Die Offenheit des Künstlers

Ich fühlte mich im Sommerloch und saß etwas ratlos vor einem weißen Blatt Papier. Ich sah nach draußen. Ich sah, wie die sattgrünen Blätter der Esche im reifen Sommerwind wogten. Plötzlich klingelte es an der Tür. Ich öffnete, und vor mir stand Grübeldinger aus Salzburg, der Salzburg normalerweise nie verlässt. Zumindest hatte er das bisher immer behauptet. Er fühle sich gezwungen, in Salzburg zu sein, hat Grübeldinger über all die Jahre immer wieder gesagt, es sei Verrat an seinem eigenen Leben, Salzburg zu verlassen. Er sei glücklich und gleichzeitig todunglücklich, immer in Salzburg zu sein und es nie zu verlassen, wobei er meist betonte, dass er glücklich sei, in Salzburg zu sein, aber unglücklich sei über seinen inneren Zwang, es nie zu verlassen. Das Sein in Salzburg mache ihn glücklich, während das Nie-verlassen-können-von-Salzburg ihn unglücklich mache. Es sei aber nunmal seine Pflicht, in Salzburg zu sein. Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, als Grübeldinger vor meiner Tür stand, dieser Tür, die sich nicht in Salzburg, sondern in München befindet. Ehe ich etwas sagen konnte, sagte Grübeldinger: Ich habe den Künstler in mir entdeckt. Es ist die Pflicht eines jeden Künstlers, offen für die Welt zu sein, und so habe ich beschlossen, von Salzburg nach München zu fahren.

Es gelang mir, Grübeldingers Worte zu vernehmen und sie gleichzeitig zu ignorieren, was eine neue Erfahrung für mich war. Ich konnte diese neue Erfahrung jedoch nicht reflektieren, da ich mich an Grübeldinger vorbeizwängte und mich ins Treppenhaus begab. Die Treppen knarzten unter meinen Füßen, als ich ins Freie stürmte. Ich raste wie entfesselt die Straße entlang und hatte gerade noch Zeit, die sattgrünen Blätter der Pappeln im reifen Sommerwind zu sehen, als mich plötzlich ein Luftzug erfasste und mich nach oben zog. Ich schwebte über den Häusern Münchens und erinnere mich, dass mich eine Angst erfasste, so ganz ohne Boden unter meinen Füßen. Die Angst wich schnell der Begeisterung, denn es war ein schöner Anblick, die Stadt im reifen Sommerlicht unter mir und die Berge in der Ferne glitzern zu sehen. Ich dachte kurz an Grübeldinger, wie er vor meiner offenen Tür steht mit seiner neuentdeckten Offenheit. Zumindest meine Tür steht ihm offen.

Ich blicke nach unten und versuche zu erkennen, was unter mir liegt, doch ehe ich mich weiter damit beschäftigen kann, bin ich auf einem Berggipfel gelandet und erkenne unter mir das einsame Bergahorn, das ich letzten Sommer einmal besucht habe. Freudig schwebe ich zu ihm und lande in seiner Krone. Seine Blätter wogen im reifen Sommerwind. Unter uns erkenne ich einen See, an dessen Oberfläche der Wind kleine Wellen kräuselt. Ich will mich abkühlen im Wasser des Sees und schwebe also weiter, als ich plötzlich meine Schwerelosigkeit verliere und mit einem heftigen Satz ins Wasser stürze. Wasser gischtet und spritzt um mich herum. Ich erkenne ein paar Fische, die erschrocken zur Seite springen. Als sich das Wasser nach meinem Einschlag beruhigt hat, drehe ich mit den Fischen ein paar Runden im See. Auf einmal merke ich, dass ich heftig zu schwitzen beginne, was ich merkwürdig finde, denn ich schwimme mit den Fischen im kühlen Wasser. Ich schaue nach oben zur Sonne, die das Wasser hell beleuchtet. Mitten in dieser Wasser-Sonnen-Welt denke ich plötzlich an meine Wohnungstür und mache mir Sorgen, weil ich sie nicht verschlossen habe, als ich fluchtartig das Haus verlassen habe. Ich schließe meine Augen, beschließe aber gleich darauf, sie zu öffnen, um Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Ich öffne also die Augen und sehe die sattgrünen Blätter einer Esche über mir, die im reifen Sommerwind wogen. Die Sonne scheint hell und warm, und ich schwitze in ihren flachen Strahlen. Ich höre eine sehr angenehme Stimme, sehr nah, die sagt: „Lass uns schwimmen gehen!“ Trotz dieser sanften und liebevollen Einladung fällt mir genau in diesem Moment wieder die offene Tür ein, die ich nicht verschlossen habe, als ich fluchtartig das Haus verlassen habe. Grübeldinger und die offene Tür – das ist ein Bild, das mich nicht verlässt; die Offenheit des Künstlers, von Salzburg nach München zu fahren. Merkwürdigerweise sehe ich Grübeldinger jetzt am Münchner Hauptbahnhof stehen, wie er einen Zug nimmt nach Worpswede. Wieso Worpswede? Ich weiß nicht, wieso ich glaube, dass Grübeldinger nach Worpswede fährt. Ich weiß auch nicht, ob es wichtig ist zu wissen, dass Grübeldinger meine Wohnungstür verschlossen hat, bevor er nach Worpswede gefahren ist.

