Skrupellos durch die Welt

Ich irre planlos durch meine Welt. Gefühle und Gedanken schwirren kreuz und quer herum und gerade als ich glaube, vollends im Chaos zu versinken, erscheinen als gegensätzliche Pole meiner Welt die Moral und die Freiheit. Sie geben meiner Welt Struktur, die mich ordnet: Da ist die Moral und dort ist die Freiheit. Nichts dazwischen. Nein halt: Ich bin dazwischen. Ich werde zwischen den beiden zerrissen, jedenfalls fühlt es sich so an. Die Moral zerrt an mir und zur Freiheit zieht es mich hin. Die Moral lässt mich nicht los, und so scheint es eine naheliegende Idee, die Moral genauer anzusehen: Die Moral trägt die Bürde von Jahrhunderten, in denen sie genug Zeit hatte, die Menschheit an sich zu ketten. Wäre es nicht sinnvoll, die Moral einfach loszulassen, anstatt sich lange mit ihr zu beschäftigen, und sich der Freiheit zuzuwenden? Oder ist das zu einfach gedacht?

Mir wird das zu kompliziert, zu schwer, und so beschließe ich, mich der Leichtigkeit des Lebens zuzuwenden. Ich schlage die Sportseiten der Zeitung auf. Dort lese ich, dass in New York die offenen US-Meisterschaften im Tennis stattfinden. Es herrscht große Hitze in New York. Deswegen wechseln die Spieler mehrmals während eines Spiels ihr Shirt. Die Männer machen das auf dem Platz und zeigen dem Publikum ihre nackten Oberkörper. Die Frauen gehen dazu in die Katakomben des Tennisstadions. Schade eigentlich, denke ich, denn trainierte Frauenoberkörper wären doch mindestens genauso schön anzusehen wie trainierte Männeroberkörper.

Das dachte sich wohl auch ein Kameramann, denn er folgte einer Spielerin in die Katakomben, filmte sie beim Umziehen und sendete die Bilder live dem Fernsehpublikum. Wozu ging sie dann überhaupt in die Katakomben? Als die Spielerin auf den Platz zurückgekehrt war, bemerkte sie, dass sie ihr Shirt verkehrt herum angezogen hatte. Ohne noch einmal in die Katakomben zu verschwinden (wo sie wahrscheinlich ohnehin wieder gefilmt worden wäre), zog sie das Shirt kurzerhand auf dem Platz aus und richtig herum wieder an. „Hast du gar keine Skrupel?“ rief ihr der Schiedsrichter daraufhin zu und rügte sie.

Skrupel! Das ist das Wort! Das ist das verbindende Element zwischen Moral und Freiheit! Ein Skrupel ist eine auf moralischen Bedenken beruhende Hemmung, etwas Bestimmtes zu tun. Ein Skrupel beraubt einen der persönlichen Handlungsfreiheit. Ein Skrupel sorgt dafür, dass einen die Moral nicht in die Freiheit entlässt. Das bin ich also: Ein Mensch voller Skrupel. Ich spüre schon wieder die Schwere des Themas und kehre sofort wieder zurück zur Leichtigkeit der Sportberichterstattung.

Die Spielerin blickte den Schiedsrichter nach der Rüge zunächst verduzt an, hatte sie doch beim Aus- und Anziehen des Shirts ihre Brüste moralisch einwandfrei mit einem Sport-BH bedeckt gehabt. Dann aber zerriss sie die Ketten der Moral: Sie zog ihr Shirt wieder aus, anschließend auch ihren Sport-BH und rief dem Schiedsrichter zu: „Nein, ich habe keine Skrupel, denn ich bin frei! Und mit deiner Moral will ich nichts zu tun haben!“ Ein Kampf für die Freiheit, den sie da ausrief. Denn warum darf das Publikum nackte Oberkörper von männlichen Spielern betrachten, aber keine nackten Oberkörper von weiblichen Spielern?

Mit dem Zeigen und Betrachten von nackten Körpern scheint die Menschheit ein großes moralisches Problem zu haben. Wie ist es sonst möglich, dass ein Kameramann die Spielerin beim Umziehen in den Katakomben heimlich filmt und die Bilder live dem Fernsehpublikum sendet, die Spielerin draußen auf dem Platz aber gerügt wird, wenn sie ihr Shirt nochmal aus- und anzieht? Einerseits das große Verlangen, andererseits die große Scham.

