So sieht dieser Raum also aus, denke ich mir, wenn ich ihn von dieser Seite betrete, wenn die Lichter auf mich gerichtet sind. Hinter dem starken Licht erahne ich den Zuschauerraum und die darüberliegenden Logen. Die Probe startet in Kürze, bitte alle hinter die Bühne, ruft jemand von der Regie. Raum zwischen uns heißt das Stück, für das geprobt wird. Es handelt von Menschen, die keinen Raum lassen zwischen sich und anderen Dingen: Paare kleben aneinander, bis sie sich angeekelt auseinanderreissen; Eltern halten ihre Kinder an der kurzen Leine, bis sie sich damit strangulieren; Besitztümer werden angehäuft, bis man an ihnen zu ersticken droht.
Die Bühne ist leer und dunkel, Ruhe im Saal. Plötzlich ein lautes Stöhnen von oben, von einer der Logen. Der Psycho! sagt jemand hinter mir.
„Was machen Sie hier? Wer hat Sie zur Probe hereingelassen?“ höre ich draußen im Zuschauerraum die Regie nach oben rufen.
„Ich hatte einen schlechten Tag. Bitte, bitte – lassen Sie mich bleiben! Hier ist mein einziger Ort der Ruhe, während ich draußen nur bedrängt werde! Bitte, lassen Sie mich bleiben!“ tönt es von der Loge herab.
„Also gut. Aber seien Sie ruhig während der Probe!“
Hinter der Bühne werde ich aufgeklärt über den Vorfall: Der sogenannte Psycho ist ein Dauerkarteninhaber, der eine Loge gemietet hat, im Haus bekannt als Psycho-Loge. Er habe schon viele Premieren empfindlich gestört, zu den Proben sei er aber bisher noch nie gekommen.
„Kommt bestimmt aus der Wirtschaft“, sage ich: „Geschäftsführer, Manager – alles Psychopathen!“ Kein Raum zwischen mir und meinen Vorurteilen, denke ich noch, als es wieder ruhig wird.
Die Bühne also nach wie vor leer und dunkel, wieder Ruhe im Saal. Wir fangen an. Die Probe läuft gut, ohne Unterbrechungen. Schließlich kommt die Szene zwischen ihr und ihm: Sie, die bezeichnenderweise Liane heißt, küsst ihn, umarmt ihn, bis er sich schließlich von ihr losreisst und verzweifelt sagt: „Ich liebe dich, aber du gibst mir keine Luft zum Atmen. Ich ersticke mit dir. Ich brauche Raum zwischen uns!“
Nach diesem Satz ertönt plötzlich ein lauter Schrei von der Psycho-Loge:
„Ja, das ist es!“ ruft der Psycho. „Ich brauche einen Raum zwischen meinem Büro und dem meiner Sekretärin! Diese Frau bringt mich noch um mit ihrer Kontrollsucht! Kein Wunder, dass ich meine Ehefrau vernachlässige! Und vor allem mich, dass ich mich vernachlässige! Ich brauche einen neuen Porsche, nur für mich!“
Wir stoppen unser Spiel, alle blicken zur Loge hoch. Der Psycho blickt kurz zu uns herab, steht dann auf und rennt aus der Loge. Wir proben weiter, sagt daraufhin die Regie, und Liane schlingt sich wieder um ihren Liebhaber.