Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Die Leidensgeschichte der Inge Hinge-Zogen

Ich treffe Inge Hinge, die neuerdings Inge Hinge-Zogen heißt, an einem sonnigen Herbstnachmittag in Lippstadt, wo sie seit kurzem lebt. Doch das schöne Wetter trügt. Inge Hinge leidet. Sie leide unter ihrem Namen, sagt sie, sie leide darunter, seit sie aus den USA nach Deutschland gezogen sei. In den USA sei sie Inge Hinsch ausgesprochen worden, die englische Aussprache, und Hinsch bedeute im Englischen Scharnier, doch als sie nach Deutschland kam, und damit hatte sie nicht gerechnet, sei sie nicht mit Hinsch, sondern mit Hinge angesprochen worden, was in Kombination mit ihrem Vornamen einen komischen Wortkalauer ergibt, fast jeder lache, wenn sie ihren Namen nennt und fragt noch einmal nach, ob sie denn wirklich so heiße. Inge Hinge? Sie dachte deshalb ernsthaft darüber nach, ihren Nachnamen einzudeutschen und sich Inge Scharnier zu nennen, aber sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, Inge Scharnier zu heißen, genauso wie sie sich nicht wohl fühlt, Inge Hinge zu heißen. Sie wurde depressiv wegen ihrer Namensproblematik und konsultierte einen Therapeuten, der sie ermunterte, den Namen Scharnier anzunehmen: Ein Scharnier sei etwas sehr wichtiges, es symbolisiere die Verbindung und Dynamik in Beziehungen. Das erinnerte sie an das Dating-Portal Hinge aus ihrer amerikanischen Heimatstadt Dallas in Texas, das ihr Vater gegründet und dann teuer verkauft hatte: Das Portal wirbt mit ähnlichen Slogans. Inge ergriff eine heftige Wut, und sie schrie ihren Therapeuten an: Dann nennen Sie sich doch selber Scharnier wenn es so wichtig ist, Herr Königsberg! (Anmerkung der Redaktion: Der Therapeut hieß Königsberg.) Sie sprang aus dem Stuhl, verließ weinend das Therapiezimmer und behielt trotzig ihren Namen Hinge.

Sie fasste nun folgenden Entschluss: Sie wollte einen Mann kennenlernen, den sie heiraten und dessen Namen sie annehmen wollte. Doch das Schicksal wollte es, dass sie einen Mann namens Ingmar Minge kennenlernte. Sie mochte ihn, und er mochte sie, und anfangs sah sie über seinen Namen hinweg. Doch dann träumte sie, sie habe Ingmar geheiratet und hieße nun Inge Minge. In ihrem Traum hielt sie sich in Dallas auf, oft hielt sie sich in ihren Träumen in Dallas auf, und die Leute um sie hänselten sie, indem sie sie Insch Minsch nannten. Minge ist im Englischen eine abfällige Bezeichnung für die weiblichen Genitalien. Nein, sie konnte nicht bei Ingmar bleiben, das war klar nach diesem Traum!

Panikartig verließ sie Bielefeld, wohin sie aus Dallas gezogen war, fuhr mit dem Auto so schnell sie konnte weg. Sie kam nicht weit. In Lippstadt blieb sie erschöpft stehen, setzte sich ins Café am Rathausplatz und kam ins Gespräch mit dem Fabrikanten Jürgen Zogen, der mit einen Kartenspiel reich geworden war. Jürgen Zogen, das verbindet die beiden, leidet ebenfalls unter seinem Namen, denn er wird von Freunden und Bekannten nie Jürgen, sondern entweder JürZo oder GenGen genannt. Noch am selben Tag beschlossen die beiden, zu heiraten, eine Leidensgemeinschaft zu bilden, Inge heißt nun offiziell Inge Hinge-Zogen.

Ich frage sie, warum sie nun nicht einfach Inge Zogen heißt, und sie meint, Jürgen hätte der Doppelname Hinge-Zogen so gefallen, dass sie ihm diesen Gefallen machen wollte. In der Hochzeitsnacht, so erzählt sie weiter, habe sie wieder geträumt. Sie ging die Bielefelder Fußgängerzone entlang, und alle Leute fragten sie: Wo sind sie denn hingezogen, Frau Hinge-Zogen?

Danach fängt sie heftig zu weinen an. Schluchzend und verzweifelt meint sie: Vielleicht sollte ich mich einfach Insch Minsch, Inge Fotze, nennen. Vielleicht passt das zu mir. Es scheint, das Leiden der Inge Hinge-Zogen nimmt kein Ende.