Die Sportberichterstattung bringt keine Leichtigkeit in mein Leben, im Gegenteil. Sie führt mich mitten hinein in die Schwere der Problematik von Moral und Freiheit. Wieso hängt die Menschheit so an der Moral? Ist die Freiheit zu anstrengend, weil sie Verantwortung für das eigene Handeln einfordert? Ist es leichter, sich der Moral zu unterwerfen anstatt Verantwortung für sich selbst zu übernehmen? Und viele Skrupel zu entwickeln, um eigenverantwortliches Tun zu verhindern?

Nein, nein, nein! Ich will mich der Moral nicht mehr unterwerfen und habe beschlossen, künftig skrupellos durch die Welt zu laufen. Und bei allen moralischen Bedenken, die da noch kommen mögen: Es fühlt sich frei an!

Skrupellosigkeit bei den US-Open

Perfekte Paare

„Filo und Bene trennen sich!“
Vorderbrandner rief mir diese Nachricht zu als eine Weltneuheit, die umfassender Analyse bedarf.
„Hast du gehört: Filo und Bene trennen sich!“

„Ja, ich habe gehört. Was ist denn das für eine Nachricht? Das Erwartbare ist nach langen, quälenden Jahren endlich eingetreten. Zumindest für mich“, sagte ich: „Und was heißt das überhaupt: Sie trennen sich? Hätten sie ihre Vereinigung nicht so ernst genommen, müssten sie ihre Trennung jetzt nicht so ernst nehmen. Die Polarität der Dinge ist eine fatale Falle, die sich das Hirn stellt.“

„Bene zieht aus.“

„Soso, Bene zieht aus. Findet er seine These nun bestätigt?“

„Welche These?“

„Die These, dass der Mann nur der Erzeuger ist, aber mit der Aufzucht des Nachwuchses am besten nichts zu tun haben sollte.“

„Das sagt Bene?“

„Ja, das sagt Bene. Sein Lieblingstier ist der Gepard. Männliche Geparden kümmern sich überhaupt nicht um den Nachwuchs. Das macht das Weibchen alleine. Dieses Rollenmodell, sagt Bene, wäre für die Menschheit ein erstrebenswertes. Was Bene allerdings nicht sagt: Es gilt als wahrscheinlich, dass männliche Geparden ein sehr orientierungsloses Leben führen, weil sie als Junge keine väterliche Führung erfahren.“

„Dann soll also Liliane bei Filo bleiben und Ludwig mit Bene ausziehen?“

„Nein, Schmarren! Li braucht genauso ihren Vater wie Lu seine Mutter. Wir alle, ob Mann oder Frau, tragen männliche und weibliche Anteile in uns.“

„Ist das die Erkenntnis aus deinem letzten Tantra-Seminar?“

„Nein. Das ist meine Überzeugung. Mann und Frau ist genauso eine Polarität wie vereinigen und trennen. Vielleicht sollte man Filo und Bene sagen, dass sie sich nicht trennen sollen. Nicht so permanent, als polare Endlösung. Vielleicht sollten sie mehr changieren zwischen Trennung und Vereinigung. Nicht auf den Polaritäten beharren.“

„Du hast leicht reden. Drückst dich selbst vor jeglicher Beziehung und willst anderen raten, wie sie ihre Beziehung führen sollen. Speziell wenn Kinder da sind, ist es nicht leicht sich zu trennen!“

„Die Kinder! Dann wird auf die Kinder gezeigt! Ein Kind ist nur so glücklich, wie es seine Eltern sind. Kann ein Kind glücklich sein, wenn seine Eltern unglücklich in ihrer Beziehung sind? Das Kind hat ein Recht darauf, nicht in der unglücklichen Beziehung seiner Eltern gefangen zu sein. Und die unglückliche Beziehung, die machen sich die Eltern selbst. Es müsste keine unglücklichen Beziehungen geben, wenn jeder offen wäre für eine glückliche Beziehung. Aber immer sind da diese Vorstellungen und Erwartungen von Glück, die geradewegs ins Unglück führen!“

