Otto der Maulwurf

In der Schule war ich recht gut im Sport, was die Beine und Füße betraf. Ich lief sehr schnell und ausdauernd und konnte gut gegen den Ball treten. Sobald es aber auf die Fertigkeiten mit Armen und Händen ankam, verließen mich Kraft und Geschick. Handball, Basketball und Volleyball waren eine Qual für mich. Beim Völkerball durfte ich nie König sein, denn ich schaffte es nicht, den Ball ordentlich über das Feld zu werfen. Am schlimmsten war das Speerwerfen. Ich konnte mit dem Speer nicht umgehen, warf ihn kraftlos und ungelenk, und meist landete er wenige Meter vor mir unwürdig im Gras.

Ich wäre leicht zum Gespött meiner Mitschüler geworden. Doch unser Sportlehrer hatte eine Vorliebe für Fußball, sodass ich die seltenen Speerübungen irgendwie rumbrachte, ohne größeren Schaden zu nehmen. Und es gab Otto. Otto hatte solch krumme Beine, dass er mit ihnen entweder ausschlug wie ein wildes Pferd oder eines dem anderen im Weg war. Beim Speerwerfen war er so damit beschäftigt, nicht über seine Beine zu fallen, dass der Speer schließlich beim Abwurf wie ein nasses Handtuch von seiner Wurfhand fiel. Einmal hätte er es fast geschafft, sich selbst mit dem Speer zu erschlagen.

In einem Schuljahr hatten wir einen jungen Referendar als Sportlehrer. Der bevorzugte Handball, Basketball und Volleyball gegenüber Fußball. Und auch Speerwerfen machte er recht gern mit uns. Es war ein furchtbares Schuljahr für mich. Die einzige Zeit in meinem Leben, in dem Sport eine Qual war.

Ich mühte mich also wieder beim Speerwerfen, aber der Speer wollte nicht recht weit fliegen. Beschämt schlich ich mich nach jedem Wurf von dannen. Dann kam Otto an die Reihe, an jenem sonnigen Frühlingstag, als wir wieder einmal Speere warfen. Otto galoppierte mit dem Speer über die Wiese, bei jedem Schritt in Gefahr, dass seine Beine sich ineinander verhaken. Er holte mit seinem Wurfarm weit aus, viel weiter als sonst. Es sah tollkühn aus, aber man brauchte kein Prophet sein um zu erkennen, dass das schief gehen musste. Indem er diese für ihn ungewöhnlich weite Armbewegung machte, verloren seine Beine vollends ihre Koordination. Sie zappelten hilflos ineinander verschlungen in der Luft, bis er schließlich mit dem Kopf vorwärts zu Boden stürzte. Sein Gesicht lag im Gras, es hatte ihn voll aufs Maul gelassen. Der Speer, den er vor Schreck vergaß loszulassen, steckte direkt neben ihm in der Erde.

„Na Otto“, sagte der junge Referendar, der nicht wusste wie er mit Ottos Tolpatschigkeit umgehen soll, daraufhin flapsig: „Das war nun kein Speerwurf, sondern ein Maulwurf!“

Die ganze Klasse johlte: „Maulwurf! Maulwurf!“, während Otto sein Gesicht, das blutverschmiert war, langsam zur Seite drehte. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Später stellte sich heraus, dass er sich dabei den Schädel geprellt und die Nase gebrochen hatte. Ich war heilfroh, dass es Otto gab, denn sonst wäre ich der Maulwurf gewesen, über den sich Hohn und Spott ergossen hätte.

Ich beschloss nun, die Sache mit dem Werfen offensiver anzugehen. Ich schnappte mir zuhause einen Ball, ging damit auf eine einsame Lichtung im Wald und warf ihn, warf ihn, warf ihn, immer wieder, bis es mir richtig Spaß machte. Dann suchte ich mir einen langen, geraden Holzstecken, der am Waldboden herumlag, als Speerersatz, und warf ihn wie den Ball, immer wieder. Viele Nachmittage verbrachte ich so im Wald. Ich bin kein guter Werfer geworden, aber ein passabler. Der Speer fliegt nun in respektabler Kurve und landet in achtbarer Entfernung. Handball, Basketball und Volleyball mag ich immer noch nicht. Der Fußball ist meine wichtigste unter den unwichtigen Sachen geblieben. Aber beim Völkerball springe ich gern mal als König ein.

Vor kurzem habe ich meine Eltern besucht und Otto auf der Straße gesehen. Sehr konzentriert und schnell riss er seine Beine hin und her während er ging, als hätte er noch immer Angst, dass er plötzlich hinfällt und ihn jemand Maulwurf ruft. Ich hielt ihn nicht auf in seinem strammen, verkrampften Schritt, denn ich hätte nicht gewusst, was ich sagen soll. Ihm zu sagen, dass ich ihm sehr dankbar bin, weil ich durch ihn meine Kraft und mein Geschick in meinen Armen und Händen entdeckt habe, erschien mir nicht passend. Er bewegte sich immer noch wie Otto der Maulwurf, und auch das hätte er bestimmt nicht hören wollen.