Aufruf an M-XX 5903

Vorgestern, es war ein heißer Tag, fuhr ich um etwa halb fünf Uhr nachmittags mit dem Fahrrad die Zieblandstraße am Alten Nordfriedhof entlang. Sie ist dort und recht eng, weil die Autos an beiden Seiten parken und auch die hohen, alten Bäume, die dort zu beiden Seiten stehen und eine Allee formen, auf das Raumgefühl drücken.

Da kamst du mir entgegen in deinem Auto, in recht flottem Tempo für die engen Verhältnisse. Abrupt bremstest du ab als wir aufeinander trafen, weil es natürlich zu eng wurde. Du zwangst mich, einen Haken zu schlagen und vom Fahrrad abzusteigen, um eine Kollision zu vermeiden. Als ich das Feld geräumt hatte und du an mir vorbeifuhrst, hörte ich dich aus dem Auto rufen: „Warte doch! Ich bin ein Idiot!“

Das waren krasse Worte der Selbsterkenntnis, und ich konnte nur stehenbleiben, wie du es befohlen hattest, so donnerten deine Worte auf mich ein. Außerdem musste ich doch annehmen, du würdest mir näher erklären wollen, was es mit deiner Erkenntnis auf sich hat. Stattdessen aber gabst du Gas und braustest davon.

Ich erkannte deine Not und beschloss, dir zu folgen. Dem Mann muss geholfen werden, dachte ich. So trat ich fest in die Pedale, auf eine rote Ampel hoffend, an der ich dich dann einholen würde. Aber ich sah nur noch, wie du in rasanter und waghalsiger Fahrt um eine Kurve bogst. Ich dachte, vielleicht ist das das Profil eines Idioten: Einer sehr kurzen Phase der Selbsterkenntnis folgt ein umso intensiveres Ausleben der Neigung. Eine wahre Idiotie eben. Und du hattest mich angesteckt: Wie kam ich auf die Idee, dir in dieser Hitze hinterher zu hetzen wie ein Idiot?

Ich besann mich und gab die Verfolgung auf. Ich wollte ja ohnehin nur ganz gemütlich und entspannt ans Wasser fahren, bevor ich dich, einen selbsternannten Idioten, getroffen hatte. Dort angekommen und nach der Abfrischung sprach ich mit einem Bekannten über meine Begegnung mit dir. Der brachte die Variante ein, du könntest auch gesagt haben: „Warte doch! Du bist ein Idiot!“

Das wäre dann ganz schön dreist von dir gewesen! Erst nötigst du mich zum Hakenschlagen und Absteigen, befiehlst mir zu warten, um mich einen Idioten zu nennen, um dann ohne weitere Erklärung davon zu brausen.

Was immer du genau gesagt hast – es hat etwas mit Idiotie zu tun und fühlt sich nicht gesund an. Ich spüre deine Not. Wenn du das hier liest, dann komm doch bitte bald wieder in die Zieblandstraße am Alten Nordfriedhof. Du parkst dann dein Auto in eine Parklücke, und wir gehen gemeinsam eine Runde im Friedhof. Du erzählst mir, was es mit deiner Idiotie auf sich hat. Denn im Duden steht: Idiotie ist ein angeborener oder im frühen Kindesalter erworbener Intelligenzdefekt schwersten Grades. Du wirst mir also viel zu erzählen haben. Ich werde dir zuhören. Vielleicht hilft es dir.

Herzlichst, dein Emil

Antisozial

Was ich als soziale Medien erlebe, veranlasst mich, antisozial zu werden. Zum Beispiel mich ohne elektronischen Hinweis, ohne dass Facebook es weiß, mich persönlich mit jemandem zu treffen.

Gräben ohne Grund

Sie kam entlang des Weges im leicht diffusen Licht eines Sommertages. Der leichte Wind war plötzlich weg, und die Blätter der Bäume hinter ihr bewegten sich nicht mehr. Sie selbst schien sich zu verlieren in dieser ehrfurchtsvollen Stille, die für sie eingetreten war. Langsam und unsicher ging sie weiter. Sie schaute zu mir, doch in dem Moment, als ich zum Gruß ansetzte, schaute sie wieder weg.

Ich verstand nicht. Ich verstand nicht, was gegen einen Gruß sprechen sollte. Sie schaute sich weiter um; sie schien bleiben zu wollen. Dann umfasste sie plötzlich fest ihre Decke und ging weiter. Sie ging weiter mit merkbar schnellerem Schritt. „Ihr folgen ist vergebliches Bemühn“, sagt Demetrius in Shakespeares Sommernachtstraum, und in diesem Fall stimmte das auch für mich. Ich sah ihr nach, und ich sah, wo sie hin ging: an die Stelle gegenüber; immer noch in meinem Blickfeld, aber zu weit weg, um sie noch bei mir zu wähnen. Mit dem Bach zwischen uns, der mit seinem Wasser zwar herrlich erfrischte an diesem heißen Tag, aber sich wie ein tiefer Graben auftat zwischen uns.

Kurz überlege ich, ob ich die Gründe kennen möchte für ihr Verhalten. Kurz meine ich, dass ich die Gründe kennen möchte für ihr Verhalten. Doch schnell erkenne ich, dass es mir nicht zusteht, sie zu kennen; dass diese Gründe ihre eigenen Gründe sind und sie kennen zu wollen ein unerlaubtes Überschreiten des gezogenen Grabens wäre.

Später habe ich sie noch einmal gesehen, beim Baden. Sehr zögerlich näherte sie sich dem Wasser; sehr vorsichtig ging sie hinein. So als erschräke sie vor den Gräben, die sie selbst aufzureissen scheint. Aber das ist wieder nur ein Gedanke von mir, mehr angstvoll als verständnisvoll.

Der Bach erfrischt herrlich; viel zu herrlich, um ihn als Graben zu denken.