Ich beendete meinen Vortrag, und auch Vorderbrandner sagte nichts. Dann fiel mir mein Traum von letzter Nacht ein und ich begann, ihn zu erzählen:
„Ich sah Filos und Benes in orange gehaltenes Wohnzimmer mit den grünen Sesseln. Die drei Holzgazellen standen da, die Filo aufgestellt hatte zur Steigerung ihrer Fertilität, weil es doch anfangs mit dem Schwangerwerden nicht geklappt hat. Dann kam Filo in den Raum, ganz in brauner Tarnfarbe gekleidet, und machte merkwürdige Verrenkungen. Sie schien sich auf die Begrüßung von Gästen vorzubereiten. Bald wackelte auch Bene rein, ebenfalls in tarnfarbenem Braun, und schenkte sich erstmal einen ein, um sich auf seine Art auf den anstehenden Abend vorzubereiten. Als erster Gast kam Gusti. Oder heißt sie Gundi?“

„Beides. Sie heißt Auguste Gundula.“

„Auf jeden Fall die mit dem Putzfimmel. Sie nahm gleich nach der Begrüßung den Staubsauger und fing zu saugen an. Schon seltsam, dass mich Filo und Bene hartnäckig mit ihr verkuppeln wollten.“

„Du wärst aufgeräumt gewesen mit ihr.“

„Dann kamst du, mit deiner kackbraunen Strickweste, die du eine zeitlang immer getragen hast.“

„Das ist ja schon ewig her!“

„Ja, ihr wart alle recht jung in meinem Traum. Du kamst tanzend in den Raum, mit der Ungarin, die ganz in grün gekleidet war, dabei aber das Kunststück fertigbrachte, dass der Rock nicht zum Oberteil passte.“

„Mit der kam ich auf die Party, stimmt. Sie sagte, sie will nur mitkommen, wenn wir tanzen. Das war aber keine Ungarin.“

„Mag sein. Aber jeder nannte sie doch Die Ungarin.“

„Und dann?“

„Kamen noch ein paar andere Leute. Auch der Verehrer, den sich Filo immer hielt. Stand draußen am Fenster, hat reingeguckt und getrunken. Seltsam, dass Filo sich immer Trinker hält. Und dann kam Agathe reingehüpft, mit einem kurzen schwarzen Kleidchen und einem Stirntuch in den Haaren.“

„Das ist kein Traum – das war so! Agathe kam zur Tür herein, total aufgedreht, und ist über den von Auguste Gundula bedienten Staubsauger gefallen. Ich saß in einem der grünen Sessel, und sie ist quasi direkt in meinen Schoß gefallen. Damals haben wir uns das erste Mal gesehen. Ich erinnere mich genau. Du warst übrigens nicht auf der Party, hast komisch rumgedruckst. Wolltest wohl Auguste Gundula nicht treffen.“

„Auguste Gundula – was macht die eigentlich?“

„Hat einen rechten Spießer geheiratet, hat mit ihm zwei Kinder und lebt im Reihenhaus im Umland, das sie schön sauber hält. Ein perfektes Paar sozusagen.“

„Ein perfektes Paar? So wie Filo und Bene? Ich will nichts mehr hören von perfekten Paaren!“

„Bist ja bloß neidisch, dass du nicht Teil eines perfekten Paares bist!“

„Ja, wahrscheinlich. Und du und Agathe? Seid ihr auch so ein perfektes Paar?“

„Agathe und ich? Wir sind ziemlich unperfekt. Haben kein Bedürfnis zusammenzuziehen wie es die bürgerliche Konvention für perfekte Paare vorschreibt. Freuen uns jedesmal, wenn wir uns sehen. Wahnsinn eigentlich, dass sie mir damals so in den Schoß gefallen ist. Ich habe das Gefühl, wir sind auf einer Reise, von der wir nicht wissen, wo sie uns hinführt und auf der wir uns immer wieder begegnen. Das ist schön.“

„Eine Frage: War eigentlich die Blondine damals auf der Party, in die ich so verknallt war? Und trug sie einen bunten blumigen Hosenanzug?“

„Daher weht der Wind. Deshalb der Traum. Ich weiß nicht mehr, ob sie da war. Kann schon sein. – Und selbst wenn ich es wüsste: Ich würde es dir nicht sagen. Wärst du damals einfach gekommen, dann müsstest du nach so langer Zeit nicht mehr von ihr träumen! Sondern würdest auf deiner Lebensreise vielleicht von ihr begleitet werden. Oder auch nicht. Jedenfalls würdest du nicht mehr in Sehnsucht nach ihr zergehen und von der perfekten Beziehung träumen.“

Perfekte Paare: Der Traum in Bildern

 

Huckleberry und Klause

Ich bin Künstler und Psychologe, sagt Uteto Fritz, aber ich bezeichne mich selbst gerne als Sprachenergetiker. Neulich bin ich in meinem sprachenergetischen Tun wieder einmal mit der Liebe in Berührung gekommen, als ich Huckleberry und Klause kennenlernte, ein junges Paar, das eigentlich sehr glücklich miteinander ist.