Akei und Enien, zwei slawische Brüder

Ein Slawe, dessen Name die Geschichtsschreibung nicht erwähnt, lebte im achten Jahrhundert in der Steiermark. Das war nichts Ungewöhnliches, denn zu dieser Zeit lebten in der Steiermark nur Slawen. Doch dann bedrohten die Awaren ihren Lebensraum. Der bajuwarische Herzog Odilo kam ihnen mit seinen Truppen zu Hilfe und schlug die Awaren in die Flucht. In der Folge lebten immer mehr Bajuwaren mit den Slawen in der Steiermark, und als siegreiche Kriegsherrn beanspruchten sie Privilegien.

Das gefiel dem namenlosen Slawen nicht. Er holte seine zwei Söhne zu sich und sagte zu ihnen:
Die Bajuwaren gefallen mir nicht. Das sind herrschsüchtige Arschlöcher. Haut ab von hier, und lebt woanders!
Das ließen sich seine zwei Söhne, die sich überhaupt nicht ausstehen konnten, nicht zweimal sagen. Sie hauten sofort ab. Der eine haute nach Norden, der andere nach Süden ab. Im Abhauen riefen sie ihrem Vater noch zu:
Vater, was machst du denn?
Ich? antwortete er: Ich werde hier sterben, hier in der Steiermark.

Die Namen der Söhne sind im Gegensatz zu dem des Vaters überliefert: In Dokumenten ist nachzulesen, dass man sie Akei und Enien rief. Akei, der nach Norden abhaute, gründete dort die Slowakei, Enien im Süden Slowenien. Die Slawen Akei und Enien gründeten also jeweils zwei heute noch bestehende Staaten.

Seine beiden Töchter verheiratete der namenlose Vater, nachdem seine Söhne abgehauen waren, an wohlhabende bajuwarische Edelmänner.

Eine Meppe auf der Treppe

Marion stand auf der Treppe, als sie ihm sagte: „Ich komme aus Meppen.“ Sofort machte er ein Foto von ihr und nannte es: Eine Meppe auf der Treppe.

Dann liebten sie sich, und während dieses Aktes offenbarte sie ihm: „Ich will in die Steppe!“ Da unterbrach er den Akt und sagte: „Wir gehn in die Steppe!“ und malte sich aus, wie er sie dort fotografiert: Eine Meppe in der Steppe.

Freitag, ich bin in Liebe

Zunächst weiß ich nicht, ob ich an dich oder über dich schreiben soll. Es ist beides falsch und beides richtig. Vielleicht schreibe ich immer nur an mich und über mich. Ich an diesem sonnigen Freitag im Herbst, an dem ich dich vermisse. An diesem Freitag, der ein Feiertag ist, ein Volk feiert seine Einheit und ist in Liebe. Oder nicht? Dich sehe ich nicht heute, an diesem Feiertags-Freitag.

Siehst du mich, wenn wir uns sehen? Oder siehst du an mir vorbei, an eine Stelle, die ich nicht kenne? Ich glaube jedenfalls dich zu sehen, von Montag bis Freitag, wenn ich vorbeigehe an deiner Tür und blicke, manchmal blickst du zurück, aber heute nicht, heute ist Freitag der Feiertag, ein besonderer Freitag, ein Volk tümelt sich, wir sehen uns nicht, mir bleibt zu schreiben: Ich vermisse dich.

An einem Freitag an dem ich dich sehe, an einem Nichtfeiertag-Freitag, freue ich mich, ich bin voll gespannter Erwartung ob morgen ein Samstag werden wird, an dem wir uns sehen, die gespannte Erwartung, das ahne ich am Freitag schon, wird am Samstag einer Desillusionierung weichen, einer Ernüchterung. Was ist es, dass ich dich sehen will und dabei sehe, dass du mich nicht sehen willst?

Meine Stimmung ist hoch, an diesem Freitag, der ein Feiertag ist. Ich sehe dich nicht, vielleicht träume ich dich und fühle mich dir nah obwohl ich dir nicht nah bin. Oder bin ich dir nah? Was kümmert mich gestern, was kümmert mich morgen, an diesem Freitag, an dem ich in Liebe bin.

