Stillsee – oder: Aus dem Leben eines Spießers

Sonntag, das muss ich zugeben, ist der Tag, mit dem ich am wenigsten anfangen kann. Dem Sonntag fehlt die Ordnung der anderen Wochentage.

Während der Woche komme ich gar nicht zum Denken, was ich tun könnte. Meistens wird es spät in der Arbeit. Abends wartet meine Frau mit dem Essen, oder auch nicht. Wenn nicht, dann trinke ich ein Bier mit einem Kollegen, meistens mit Basti. Wenn Fußball läuft schauen wir Fußball zum Bier. Selber Sport machen geht sich meist nicht aus, obwohl ich eine Jahreskarte im Fitnessstudio habe. So vergeht also jede Woche.

Auch der Samstag hat meist seine feste Ordnung. Einkaufen, etwas besorgen, sich um die Wohnung kümmern. Nachmittags oder abends trifft man sich mit Freunden und die Männer reden über Fußball. Oder über die neueste Technik und was man sich davon geleistet hat. Da denk ich mir oft: Gottseidank hab ich so einen guten Job dass ich mir all das leisten kann und hoffentlich verlier ich den nie, sonst können wir uns das alles nicht mehr leisten was wir uns leisten, und bei den Freunden bräuchten wir uns gar nicht mehr blicken lassen.

Doch am Sonntag, da wache ich manchmal auf und denke mir: Was mache ich bloß mit diesem Tag? Die Geschäfte haben zu, man kann also nichts besorgen. Und dauernd online sein ist auch nicht gut; ich lese immer mehr Artikel über Internet-Süchtige, zu denen will ich wirklich nicht gehören. Wobei mir jetzt gerade einfällt, dass ich mich schon längst um eine vollintegrierte Musikanlage für die ganze Wohnung kümmern wollte.

Meine Frau meint, wir könnten rausfahren, in die Natur, an den See. Und sie hat recht: Am Sonntag soll man etwas Schönes tun, sich entspannen, damit man montags wieder fit in die Arbeitswoche startet. Also packen wir die Sachen. Doch dann sagt meine Frau, ich solle doch mal ihre Haare anschauen! So könne sie sich nicht blicken lassen. Mir ist klar – das dauert mindestens eine halbe Stunde, bis sie fertig ist. Bleibt mir Zeit, die neue Navigations-App runterzuladen. So finden wir viel leichter an den See.

Nach dieser halben Stunde höre ich sie dann im Kleiderschrank rumkramen. Als ich zu ihr ins Schlafzimmer gehe, meint sie: „Ich finde kein passendes Kleid!“
„Was ist mit diesem Zalando-Paket hier? Ist da nicht vielleicht ein passendes drin?“
„Nein, das habe ich mir für die Grillfeier nächsten Samstag gekauft.“

Beinahe können wir nicht fahren, weil sie kein passendes Kleid findet. Doch wie meist findet sich doch noch ein passender Stoff, mit dem sie ihre Haut bedeckt. Schade eigentlich, ich hatte gerade Lust zum Vögeln bekommen. „Lass das, wir fahren jetzt!“ sagt sie nur dazu.

Meine App ist runtergeladen. Die Alternativroute ist gut, wir entgehen dem Stau am Ring, stelle ich mit Stolz fest als ich den Verkehrsfunk im Radio höre.

„Ich habe diese Woche gelesen von einem Stillsee. Es soll recht still und romantisch sein dort. Lass uns doch dorthin fahren!“ meint sie, wie aus einer Laune heraus.
„Wie, wir fahren nicht ins Lauterer Strandbad?“
„Lass uns doch mal was anderes machen.“
„Jetzt habe ich extra die neue App runtergeladen, um besser ins Strandbad zu kommen. Aber gut… Wo ist dieser Stillsee?“
„In der Nähe von Scheibersbrunn.“

Ganz andere Richtung, dachte ich. Hätte sie das nicht früher sagen können! Wir standen im Stau am Ring, und ich fand auf meiner App nur einen Stillsee in Mecklenburg-Vorpommern.

„Wo ist jetzt dieser Stillsee, herrgott nochmal?“
„In der Nähe von Scheibersbrunn, hab ich doch gesagt.“
„Ja, aber wo genau??“
„Du kennst dich doch immer so gut aus, wirst ihn schon finden!“

Gefühlt irgendwann kamen wir an einem Parkplatz im Wald an, in dessen Nähe der Stillsee sein soll. Kaum ausgestiegen, beschwerte sie sich über die Insekten und den dreckigen Pfad. Ich meinte, sie solle still sein, es war schließlich ihre Idee. Still, das war er dann, der Stillsee. Wiese und Wasser, sonst nichts. Nicht einmal ein Steg zum Reinspringen. Zudem hängen sie auch nackt hier rum, wie eklig. Wir hatten nur lauwarmes Wasser zum Trinken, und was zu kaufen gab es sowieso nicht.

Dann kamen plötzlich Basti und Katja, und wie sich herausstellte, hatte auch Katja den Geheimtipp gelesen vom Stillsee. Michael würde auch noch kommen und einen Kasten Bier mitbringen, meinte Basti. Als Michael dann wirklich mit seinem Kasten ankam, war der Sonntag doch noch gerettet. Wir prosteten uns zu und lachten und scherzten; das ließ die Langeweile dieses Ortes vergessen. Mitten in unserer Mordsgaudi kam dann plötzlich ein Fremder zu uns und fragte, ob wir nicht ein bißchen leiser sein könnten. Dies sei ein Ort, an den die meisten Leute kommen, um etwas Ruhe zu finden.

„Was willst du Alter?“ rief Basti, vom Bier wohl etwas übermütig. „Verpiss dich und geh woanders hin, wenn du deine Ruhe haben willst.“
„Jetzt werden Sie nicht unverschämt!“ sagte der Fremde. „Nehmen Sie Rücksicht auf Ihre Umwelt. Hier sind andere Menschen, hier leben Tiere und Pflanzen.“
„Du Klugscheißer“, redete Basti sich in Rage, „verzieh dich oder ich polier dir die Fresse!“

Katja und meine Frau hielten ihn zurück, als er auf den Mann losgehen wollte. Ich verstand nicht. Was war das denn eben? Die Stimmung war jedenfalls im Eimer. Bald darauf trollten wir uns in Richtung Parkplatz. Der Fremde lief uns nach, mit zwei leeren Flaschen in der Hand, die wir liegen gelassen hatten. Ich nahm sie wortlos entgegen.

Meine Frau setzte sich ans Steuer; ich hatte zuviel Bier getrunken. Die Landschaft zog an uns vorbei, doch es langweilte mich. Ich zog mein Smartphone und checkte meine E-Mails. Da fühlte ich mich aufgehoben, geordnet. Gottseidank war morgen wieder Montag. Ich würde wissen, was ich zu tun habe und es gut machen. Soll dieses faule Gesindel doch die ganze Woche abhängen an ihrem stillen Stillsee und Ameisen zählen! Ich habe Wichtigeres zu tun. Mein Chef, ich komme!