Ihr seht sehr glücklich aus, sagte ich zu ihnen, sagt Uteto Fritz, woraufhin Klause meinte:

Sind wir auch. Aber wir trauen diesem Glück nicht.

Klause – ein sehr ungewöhnlicher Vorname für eine Frau, sagte ich.

Da fängt das Unglück schon an, sagte Klause, bei meinem Vornamen.

Wieso?

Ich habe vier ältere Schwestern, wir sind also fünf Schwestern. Meine Eltern wollten eigentlich nur zwei Kinder. Mein Vater wollte aber unbedingt einen Sohn, sodass sie weitergemacht haben mit dem Kinderkriegen nach der Geburt meiner zweitältesten Schwester, bis endlich ein Sohn auf die Welt kommen würde. Als ich auf die Welt kam, als fünftes Mädchen, sagte meine Mutter zu meinem Vater: „Klaus, ich mag nicht mehr! Fünf Kinder sind genug, auch wenn kein Junge dabei ist. Ich habe einen Vorschlag: Lass uns unsere Jüngste doch Klause nennen, so wie Simon und Petra eines ihrer Mädchen Simone genannt haben. So hat sie wenigstens deinen väterlichen Namen.“

Kurz überlegte mein Vater, ob er meine Mutter verlassen und mit einer anderen Frau mit dem Kinderkriegen weitermachen sollte, bis ein Sohn dabei herausspringt, doch dann entschied er sich, bei meiner Mutter zu bleiben und stimmte beidem zu: nämlich es bei fünf Kindern zu belassen und mich Klause zu nennen.

Erstaunlich, wie leicht Ihren Eltern das Kinderkriegen fiel, sagte ich. Sie wirken auf mich in Ihrer Erzählung, trotz der Sohn-Problematik, wie ein verständnisvolles und zufriedenes Paar. Was macht nun Sie als Tochter dabei so unglücklich?

Ich weiß nicht, sagte Klause. Ich fühle mich einfach unglücklich. Ich suchte mein Unglück in meinem Namen. Eine Psychologin meinte, Klause bedeutet Enge – ob es denn bei meiner Geburt recht eng zugegangen sei? Ich fragte meine Mutter, sagte Klause, und sie meinte: „Nein, wieso denn? Da kamen doch vorher schon vier andere raus.“ Ein anderer Psychologe meinte, Klause ist ein altes Wort für Einsiedelei – ob denn Einsamkeit eine große Rolle spielt in meinem Leben? Nein, sagte ich, ich bin mit vier älteren Geschwistern aufgewachsen, die jung genug waren, um Spielgefährten zu sein, sagte Klause, als sich plötzlich Huckleberry zu Wort meldete und meinte, in seinem Leben spiele sie dafür eine große Rolle, die Einsamkeit.

Sind Sie Einzelkind? fragte ich.

Ja, sagte Huckleberry, ich bin Sohn einer Amerikanerin und eines Deutschen. Um ihr Heimweh zu lindern, wollte mir meine Mutter einen amerikanischen Namen geben. Mein Vater, Horst Hackl sein Name, gestand meiner Mutter das zu.

Sie heißen also Huckleberry Hackl?

Ja. Allein schon wegen meinem Namen zum Außenseiter erkoren.

Ich wusste nicht, was ich weiter sagen sollte, sagt Uteto Fritz, also ließ ich der Stille ihren Raum. Das junge Paar, so mein Eindruck, war bedrückt von der Stille. Huckleberry wechselte von einer Verlegenheitsgeste in die andere, während Klause mich erwartungsvoll ansah, auf dass ich endlich die Stille beende. Ich dachte jedoch nicht daran, im Gegenteil – ich fand die Stille sehr wohltuend, bis es schließlich aus Klause herausplatzte: „Und das Schlimmste ist: Ich bin schwanger. Stellen Sie sich vor, es wird ein Junge – sollen wir ihm wieder einen amerikanischen Namen geben Huckleberrys Mutter zuliebe, obwohl Huckleberry ihm so gerne einen deutschen Namen geben würde? Oder es wird ein Mädchen! Meine Schwestern haben noch keine Kinder. Können wir meinem Vater das antun, dass sein erster Enkel wieder ein Mädchen wird?“

Für einen Moment dachte ich, nun sollte wieder Stille einkehren, sagt Uteto Fritz, doch dann ergriff ich selbst das Wort und sagte: Das Schöne ist, dass Sie beide, Huckleberry und Klause, sich lieben. Es ist was es ist, sagt die Liebe, sagt Erich Fried in seinem berühmten Gedicht. Und das ist doch, was zählt.