Ich blicke in die tiefe Sonne und sehe vor mir die Umrisse eines Frauenkörpers. Mir gefällt dieser Frauenkörper im tiefen Sonnenlicht. „Lass uns schwimmen gehen!“ höre ich wieder die Stimme sagen. Langsam erhebe ich mich. Die Sonne blendet. Ich gehe wie blind durch das sanfte Gras, das ich unter meinen Füßen und an meinen Beinen spüre, von Gefühlen geleitet.

Die Wahrheit über Ingeborg Bachmann

Ich habe Angst, nichts zu wissen. Deshalb gehe ich ins Internet, in diese Mischung aus gigantischer Müllhalde und allwissendem Archiv. Das weiß ich nicht, das habe ich gelesen.

Ich lese, und das Lesen ist eine Tätigkeit, die ich oft mit Nichtstun verbinde, weil mein Körper dabei untätig herumhängt, während mein Kopf nach Bildern sucht. Um die Bildersuche zu erleichtern, schaue und höre ich. Ich höre Marcel Reich-Ranicki sprechen. Marcel Reich-Ranicki ist seit etwa drei Jahren tot, deshalb höre ich ihn nicht persönlich, sondern in einem Video, das 2001 aufgezeichnet wurde. Das habe ich gelesen, dass das Video im Jahr 2001 aufgezeichnet wurde, doch meine Fähigkeit reicht nicht so weit, mich ins Jahr 2001 zu denken, deshalb spricht Marcel Reich-Ranicki zu mir im Jahr 2016, beziehungsweise, um es weiter zu präzisieren: Er spricht heute. Er spricht über Ingeborg Bachmann, die damals, 2001, als er über sie sprach, schon lange tot war, nämlich seit 1973, so habe ich es gelesen. Weiß ich jetzt irgendetwas über Ingeborg Bachmann, weil ich Marcel Reich-Ranicki über sie sprechen höre, oder kann ich nur vermuten, wer Ingeborg Bachmann vielleicht war?

Ich lese ein paar Zeilen in Malina, dem Roman Ingeborg Bachmanns. Ich werde traurig über so viel Traurigkeit. Sind nur die Bachmann und meine Mutter so traurig, oder sind es alle Frauen? Kann man sich in Traurigkeit verlieren und sie zu einem permanenten Zustand ausgestalten? Traurigkeit in Permanenz, ist das noch Traurigkeit, oder nennt man das Depression? Ist es wichtig, wie man etwas nennt?

Ich traue meinen Begriffen nicht, will Klarheit in meine Sprache bringen. Deshalb lese ich Wittgenstein, der schreibt: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Da fällt mir auf, dass ich denke, dass das Gegenteil von Fall Aufstieg ist. Ist die Nicht-Welt also alles, was der Aufstieg ist? Da Wittgenstein schon tot ist, noch länger als Ingeborg Bachmann, und ich ihn nicht mehr dazu befragen kann, beschließe ich, den Gedanken nicht weiterzuverfolgen und lege das Buch Wittgensteins beiseite. Stattdessen höre ich wieder Reich-Ranicki zu, wie er über die Bachmann redet und könnte mir denken: Was Reich-Ranicki sagt, ist die Wahrheit, über die Bachmann und überhaupt. Doch ich will mir das nicht denken, denn es beschleicht mich ein Gefühl, dass das der Wahrheit nicht gerecht wird. Ist die Wahrheit das, was ich für sie halte, oder ist selbst das eine Lüge, die sich in meinem Kopf festgesetzt hat? Wechselt meine Wahrheit jeden Tag ihr Gewand, und es ist meine Aufgabe, ihr jeden Tag unters Gewand zu schauen? Bilde ich mir zu viel ein, bei den vielen Bildern, die ich in meinem Kopf erschaffe?

Mit dem Gefühl, nichts zu wissen, über die Bachmann im besonderen und über die Welt im allgemeinen, verlasse ich das Internet. Ich gehe aus der Wohnung, aus dem Haus, auf die Straße. Ich staune über den Boden unter und über den Himmel über mir. Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Darüber, dass ich wirklich hier bin. Hier und heute. Und die Welt erlebe, mit all ihren Geheimnissen.

