Archiv der Kategorie: Wirres

Das Leben zu entwirren kann sehr verwirrend sein.

Idlewild – lethargisch, untätig

Manchmal überkommt mich eine Traurigkeit, eine tiefe tiefe Traurigkeit, wenn ich die Leere spüre, die wir durch unser lethargisches Untätigsein verursachen.

Wir verstecken uns hinter unseren Vorstellungen, um die Realität zu verhindern. Wir klammern uns an unsere Vorstellungen, um den Schmerz zu verhindern, den wir glauben, nicht ertragen zu können.

Manchmal traue ich mich, dir in die Augen zu schauen. Ich sehe das Feuer, das in dir brennt. Du wendest dich ab von mir, um dich abzukühlen, um das Feuer zu kontrollieren und dich ihm nicht hinzugeben.

Ich wende mich auch ab von dir, ich verschließe meine Augen, um meinen Glauben zu verstärken, aus diesem Alptraum nie aufwachen zu können. Aus diesem Alptraum, dein Feuer zu spüren, aber nie in seiner Wärme aufgehen zu können.

Wie viel Leid müssen wir noch erfahren, um unsere Masken endlich fallenzulassen?

Die Welt wird uns nie sehen, wenn wir nicht die Augen öffnen.
The world will never see you
till you open your eyes.
Idlewild.

Verloren in der Weite ihres Wiesengeschreites

Meine Fortbewegungsart ist zu Pferd. Doch sie bringt mich dazu, zu Fuß zu gehen. Das kann ich jetzt schreiben, doch nicht verstehen.

Nach unserem Gehen bleiben wir stehen vor der taunassen Wiese im Morgenschein. Sie macht einen Schritt in die Wiese. Ich mache ihn nicht. So löst sich ihre Hand von meiner. Ich schaue ihr nach, wie sie Schritt für Schritt schreitend die Wiese betritt. Ich traue meinen Augen nicht: Eine Wiese ist nicht zum Beschreiten. Nicht einmal zum Bereiten. Wozu gibt es denn Wege! In einer Wiese lauern Pflanzen und Insekten mit ihren giftigen Stacheln, lauern Löcher von Maulwürfen und Fallen und Spalten. Aber sie lässt sich nicht abhalten.

Ich beobachte sie, wie sie im wogenden Gras Schritt für Schritt die Wiese beschreitend betritt. Ich rufe den Lakai, der in pietätvollem Abstand verweilt, und ordne an, die Pferde mit den Reitern bringen zu lassen. Sofort läuft er davon, während ich ungeduldig warte und ab und zu zu ihr blicke, wo ich sehe, wie der Horizont sich weitet, weil sie immer weiter die Wiese beschreitet.

Endlich kommen die Reiter mit ihren Pferden und meinem. Als ich auf ihn steige, bäumt er sich auf. Er weigert sich, die Wiese zu betreten.
„Was hat er bloß? Ich kann mit ihm die Wiese nicht bereiten. Ihr müsst sie für mich vorbereiten!“ befehlige ich den Reitern. Da wollen sie losreiten, um für mich die Wiese vorzubereiten. Doch auch ihre Pferde bäumen sich auf. Immer wieder versuchen sie loszureiten, doch immer wieder bäumen die Pferde sich auf.
„Es ist zwecklos, Majestät!“ ruft schließlich der Vorreiter: „Wir können die Wiese mit den Pferden nicht vorbereiten. Sie bäumen sich dagegen auf.“

Wo ist sie? Seit die Reiter mit den Pferden angekommen, verlor ich sie in der Weite ihres Wiesengeschreites. Doch jetzt kommt sie, unvermutet, prägnant, durch die Wiese geschritten und sagt:
„Liebling, was willst du die Wiese so grob mit den Pferden bereiten? Eine Wiese muss man sanft mit den Füßen beschreiten.“

Digitales Paarungsritual

Sie müssen auf einer Dating-Plattform von einander Notiz genommen haben, denn ihre Köpfe waren vollgestopft mit Parametern, die sie aneinander abklopften. Sie waren im digitalen Modus und verhielten sich entsprechend der Parameter, die die Plattform ihnen vorgegeben hatte, obwohl sie leibhaftig, in ihrem Fleisch und Blut, den Weg entlangkamen. Sie machten auf locker, doch sie wirkten auf mich wie zwei steife Stecken, die sich jeweils an der Bierflasche in ihrer Hand festklammern, um den Halt in der analogen Welt, in die sie sich vorgewagt hatten, nicht zu verlieren.