Ja, aber.., sagte Klause, und ich fuhr streng dazwischen und sagte: Ich möchte, dass ihr jetzt für fünf Minuten still seid! Kein Wort!

Klause sah mich entgeistert an, während Huckleberrys Gesichtsausdruck eine Mischung aus Skepsis und Erleichterung war.

Da saßen wir nun zu dritt in der Stille. Nach etwa drei Minuten fing Klause zu weinen an, und mit kurzer Verzögerung weinte auch Huckleberry. Was raus muss muss raus, dachte ich mir, sagt Uteto Fritz. Endlich kommt es raus! Dann legte ich Matten auf den Boden, wir legten uns auf sie und lagen über eine halbe Stunde schweigend da. Als wir uns verabschiedeten, urarmten mich Huckleberry und Klause lang und innig. Ich glaube, ich habe Liebe gespürt, sagt Uteto Fritz.

Hier gingst du von uns Schorsch

Auf einer Wanderung gehe ich an diesem Marterl vorbei:

Beeindruckt von der Schlichtheit der Botschaft bleibe ich stehen. Hier ging Schorsch in die Büsche und kam nicht mehr raus.

Andächtig im Moment versunken erinnere ich mich an Schorsch Dorsch (von dem ich bereits kürzlich berichtet hatte), der eigentlich Georges hieß weil seine Ururgroßmutter Französin war und den seine Mutter bevorzugt mit einem Fisch namens Franzosendorsch bekochte. Vor allem erinnere ich mich daran, dass auch Schorsch Dorsch nicht mehr lebt.

Zu Schorschs kurzem Leben von nicht einmal siebenundzwanzig Jahren ist Folgendes zu sagen: Auf eine schwierige Kindheit folgte eine schwierige Zeit des Erwachsenwerdens. Kontakt mit Frauen fand nicht statt. Ich weiß noch, als wir Doktor spielten und Jungs und Mädchen sich intensiv begutachteten. Schorsch jedoch schmollte angewidert in der Ecke und ließ die ihm Zugedachte einfach sitzen. Nie sah man Schorsch mit einer Frau, bis man ihn schließlich fragte: Schorsch, bist du schwul? Schorsch sagte: Nein, ich warte nur auf meine Traumfrau.

Eines Tages tauchte tatsächlich eine Frau auf namens Otilie. Sie stand da in schrecklich biederen Klamotten und wirkte wie eine, die auch noch nie bei Doktorspielen mitgemacht hat. Sehr unsicher war ihr Auftreten – nein – mehr noch: Man sah ihrem Körper an, dass er voller Angst steckte. Frau Dorsch jedoch betonte Otilies blaue Spuren in ihrem Blut. Sie war so entzückt von der Vorstellung, dass ihr Schorsch nun eine gutbürgerliche Existenz als Ehegatte starten könnte, dass sie Schorsch und Otilie eine Verlobungsreise nach Paris spendierte.

Ich stelle mir die beiden vor, wie sie durch Paris flanieren, mit ihren dicken Brillen auf den Nasen und den leicht schielenden Augen, was ein Sich-in-die-Augen-schauen schwierig macht. Auch alles andere zwischen den beiden stelle ich mir schwierig vor.

An einem Abend jedenfalls gingen sie zur Pont des Arts, um dort ein Schloss anzubringen und ihre Liebe zu besiegeln. Schorsch hatte das Bügelschloss seines Fahrrads dabei, weil er kein anderes gefunden und so dieses in den Koffer gesteckt hatte. Auf der Brücke war alles vollgesteckt mit Schlössern. Lange suchten die beiden nach einer Lücke an einer Strebe, bis sie endlich fündig wurden. Schorsch öffnete das Schloss und gab es um die Strebe. Als es zuschnappte, wollte er Otilie den Schlüssel geben, damit sie ihn in die Seine wirft. Doch genau in diesem Moment krachte die Brücke in sich zusammen. Das Fahrradschloss von Schorsch war genau das eine Schloss zuviel für die Statik der Brücke. Die zusammenkrachende Brücke riss Schorsch und Otilie in den Tod.