Ich bedeute mich, schriftlich

Ich zwinge mich, gegen meine Müdigkeit anzukämpfen und ich schreibe, ich ordne abstrakte Zeichen aneinander, die Buchstaben genannt werden, immerhin, hundertsiebzehn dieser abstrakten Zeichen habe ich schon geschrieben, Bedeutendes soll mein Schreiben darstellen, einen hohen Sinn ergeben, immerhin, trotz meiner Müdigkeit habe ich nun schon zweihunderdreiundvierzig dieser abstraken Zeichen, die Buchstaben genannt werden, geschrieben, nun zwingt mich meine Müdigkeit, mit dem Zählen aufzuhören, was auch wieder eine sehr abstrakte Tätigkeit ist, das Zählen, wie das Schreiben, ich frage mich, ob meinem Organismus, mit dem ich hier auf dieser Welt bin, zumindest erlebe ich mich so, ich bedeute mich als Organismus, falls das Sinn ergibt, ich frage mich, ob meinem Organismus das fortschreitende Schreiben gut tut, ob er nicht viel lieber einfach seine Sinne benutzen würde, um am Leben zu sein, anstatt seine Sinne zu unterdrücken, um einer fortschreitenden Vergeistigung entgegenzuschreiben, die Müdigkeit übermannt mich, ich kann nicht mehr zählen, nein ich kann nicht mehr schreiben, ich werde müder und müder…

Etwas gibt es noch zu schreiben, mit letzter Kraft: Sie ruft am häufigsten tetetet, im Frühjahr einen hellklingenden absinkenden Triller zizizirr, bei Erschrecken zerretett! Eine Blaumeise möchte ich sein und mich so sinnlich bedeuten:

tetetet
zizizirr
zerretett!

Unange Nehm

Es wäre einfach, zu einfach, die folgende Geschichte dem Wortspieler Günter Nehm anzudichten. Doch soviel man weiß, hatte er keine Tochter die an Anämie litt und wie ein blasser Engel erschien, auch Albert Nehm hatte keine solche Tochter, und bei Albert Nehm, so viel kann man sagen ohne sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen, wäre es noch unwahrscheinlicher, dass er die Krankheit seiner Tochter mit einem unangebrachten Wortspiel ausgedrückt hätte. Bliebe noch Eduard Nehm, doch auch bei ihm weiß man nichts von einer blassen Tochter, sondern nur von einem Sohn, dessen Blässe oder Nichtblässe hier nicht näher ausgeführt werden soll, und doch hält sich hartnäckig das Gerücht, dass ein gewisser Nehm seine Tochter, die an Anämie litt und ihm wie ein blasser Engel erschien, dass dieser Nehm seine Tochter Unange nannte. War dieser Nehm ein frankophiler Mensch, der seine an Anämie leidende Tochter aufgrund ihrer Blässe Un Ange (einen Engel) nannte, oder war ihm die Blässe seiner Tochter lediglich unangenehm, und er nannte sie deshalb Unange, weil ihr voller Name dann das Adjektiv unangenehm ergab, was die Gefühle ausdrückte, die er gegenüber seiner Tochter empfand?

So viel ist sicher: Dieser Nehm lebt nicht mehr, und auch von seiner Tochter, deren Existenz sich hartnäckig als Gerücht hält, ist nichts bekannt. Ist sie vielleicht nach Frankreich gezogen, um dort als blasser Engel ein ruhiges Leben zu führen, anstatt in Deutschland ein unangenehmes?

Wir werden die Wahrheit nie erfahren, und vielleicht wollen wir das gar nicht.

Kommen

Es stehen aufgereiht der Sohn und der Vater, was ungewöhnlich ist, denn normalerweise würde geschrieben: Es stehen aufgereiht der Vater und der Sohn, aber der Sohn steht vor dem Vater, und es kann doch nicht verlangt werden, dass der Sohn nicht vor sondern nach dem Vater steht, nur damit geschrieben werden kann, was normalerweise geschrieben wird: dass der Vater vor dem Sohn steht.

Demgegenüber ist einzuwenden, dass der Sohn der Nachkomme des Vaters ist, und deshalb nach dem Vater zu stehen hat. Woraus geschlossen werden kann, dass der Vater der Vorkomme des Sohnes ist und vor dem Sohn zu stehen hat. Der Vater soll also vor den Sohn kommen, damit die Dinge so sind, wie sie geschrieben werden sollen.

Nun wenden manche ein, dass die Einführung des Substantivs Komme in diesem Kontext irreführend sei, sei es als Vor- oder Nachkomme. Was ist denn ein Komme? Einer der kommt. Einer der Anwesenden versteht irrtümlich: Einer der kämmt, holt daraufhin reflexartig seinen Kamm aus der Tasche und beginnt sich zu kämmen, was irritiert, aber von der Diskussion nicht in dem Maß ablenkt, dass sie nicht fortgesetzt werden kann.

