Kate winselt in Leonardos Cabrio 2

Fortsetzung von Teil 1

Ein sehr alter Zug stand am Bahnhof melancholisch zur Abfahrt bereit. Vorderbrandner öffnete die mechanische Tür und stürmte als Erster in den Waggon. „Toll, sagte er, die alten Garnituren! Die mag ich am liebsten! Die haben so etwas Nostalgisches, wie die Titanic.“ Vorderbrandner war aufgewühlt. Er war in Kathi verliebt, über beide Ohren, und hatte sich fest vorgenommen, heute Abend ihr Herz zu erobern. Kaum war der Zug losgefahren, drängte er uns, nach draußen zu gehen, denn die alten Garnituren hatten an beiden Waggonseiten offene Enden. Vorderbrandner ging wieder voraus, Kathi an der Hand nehmend, Konsti und ich händchenhaltend hinterher. Wir gingen ans Ende des Zuges, wo eine Tür ins Freie unter ein Vordach führte. Wir gingen durch die Tür nach draußen und standen – mit viel romantischer Imaginationskraft – auf einer fahrenden Loggia. Die Landschaft zog an uns vorbei und erschien wie ein Meer aus Dunkelheit.

Auf der Loggia des alten Waggons

Wie in einem Cabrio ist es hier!“ sagte Vorderbrandner und spielte damit auf das Cabrio an, mit dem Kathis Mutter damals durch den Ort fuhr. Er wirkte sehr entschlossen und sagte zu Kathi: „Mach mal die Augen zu!“
„Wozu denn?“
„Mach sie einfach mal zu!“
Widerwillig schloss Kathi die Augen. Vorderbrandner fasste sie von hinten, hob sie etwas in die Höhe und klemmte sie zwischen sich und das Geländer: „Und jetzt öffne sie! – Siehst du: Du fliegst, wie auf der Titanic!“
„Lass mich runter Valentin!“ protestierte Kathi sofort gegen Vorderbrandners improvisierte Ich-fliege-Szene am Bug der Titanic.
Vorderbrandner aber drückte sie noch fester ans Geländer und rief: „Breite die Arme zur Seite aus! Du fliegst!“
In Vorderbrandners Drehbuch würden sie sich gleich küssen, wie Kate und Leonardo auf der Titanic. Stattdessen aber, Vorderbrandners Drehbuch in keiner Weise folgend, wiederholte Kathi ihre Aufforderung an ihn, sie runterzulassen. Als er nicht locker und ihr seine überlegene Physis spüren ließ, kam ein leichtes verzweifeltes Winseln in ihre Stimme. Ein Kuss war jedenfalls weit entfernt. Da fiel es mir wieder ein:
Kate winselt in Leonardos Cabrio. Peinliche Berührtheit statt großem Kino auf der Loggia des alten Waggons.

Vorderbrandner gab schließlich nach, und Kathi ging mit beleidigter Miene ins Waggoninnere. Er stürmte ihr nach. Ich hielt Konsti am Arm fest. Sie drehte sich zu mir. Dann nahm sie mich mit ihrer anderen Hand und zog mich nach drinnen. Drinnen herrschte eisige Stimmung. Wir saßen da, Konsti und ich auf der einen Seite, Kathi und Vorderbrandner auf der anderen, ohne etwas zu sagen. Hörten das Rattern des Waggons auf den Schienen unter uns. Kathi blickte demonstrativ von Vorderbrandner weg. Bei den beiden herrschte die Hölle, während ich mit Konsti im Himmel war. Ich musste mich sehr beherrschen, um nicht Konstis Hand zu nehmen. Doch das erschien mir unpassend angesichts der Hölle, die sich mir gegenüber auftat. Für einen Moment drehte Kathi ihren Kopf leicht zu Vorderbrandner: In ihrem Gesichtsausdruck begegnete er seinem persönlichen Eisberg. Ich merkte ihm seine tiefe Enttäuschung an.

Vorderbrandners Eltern wohnten im unteren Dorf, eine Station vor dem oberen Dorf, während Kathi, Konsti und ich im oberen Dorf wohnten. Als der Zug am unteren Dorf hielt, brach Kathi das Schweigen: „Valentin, steigst du nicht aus?“ fragte sie Vorderbrandner mit gespielter Höflichkeit, der eine Aufforderung innewohnte.

Nein, ich…“

Doch Valentin, du steigst hier aus!“ sagte sie, nun jede Höflichkeit ablegend.

In diesem Moment rammte Vorderbrandner endgültig den Eisberg. Die kalte Hölle tat sich auf. Es warf ihn von Bord. Er entschwand durch die Tür der alten Garnitur in die dunkle Nacht, die ihn einsog wie der weite, große Ozean. Ich dachte, ich würde Vorderbrandner nie mehr wieder sehen, so sehr hatte ihn die Dunkelheit eingesogen und verschlungen. Ich dachte, eine große Männerfreundschaft würde in diesem Moment zerbrechen.

Trotzdem sprang ich ihm nicht nach in die Dunkelheit, sondern fuhr ich mit Kathi und Konsti weiter ins obere Dorf. Für Konsti war ich bereit, Vorderbrandner zu opfern. Am Bahnhof verabschiedete sich Kathi von uns. Konsti drehte sich zu mir und legte ihren Arm um mich. Sie sagte, ihre Eltern und ihre jüngeren Geschwister seien nicht zuhause und fragte mich, ob ich zu ihr mitkommen möchte. Der Himmel war voller Geigen.