen offensiver anzugehen. Ich schnappte mir zuhause einen Ball, ging damit auf eine einsame Lichtung im Wald und warf ihn, warf ihn, warf ihn, immer wieder, bis es mir richtig Spaß machte. Dann suchte ich mir einen langen, geraden Holzstecken, der am Waldboden herumlag, als Speerersatz, und warf ihn wie den Ball, immer wieder. Viele Nachmittage verbrachte ich so im Wald. Ich bin kein guter Werfer geworden, aber ein passabler. Der Speer fliegt nun in respektabler Kurve und landet in achtbarer Entfernung. Handball, Basketball und Volleyball mag ich immer noch nicht. Der Fußball ist meine wichtigste unter den unwichtigen Sachen geblieben. Aber beim Völkerball springe ich gern mal als König ein.

Vor kurzem habe ich meine Eltern besucht und Otto auf der Straße gesehen. Sehr konzentriert und schnell riss er seine Beine hin und her während er ging, als hätte er noch immer Angst, dass er plötzlich hinfällt und ihn jemand Maulwurf ruft. Ich hielt ihn nicht auf in seinem strammen, verkrampften Schritt, denn ich hätte nicht gewusst, was ich sagen soll. Ihm zu sagen, dass ich ihm sehr dankbar bin, weil ich durch ihn meine Kraft und mein Geschick in meinen Armen und Händen entdeckt habe, erschien mir nicht passend. Er bewegte sich immer noch wie Otto der Maulwurf, und auch das hätte er bestimmt nicht hören wollen.

 

Volksdeutsches Bier

Vor kurzem habe ich bei einem spontanen Konzert unter Freunden den Klassiker Griechischer Wein von Udo Jürgens zum besten gegeben. In den Tagen danach dachte ich mir, dass dieser Klassiker einer Auffrischung bedarf, einer Aktualisierung. Denn das Fremden-Thema, das im Orginal-Text besungen wird, ist aktueller denn je. Und außerdem soll es nicht immer nur um die Fremden gehen, sondern auch um die Deutschen und wie die sich damit fühlen.

Ich habe deshalb einen neuen Text geschrieben. In dieser neuen Version gerät ein offensichtlich integrationswilliger aber auch leichtsinniger Asylant in eine Kneipe, in der Rechtsradikale herumhängen:

Volksdeutsches Bier

Es war schon dunkel
als ich mit Asylanten heimwärts ging.
Da war ein Wirtshaus aus dem das Licht
noch auf den Gehsteig schien.
Ich hatte Zeit und mir war kalt,
drum trat ich ein.

Da saßen Männer mit roten Augen
und mit Glatzen da,
und aus der Jukebox erklang Musik
die furchterregend war.
Als man mich sah,
stand einer auf,
schlug auf mich ein.

CHORUS
Volksdeutsches Bier
ist so wie das Blut der Erde,
Burschi bleib hier!
Und wenn ich dann aggro werde,
liegt es daran,
dass ich immer träum dich zu verhaun,
komm, lass dich haun!

Volksdeutsches Bier
und die altvertrauten Lieder,
Burschi bleib hier!
Denn ich fühl die Sehnsucht in mir,
dich zu verhaun,
und darauf mein Ego aufzubaun,
lass dich haun!


Und dann erzählten sie mir
von blauen Augen, blondem Haar.
Und von dem Führer der ein Kind
von deutschen Eltern war.
Und von dem Krieg, der Deutschland
als Verlierer sah.

Sie sagten sich immer wieder
irgendwann sind wir zurück!
Und solche wie dich brauchen wir
bestimmt nicht auf dem Weg ins Glück.
Sie standen auf
und schlugen alle auf mich ein.

CHORUS

Die AfD hat sich bereits bei mir gemeldet und will das Lied mit dem neuen Text zur offiziellen Parteihymne machen. Stop, so war das nicht gemeint! Ich habe vergessen, dass es eine Welt gibt, die komplett ohne Ironie auskommt. Und dass Satire keine Chance mehr hat gegen die Realsatire von Trump & Co.

Original von Udo Jürgens