Das Substantiv Komme kommt also vom Verb kommen, und einer meint, dass kommen nicht stehen bedeute, er erntet mit dieser Aussage sowohl Zustimmung als auch fragende Blicke, weshalb er weiter ausführt, dass es egal sei, ob der Vorkomme vor oder nach dem Nachkommen stehe und umgekehrt, denn ein Komme, so er als solcher bezeichnet wird, kann nicht stehen, sondern nur kommen. Kann also ein Vorkomme nur vorkommen und keinesfalls nachkommen und ein Nachkomme nur nachkommen und keinesfalls vorkommen? lautet die Anschlussfrage des Vortragenden, die er sich selbst bejaht und daraufhin konkludiert: Der von uns verlangte Vorgang, dass der Vater als Vorkomme vorkommt, ist ein zwingender Vorgang, damit der Vater als Vorkomme bezeichnet werden kann.

Es setzt zustimmendes Geraune ein, aus dem eine leichte Genervtheit herauszuhören ist, doch der Vortragende, der seine Stimme zum Vortrag erhoben hat, senkt sie nicht, sondern lässt sie oben und fragt: Sollte der Vater als Vorkomme nicht vorkommen sondern nach dem nachkommenden Sohn bleiben – ist das ein besonderes Vorkommnis? Oder ist ein Vorkommnis immer besonders und es gibt keine normalen Vorkommnisse?

Das Potor des Notors

Als Mittelfeldmotor bezeichnet man im Fußball einen Spieler, der aus der Mitte des Feldes das Spiel nach vorne treibt, die Laufwege seiner Mitspieler erkennt und sie mit Pässen versorgt, die für Torgefahr sorgen. Im modernen Fußball, der von Trainern wie Pep Guardiola geprägt wurde, besteht eine Mannschaft aus elf Motoren, die von überall auf dem Feld das Spiel antreiben, den Ball in Zirkulation halten und so den Gegner unwichtig machen, denn wenn der Gegner den Ball nicht hat, kann er dem dynamischen Treiben nur hechelnd zuschauen.

Er, von dem nun zu reden sein wird, ist kein Motor, kein Mittelfeld- und auch kein Verteidigungs- oder Angriffsmotor, er ist eher ein Randrotor, der vom Rand des Spielfelds das Spiel entzündet, wenn es in seiner Schönheit zu ersticken droht. Er springt dann von der Ersatzbank auf, wild gestikulierend, wie ein Rotor, der Energie erzeugen will. Er ruft Schlachtrufe zu den Spielern, wenn sie ihm zu viel spielen, denn sie sollen kämpfen, Taktik ist für ihn überflüssiges Geplänkel, das Spiel darf nicht gespielt, sondern muss gekämpft werden. Wenn seine Schlachtrufe dem Spiel nicht weiterhelfen, entschließt sich der Trainer oft dazu, ihn in das Spiel einzuwechseln, er gibt also das Spiel auf, um es durch ihn zu einem Kampf zu machen.

Ist er dann auf dem Spielfeld, hetzt er den Gegnern hinterher, der Ball ist ihm dabei nicht so wichtig, weil er ihn oft gar nicht trifft, er meint dazu, im Zweifel sei es ihm wichtiger, den Gegner als den Ball zu treffen, sei es mit physischen oder auch mit psychischen Mitteln. Aufgrund dieser Spiel-, nun ja, eher aufgrund dieser Kampfweise, hat er sich den Ruf des Notors erworben, weil er den Gegnern notorisch hinterherjagt, auf eine nie ermüdende Weise, notorisch eben, die diese ermüdet, aber auch weil er, fällt der Ball ihm mal in der Nähe des Tores vor die Füße, er noch nie in dieses getroffen hat. Ein No-Tor-Kämpfer, der durch seine Notorik es anderen ermöglichen soll, ein Tor zu erzielen.

Vor kurzem war er wieder in ein Spiel eingewechselt worden, weil das Spiel zu einem Kampf ausgeartet war. Die gegnerische Mannschaft bestand aus elf Notoren, sodass sich der Trainer gezwungen sah, ihn zu bringen, um dagegenzuhalten. Sofort warf er sich ins Getümmel: Bei einem Gestocher vor dem Tor des Gegners flipperte der Ball hin und her, bis er ihm, dem eingewechselten Notor, auf den Po prallte und von dort ins Tor trudelte. Der Notor hatte sein erstes Tor erzielt: Es war ein Potor.