Als sie näherkamen, konnte ich sie reden hören.
„Ach, du kochst?“ fragte sie.
„Ja“, sagte er, „ja, ja, ich koche schon leckere Sachen.“
„Und was kochst du so?“
„Naja, also, ich bevorzuge eher die einfache Küche.“
„?“
„Also, ich ernähre mich jetzt nicht strikt vegan oder vegetarisch, aber es muss schon gesund sein… zum Beispiel eine Aubergine…“
Es klang, als hatte er sich vorgenommen, die Fertigpizza aus dem Gefrierfach auf keinen Fall zu erwähnen.
„?“

„Oh guck mal“, sagte er, „was für ein schöner Baum“, und leitete so ein durchsichtiges Ablenkumgsmanöver ein.
Während sie zum Baum blickte, nippte er an seinem Bier, um sich zu beruhigen, war ihm doch bewusst, dass er das Essensthema wohl vermasselt hat. Sein Handy schien zu vibrieren, auf dem die Dating-App Alarm schlägt: ALLES FALSCH.
„Ja, ein schöner Baum!“ sagte sie, bemüht, ihren Ausflug ins Analoge zu retten, und schien dabei zu überlegen, ob es richtig war, was sie gerade gesagt hatte.

Sie standen da vor dem Baum und klammerten sich an ihre Bierflaschen. Sie versuchten, den Baum zu betrachten, die Schönheit der Natur als Analogie zu ihrer Begegnung, aber das Analoge verstörte sie. Sie waren in Gedanken nicht beim Baum, bei sich schon gar nicht. Sie waren bei ihren Handys, sie wollten sie zücken und die Dating-App um Rat fragen: HILFE, WAS NUN? Die Bierflasche gab nicht mehr genug Halt, war doch kaum mehr Bier in ihr, das man sich zur Beruhigung einfüllen kann.

Anfangs wollte ich schreiben, dass sie sich über eine Dating-Plattform kennengelernt haben. Aber das hätte das Thema verfehlt. Denn um sich kennenzulernen, muss man bereit sein, das Kennen zu lernen. Davon schienen die beiden weit entfernt mit ihrem appgesteuerten Verhalten.

Als ich lernte dass es keine Liebe gibt

Ich liege am Diwan in der Wohnküche meiner Großmutter. Im Ofen erlöscht langsam das Feuer. Ich sehe das Licht der letzten Funken durch die Ritzen leuchten. Ich schwitze am ganzen Körper, doch es schaudert mich. Kalt läuft es mir durch den ganzen Körper. Ich ziehe die Decke näher an mich. Es hilft nicht. Ich fühle mich wie nackt im kalten Schnee nach einem grauen Tag, an dem es zu dämmern beginnt.

Ich bin der geborene Prinz, der Wunschsohn, von allen geliebt: von meinem Vater, von meiner älteren Schwester. Sagen sie. Bei meiner Mutter bin ich mir nicht so sicher. Sie schien sich dem Wunsch nach einem Sohn nicht so sicher zu sein. Sie sagt es auch nicht. Dass sie mich liebt. Ihre Liebe muss ich mir hart erkämpfen. Doch sie ist es, bei der ich Wärme spüre, wenn sie mich umarmt. Wenn mein Vater und meine Schwester mich umarmen, spüre ich deren Unbehagen, als wollten sie jedes Aufkommen von Wärme vermeiden. Umso mehr muss ich kämpfen für die Umarmungen meiner Mutter.

Im Moment kann ich nicht kämpfen. Ich bin schwach. Sie haben mich zu meiner Großmutter gegeben. Über deren Umarmungen kann ich nichts sagen: Es gibt sie nicht. Ich wickle mich noch enger in die Decke, doch die Kälte in mir will nicht weichen. Ich muss gesund werden, schnell, damit ich für die Liebe meiner Mutter kämpfen kann. Für die Liebe, die mir Wärme gibt. Doch ich bin schwach. Wo ist meine Mutter? Mein Kopf sinkt erschöpft in das Kissen.

Da erscheint ein Gesang von Harfen und Klarinetten. Warm umhüllt er mich. Ich will mich aufrichten und in ihn eintauchen. Doch er tanzt mir davon. Bleib bei mir und umarme mich! Ich will ihn aufhalten, doch ich habe keine Chance. Er weitet sich zu einem großen Orchester. Seine gewaltige Kraft katapultiert mich in den kalten Schnee, der nun von Dunkelheit umhüllt ist. Ich kauere im Schnee und sehe Engel, die über mir schweben. Ich bin zu schwach, um mich zu ihnen emporzuschwingen. Sie tanzen mir fliegend davon. Ich will ihnen nach, doch kaum habe ich mich aufgerichtet, falle ich wieder. So geht das eine ganze Zeit, bis ich merke, dass mich die letzten Kräfte verlassen. Ich sinke gebrochen in den kalten Schnee. Zitternd lasse ich mich von der Kälte einnehmen, bis ich sie vor Erstarrung nicht mehr spüre. Es wird dunkler und dunkler in meiner Welt: in einer Welt ohne Liebe. Ganz weit weg sehe ich den letzten Engel entschweben.

