Kate winselt in Leonardos Cabrio 1

Wir waren junge Männer, sehr junge Männer, als Vorderbrandner zu mir gelaufen kam und freudestrahlend rief: „Ich habe Kathi und Konsti überredet, mit uns ins Kino zu gehen!“

Ich fühlte mich überrumpelt. Etwas in mir wehrte sich dagegen, in Vorderbrandners Freude einzusteigen. Ich fragte distanziert: „Um was anzusehen?“

„Titanic natürlich! Kate Winslet und Leonardo di Caprio!“

Ich verstand in diesem Augenblick nur: Kate winselt in Leonardos Cabrio. Wirklich, genau das verstand ich: Kate winselt in Leonardos Cabrio. Eine Situation, die bei genauerer Betrachtung nicht zu erhebenden kinowürdigen Momenten zählt: dass eine Frau in eines Mannes Cabrio winselt. Aber ich verstand genau das. Ich sagte: „Nein, keine Lust“, und ging weg. Ich glaube, Vorderbrandner hätte mich in diesem Moment am liebsten auf den Mond geschossen. Doch er tat es nicht. Es gehört zu Vorderbrandners Eigenschaften, Dinge so hinzunehmen, wie sie sind und sie nicht auf den Mond zu schießen.

Nach meiner Absage für den gemeinsamen Kinoabend sah ich Konsti am nächsten Tag zu meiner eigenen Überraschung mit ganz anderen Augen. Schön fand ich sie vorher schon, aber jetzt fand ich sie plötzlich wunderschön. Ich hatte das Gefühl, Konsti ist die einzige Frau auf der Welt für mich. Ich ärgerte mich, dass ich Vorderbrandner abgesagt hatte und nicht mit Konsti ins Kino gehen würde, aber mein Stolz verhinderte, dass ich meine Absage widerrief. In der darauffolgenden Nacht träumte ich von Konsti, und als ich am Morgen erwachte, war ich ganz liebestrunken. Ich sah Konsti tagsüber wieder – wir gingen in dieselbe Schule – und schließlich siegte meine Verliebtheit über meinen Stolz. Ich sagte Vorderbrandner, dass ich doch gerne mitkommen möchte, um mit ihm, Kathi und Konsti Titanic anzusehen. Ich sehe noch das Lächeln in Vorderbrandners Gesicht, als ich ihm das sagte. Es war ein perfekter Moment, der uns beide glücklich machte. Es war ein Moment der Liebe zwischen Männern. Von diesem Moment an fieberten wir beide, ohne es uns zu sagen, auf den Abend hin, an dem wir endlich den Zug aus unserem Kaff in die Stadt nehmen würden, um Kathi und Konsti ins Kino auszuführen.

Kathi war die Tochter unseres Dorfarztes. Konstis Eltern waren Rechtsanwälte. Sie waren quasi Töchter des bürgerlichen Adels, während Vorderbrandners und meine Eltern Abkömmlinge von Bauersleuten waren. Als der Tag des großen Kinoereignisses endlich gekommen war, stieg eine Zweiklassengesellschaft in den Zug, um Titanic anzusehen: Kathi und Konsti, die zwei adligen Damen, mit Vorderbrandner und mir, ihren proletarischen Begleitern.

Im Kino saßen wir in einer Reihe: Vorderbrandner ganz links, neben ihm Kathi, dann Konsti und ich ganz rechts. Zu Beginn der Vorstellung nestelte Vorderbrandner ständig in seinem Stuhl herum, um Kathi näherzukommen. Soweit ich es mitbekam, mit mäßigem Erfolg. Ich weiß noch, dass mich der Film anfangs recht langweilte. Großes Schiff das untergeht, armer Mann der stirbt und reiche Frau die lebt. Dieser Plot erschien mir zu einfältig. Und an das Glück zwischen Mann und Frau glaubte ich sowieso nicht, weil ich meine Eltern als sehr unglücklich in ihrer Beziehung erlebte. Unser Deutschlehrer hatte uns Schüler damals belehrt, wie es in einer Beziehung so ist: Ist der Himmel heute voller Geigen, morgen ist die Hölle los! Ich bewunderte ihn dafür: Endlich einer, der die Wahrheit sagt. Danach hatte er mit uns Erich Fried gelesen: Es ist was es ist, sagt die Liebe. Und jetzt: saß ich in dieser Liebesschmonzette. Ich wollte das Leben sehen, den Himmel und die Hölle, nicht verkitschte Liebe!

Erst als sich Kate Winslet nackt auf die Couch legte, um von Leonardo di Caprio gemalt zu werden, wurde ich aufmerksam. Ich stellte mir vor, wie sich Konsti vor mir nackt auf die Couch legt. Mir wurde heiß. Ich weiß nicht wie es geschah: Plötzlich war meine Hand auf Konstis Oberschenkel. Ich erschrak. Sie aber legte ihre Hand mit zustimmender Geste auf meine. Jetzt wurde der Film dramatisch: Kate darf nicht sterben auf der Titanic, sonst stirbt Konsti für mich. Und Konsti war alles für mich. Es würde nie mehr eine andere Frau für mich geben als Konsti! Da war ich mir damals im Kino ganz sicher. Ich wünschte mir, dass der Film niemals zu Ende gehen würde.

Die Titanic brauchte lange zum Untergehen, aber irgendwann war der Film zu Ende. Wir wurden auf die Straße gespült. Die frische Luft war ernüchternd, tat aber auch gut. Wir eilten sofort zum Bahnhof, um den letzten Zug in unser Kaff zu erwischen. Vorderbrandner lief vorneweg, dahinter Kathi, Konsti und ich hintennach. Wir hielten uns an den Händen, Konsti und ich, als wir zum Bahnhof liefen. Es wäre mir egal gewesen, den Zug zu versäumen. Das wichtigste war, Konstis Hand nicht zu verlieren.

weiter mit Teil 2