Frühfrühling, Spätsommer, Hochherbst und die Struktur in der Unordnung

Als Kind, sagt Vorderbrandner, spürte ich große Unordnung in mir. Deshalb wollte ich Ordnung schaffen und liebte es, Tabellen zu erstellen. Vor kurzem, beim Durchsehen meiner Reliquien, entdeckte ich meine Jahreszeitentabelle. Darin gliedere ich das Jahr in Jahreszeiten, und den Jahreszeiten ordne ich Monate zu. Ich beginne das Jahr wie die alten Römer mit dem März und ende es mit dem Februar. März, April, Mai – der Frühling, unterteilt in Frühfrühling (März), Hochfrühling (April) und Spätfrühling (Mai). Diese Systematik setze ich im Sommer, Herbst und Winter fort. Den Juli nannte ich übrigens Quintilis, den Fünften, wie er bei den alten Römern hieß, als fünfter Monat vom März an gerechnet, und den August Sexitilis, den Sechsten. Erst später nannten die Römer diese beiden Monate Juli und August zu Ehren der Kaiser Julius Cäsar und Augustus. Ich war sehr zufrieden mit meiner Tabelle, und besonders stolz auf die neuen Wortschöpfungen Frühfrühling und Hochherbst.

Die Jahreszeitentabelle

So erlebte ich die Jahreszeiten in strukturierter Weise, und wenn sich die Unordnung in mir regte, die sich in Form von starken emotionalen Ausschlägen äußerte, konnte ich mich an dieser Struktur festhalten, an dieser zeitlichen Struktur, die meine emotionalen Ausschläge vorüberziehen ließ.

Ich erinnere mich an einen der letzten lauen Abende im Spätsommer, ich war wohl acht oder neun Jahre alt. Meine Eltern waren ausgegangen, meine Schwester war auch nicht zu Hause. So bringt mich meine Großmutter ins Bett. Um punkt neun macht sie das Licht aus, obwohl es draußen noch gar nicht dunkel ist. Sie geht aus dem Zimmer und lässt mich alleine. Ich weiß: Sie wird nicht wieder ins Zimmer kommen und schauen ob ich schlafe, sondern sich selbst hinlegen. Ich warte ein paar Minuten und schleiche leise aus dem Zimmer in den Gang, von dort die Treppen hinunter und ins Freie. Ich bin aufgeregt, die Dämmerung zu erleben. Vorsichtig gehe ich Richtung Wald, bei jeder Hecke Schutz suchend, damit mich niemand entdeckt. Im Wald ist es ruhig, selbst die Vögel singen um diese Jahreszeit kein Abendlied mehr. Ich setze mich auf ein Moosbett und schaue andächtig zu den Kronen der mächtigen Bäume hoch: So ist also der Sommer im Wald, in der Dämmerung.

Als die Dämmerung kurz davor ist, der dunklen Nacht Platz zu machen, wird es merklich kühler. Ich beginne leicht zu zittern in meinem Knabenkörper, der nur in einem dünnen Schlafanzug steckt. Außerdem spüre ich die Unordnung in mir hochsteigen. Führt das Erlebnis der Jahreszeiten in der Natur nicht in die geordnete Struktur, sondern ins Chaos? Ich renne so schnell ich kann nachhause, und als ich mein Zimmer erreicht habe, fühle ich mich in Sicherheit. Aber die Sicherheit ist trügerisch: Die Unordnung in mir ist nicht verschwunden. Sie kommt noch intensiver hoch, mit Tränen in den Augen. Soll ich wieder in den Wald laufen?

Panisch greife ich zu einer CD mit einer Aufnahme von Vivaldis Vier Jahreszeiten, die ich vor ein paar Tagen vom Regal meiner Eltern genommen habe, in der Absicht, meiner jahreszeitlich strukturierten Ordnung ein musikalisches Fundament zu geben.

Die Aufnahme beginnt mit dem Winter. Ich bin zu erstarrt, um den Player zu bedienen und den Sommer abzuspielen. In mir ist Winter, und ich bin froh und erleichtert, dass die Musik in meine emotionale Unordnung kommt. Sie wirbelt die Unordnung einerseits auf, machte sie andererseits aber auch aushaltbar. Sie trägt mich durch sie. Draußen ist Sommer und in mir ist Winter. Die Kälte, die Starre. Ich krieche unter meine Decke und bin froh, der Kälte entronnen zu sein. Vielleicht bringt die Geborgenheit der Nacht sogar Wärme in mich.