Plötzlich schüttelt es heftig an meinen Wangen. Ich öffne die Augen und sehe das strenge Gesicht meiner Großmutter vor mir: „Was ist denn los, Bub?“ sagt sie mit strenger Stimme: „Was träumst du denn schon wieder?“

Uteto Fritts hat sich forgenommen

Uteto Fritz, der sich selbst als Künstler und Psychologen bezeichnet, war einst als Sprachenergetiker tätig. Diese Tätigkeit hat er jedoch aufgegeben, seit er als solcher in den sozialen Netzwerken bekannt gemacht wurde: Ich kann kein Sprachenergetiker sein, wenn ich als solcher bezeichnet werde, sagte Uteto Fritz dazu. Er hat sich seitdem sprachlich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Nur manchmal meldet er sich, wenn sein Rat explizit angefordert wird.

Nun ist er jedoch von sich aus an mich herangetreten, um mir mitzuteilen, dass er sich vorgenommen hat, künftig beim schriftlichen Gebrauch der deutschen Sprache auf die vier letzten Buchstaben des Alphabets, nämlich auf das W, das X, das Y und das Z, zu verzichten. Zudem will er das Q in seinem schriftlichen Verkehr weglassen.

Das X will er durch KS ersetzen, das Y durch I oder Ü, das Z durch TS und das Q, das ohnehin nur in der Kombination mit U, also als Digraph QU verwendet wird, durch KV.

Kniffliger ist die Sache beim W, das sich als eigener Laut im Deutschen durchgesetzt hat, obwohl es ursprünglich nur ein doppeltes V ist. Das V hingegen ist zu einem Zwitterwesen zwischen F und W geworden, obwohl es ursprünglich nur wie das heutige W gesprochen wurde. Uteto Fritz will daher als Zwischenschritt in seiner schriftlichen Ausführungen der deutschen Sprache das V nicht mehr verwenden, sondern es, je nach Aussprache, durch das F oder das W ersetzen, um später, wenn er sich an diese Praxis gewöhnt hat, das W durch das V zu ersetzen.

Angeregt zu diesen Änderungen hat ihn übrigens, das möchte Uteto Fritz nicht unerwähnt lassen, sein ehemaliger Klient und Komparse Xaver Zinz.

Uteto Fritz betont ausdrücklich, dass er die Buchstaben Q, W, X, Y und Z nicht abschaffen, sondern durch ihre Ersetzung seine Kreativität im Sprachgebrauch erweitern will. Er behält sich vor, diese fünf Buchstaben in Zukunft weiterhin zu benutzen.

Außerdem bat er mich, sollte ich mit seinen Informationen an die Öffentlichkeit gehen, diese zukünftig immer zweisprachig zu veröffentlichen, was ich hiermit tue:

 

Uteto Fritts, der sich selbst als Künstler und Psüchologen betseichnet, var einst als Sprachenergetiker tätig. Diese Tätigkeit hat er jedoch aufgegeben, seit er als solcher in den sotsialen Nettswerken bekannt gemacht vurde: Ich kann kein Sprachenergetiker sein, venn ich als solcher betseichnet verde, sagte Uteto Fritts datsu. Er hat sich seitdem sprachlich veitgehend aus der Öffentlichkeit tsurückgetsogen. Nur manchmal meldet er sich, venn sein Rat eksplitsit angefordert vird.

Nun ist er jedoch fon sich aus an mich herangetreten, um mir mittsuteilen, dass er künftig beim schriftlichen Gebrauch der deutschen Sprache auf die fier letzten Buchstaben des Alphabets, nämlich auf das W, das X, das Y und das Z verzichten will. Tsudem vill er das Q in seinem schriftlichen Verkehr veglassen.

Das X vill er durch KS ersettsen, das Y durch I oder Ü, das Z durch TS und das Q, das ohnehin nur in der Kombination mit U, also als Digraph QU fervendet vird, durch KV.