Marcel Reich-Ranicki über Ingeborg Bachmann

In den Wolken

Die Wolken hingen schwer zu mir herab. Sie sanken und sanken, sodass ich plötzlich mitten unter ihnen war und sie nicht mehr als Wolken, sondern als dampfende Kälte wahrnahm. Ich verlor die Orientierung, ging einen Schritt nach dem anderen und hoffte, mich nicht im Kreis zu bewegen ohne es zu bemerken. Ich erinnerte mich, dass ich von Schluchten umgeben bin, was eine Gefahr darstellte, die ich jedoch nicht als solche wahrnahm, weil ich vor lauter dampfender Kälte nicht mehr sicher war, ob ich von Schluchten umgeben bin, obwohl ich mir eben noch sicher war. Vermutlich verhinderte die dampfende Kälte, die in mich hineinkroch, die Wahrnehmung dieser Gefahr. Das wäre eine mögliche Erklärung, die jedoch nicht zwingend ist, da die dampfende Kälte, die ich nun als solche wahrnahm, eben noch Wolken gewesen waren. Ich spielte eine Melodie auf dem Klavier, um mich vor der dampfenden Kälte, die man zum besseren Verständnis auch als Wolken bezeichnen könnte, abzulenken, die mich ihrerseits von der Gefahr der mich umgebenden Schluchten ablenkte. Das Klavierspiel wiederum bewirkte, dass ich mich in ihren Armen wiederfand. Ich spürte die Wärme ihres Körpers, ganz im Gegensatz zur dampfenden Kälte, sodass ich beschloss, das Klavierspiel zu beenden, woraufhin das Klavier beschloss, von selbst weiterzuspielen. Dies störte mich jedoch nicht sehr, da ich intensiv mit dem Abtasten ihres Körpers beschäftigt war. Das Klavierspiel unterstützte mit seinem sanften Rhythmus dieses Abtasten. Ehe ich das Abtasten intensivieren konnte, gingen wir nach draußen. Nein – ich habe es nicht als Gehen in Erinnerung, eher als Schweben. Waren wir bekleidet oder nackt? Es war nicht wichtig, denn draußen war die dampfende Kälte verschwunden. Die Sonne schien hell und warm. Die Blätter der Bäume, deren Farbe ich vergessen habe – ich glaube, ein sattes Grün wahrgenommen zu haben -, wogten im leichten Sommerwind. Wir schwebten weiter, so hatte ich keine Zeit, die Bäume weiter zu betrachten. Das machte nichts – das Schweben war angenehm. Wir schwebten über Blumenwiesen, bis wir in eine Steinlandschaft kamen. Bei den Steinen schwebten wir nicht weiter. Wir kletterten über die Steine. Mit jedem Schritt spürte ich die Steine unter mir. Nach dem Schweben war es angenehm, die Steine zu spüren.

Plötzlich zog eine langer Schatten heran, und ich erinnerte mich an die dampfende Kälte, doch ehe ich aufschauen konnte, um zu prüfen, ob der Schatten der Schatten eines Berges war oder eine Wolke, die heranzog, wurde ich selbst gezogen und fand mich hoch in der Luft wieder. Um mich herum Alpendohlen, die um sonnenbeschienene Berggipfel schwebten. Ich konnte mich selbst nicht sehen, doch es ist anzunehmen, dass ich eine Alpendohle war, weil ich so harmonisch mit meinen Fluggenossen durch die Felsklüfte flog. Ich versuchte, meine Flügel zu erspüren, um festzustellen, ob ich tatsächlich eine Alpendohle bin. Plötzlich sehnte ich mich nach den Steinen in der Felslandschaft unter meinen Füßen. Stattdessen fand ich mich in ihren Armen wieder. Draußen vermeinte ich Regen zu hören, was mich annehmen ließ, drinnen zu sein. Ich überlegte, ob draußen oder drinnen für mich noch gültige Kategorien sein können. Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, schlief ich ein.

Das Sein in seinen Verschiedenheiten

Vorderbrandner ist wieder in eine Sinnkrise verfallen. Das merke ich sofort, als ich ins Büro komme. Lustlos sitzt er vor seinem Laptop, die Bücher links und rechts davon gestapelt.

„Was ist denn los?“

„Das Verb. Das Verb! Ich bin ein Bezweifler seiner Existenzberechtigung: Alles ist. Wozu braucht es mehr Verben als sein?“

„Ist nicht alles verschieden in seinem Sein? Benötigen wir dafür die weiteren Verben, um diese Verschiedenheit zu beschreiben?“

„Dafür gibt es die Nomen: Ich bin Vorderbrandner, du bist Hinterstoisser.“

„Ich habe eine Idee: Wir führen für jeden ein neues Verb ein. Das wird der Wirklichkeit gerechter. Du, Vorderbrandner, bist nicht, sondern zwist, weil du immer den Zwist suchst. Zwisten – ein neues Verb, nur für dich!“

„Und du, Hinterstoisser, bist der große Allmächtige. Du bist, über allem Zwist.“

„Ich weiß nicht was ich. Es gibt noch kein Verb für mich. Das wäre doch eine Aufgabe, ein Verb für mich zu finden!“

Den Rest des Tages lauschen wir Ernst Jandl bei der Rezitation seines Gedichts auf dem land und hoffen, dadurch neue Verben zu finden:

Ernst Jandl: auf dem land