Frau Dorsch war tief schockiert, dass ihr Schorsch ausgerechnet in ihrem geliebten Frankreich den Tod fand und hat sich bis heute nicht von diesem Schock erholt. Herr Dorsch meinte: Warum musste er auch sein Fahrradschloss auf die Brücke hängen? Ein normales Türschloss hätte es doch auch getan!

Ich stehe noch immer beim Marterl am Wegrand, wo Schorsch von uns ging. Ich sollte jetzt endlich mal nach Paris fahren und zur neuerbauten Pont des Arts gehen. Dort werde ich dann andächtig stehen und mir denken: Hier gingst du von uns Schorsch.

Vorwarnungen zur Katastrophe an der Pont des Arts

Emil hat Konstanze geküsst

„Im Mai also“, sagte Emil, „soll es gewesen sein: In Sydney hat der Schriftsteller Junot Diaz die Schriftstellerin Zinzi Clemmons geküsst. So weit, so romantisch. Eine schöne Geschichte: Ein Schriftsteller küsst und schreibt nicht nur darüber. Doch zunächst wurde diese Geschichte ganz anders erzählt: Zinzi Clemmons sagte noch in Sydney, Junot Diaz habe sie sexuell genötigt. Außerdem sagte sie, nun würden auch viele andere Frauen an die Öffentlichkeit gehen, die Junot Diaz ebenfalls sexuell genötigt hat. Diaz, offenbar noch völlig unter dem Eindruck des intimen Moments mit Clemmons stehend, unterwarf sich voll und ganz der Geschichte Clemmons. Er hielt schriftlich fest, dass er volle Verantwortung übernehmen wolle für seine Vergangenheit.

Wie ging es weiter? Zunächst einmal gingen die anderen Frauen nicht an die Öffentlichkeit. Entweder hat Diaz sie nicht geküsst, oder sie empfanden die Küsse nicht als sexuelle Nötigung, sondern als Küsse, die sie lieber für sich behalten wollen. Das Ausbleiben dieses Shitstorms der anderen Frauen sorgte jedenfalls dafür, dass erste Zweifel an der Geschichte von Clemmons aufkamen. Eine Menge von Leuten zerbrach sich nun den Kopf, wie es denn wirklich gewesen sein könnte. Mitten in dieses Kopfzerbrechen hinein sagte Junot Diaz plötzlich, dass er Mist geschrieben habe mit diesem Statement über Verantwortung, denn einen Übergriff habe es nie gegeben. Ja – hat es denn nun einen Kuss gegeben, und wenn ja, war es ein übergriffiger? Noch immer zerbrechen sich viele Leute den Kopf über einen Kuss, den es vielleicht gegeben hat, dessen Natur und Beschaffenheit jedoch im Nebel der Vergangenheit zu verschwinden droht.“

„Warum erzählst du mir das?“ fragte Josefine: „Was willst du mir damit sagen?“

„Ich weiß nicht. Mehr habe ich auch nicht zu erzählen. Erzähl du doch etwas!“

„Wir wollten ein Feature über den Opernsänger Nicolai Gedda und sein Leben machen. Dann meinte jemand in der Redaktion, dass er einst den Paganini gesungen hat mit dem Lied Gern hab ich die Fraun geküsst, und einer, der so etwas singt, denn könne man im Moment nicht bringen. MeToo und so – viel zu heikel.“

„Das ist doch unglaublich!“ echauffierte sich Emil.

„Reg dich nicht so auf! Was ist denn los mit dir?“ Josefine beugte sich näher zu Emil und fragte mit liebevollem Ton: „Was habt du und Konsti denn gemacht, als ihr euch diese Woche getroffen habt? Konsti wirkte so gut gelaunt heute.“

Emil lehnte sich zurück und schaute Josefine in die Augen. Josefine strich ihm über die Wange und meinte lächelnd: „Und deswegen regst du dich so auf. Junot Diaz und der Kuss oder Nicht-Kuss. Nicolai Gedda und seine Küsse an alle Frauen. Emil“, sagte sie und sah ihm jetzt tief in die Augen: „Ich fühle mich geliebt von dir und ich liebe dich.“

Als Abschluss dieser Geschichte, und das darf als gesichert gelten, folgte ein Kuss zwischen Josefine und Emil.

Zusammenfassend soll festgestellt werden:

Emil hat Konstanze geküsst.
Junot Diaz hat Zinzi Clemmons geküsst oder auch nicht.
Nicolai Gedda hat alle Frauen geküsst.