Kniffliger ist die Sache beim W, das sich als eigener Laut im Deutschen durchgesettst hat, obwohl es ursprünglich nur ein doppeltes V ist. Das V hingegen ist zu einem Tswitterwesen zwischen F und W gevorden, obvohl es ursprünglich nur wie das heutige W gesprochen vurde. Uteto Fritts vill daher als Tsvischenschritt in seiner schriftlichen Ausführungen der deutschen Sprache das V nicht mehr fervenden, sondern es, je nach Aussprache, durch das F oder das W ersettsen, um später, venn er sich an diese Praksis gevöhnt hat, das W durch das V zu ersettsen.

Angeregt zu diesen Änderungen hat ihn übrigens, das möchte Uteto Fritts nicht unervähnt lassen, sein ehemaliger Klient und Komparse Ksaver Tsints.

Uteto Fritts betont ausdrücklich, dass er die Buchstaben Q, W, X, Y und Z nicht abschaffen, sondern durch ihre Ersettsung seine Kreativität im Sprachgebrauch erveitern vill. Er behält sich for, diese fünf Buchstaben in Tsukunft veiterhin zu benuttsen.

Außerdem bat er mich, sollte ich mit seinen Informationen an die Öffentlichkeit gehen, diese tsukünftig immer tsweisprachig tsu feröffentlichen.

 

Anmerkung: Um die Entwicklung in Uteto Fritz‘ Sinn voranzutreiben, habe ich in meiner Übersetzung seinen Zwischenschritt, das V durch F oder W zu ersetzen, übergangen, und habe sofort das W durch das V und das V, das wie F gesprochen wird, durch das F ersetzt.

 

 

Weronika auf Reise mit der satanischen Ferse

Veronika hatte ihre Reise in Växjö begonnen. Sie war dort in den Zug gestiegen, um über Kopenhagen und Hamburg nach Garmisch-Partenkirchen zu reisen. Als Lektüre für die Reise hatte sie Die satanischen Verse von Salman Rushdie dabei.

In Schleswig stieg ein deutscher Professor in den Zug, der den Platz ihr gegenüber bezog, um nach Hamburg zu fahren. Er sah Veronikas Lektüre und fragte sie, ob sie denn deutschsprechende Schwedin sei, was Veronika bejahte. Wohin sie denn reise? fragte er außerdem. Was sie, der Wahrheit entsprechend, mit Garmisch-Partenkirchen beantwortete.

Das waren für den Professor genug gestellte Fragen, und er ging in den Vorlesungsmodus über, während dem er keine Widerrede duldet.
Veronika, ich möchte Ihnen gerne etwas über den Buchstaben V im deutschsprachigen Kulturraum erzählen, sagte er:

Im süddeutschen Raum, vor allem in Bayern, wird das V wie F ausgesprochen, was Salman Rushdies satanische Verse zu einer satanischen Ferse machen. Je weiter nördlich man kommt, desto mehr wird das V wie ein W ausgesprochen. Das V ist ein Zwitterwesen zwischen F und W. Gäbe es das V nicht, müsste eine Feronika aus dem süddeutschen Raum, die nach Norden reist, sich bei Ankunft im Norden Weronika schreiben. Und umgekehrt. Aber sie schreiben sich ja, wie ich annehme, mit V.

Ja, sagte Veronika. und unterbrach den Vorlesungsmodus des Professors, indem sie weiterdozierte:
Ich kenne das W, von dem sie dauernd sprechen, gar nicht. Es ist für mich ein doppeltes V, das im Schwedischen praktisch nicht verwendet wird. Das V wird immer wie W gesprochen.

Sie schlug Die satanischen Verse zu und sah auf den Titel. Dann fuhr sie fort:
In Schweden würde niemand auf die Idee kommen, die satanischen Verse als satanische Werse niederzuschreiben, weil niemand bei satanischen Versen auf die Idee kommen würde, dass es sich um satanische Fersen handeln könnte.

Den Rest der Fahrt nach Hamburg verbrachten sie schweigend.

Franz Vorderbrandner

Vorderbrandner sagt, in seiner Familie gebe es keine Tradition der Vornamen mit V, wie man von seinem Vornamen Valentin und dem seiner Schwester Veronika ableiten könnte. (Die ihre Töchter Valerie und Viktoria genannt hat.) Eher gebe es eine Tradition der Vornamen mit F, sagt Vorderbrandner, denn mein Vater hieß Felix, und mein Onkel, sein Zwillingsbruder, hieß Franz.

Felix und Franz, Söhne des Ferdinand Vorderbrandner, waren ein ungleiches Zwillingspaar. Felix, der ruhige, introvertierte, hatte einen traurigen und nachdenklichen Blick. Er zog sich in seine Werkstatt zurück und fertigte Dinge aus Metall, denn das hatte er lernen dürfen: Tröge, Gitter, Zäune, Tische, Stühle, Regale, aber auch maßstabgetreue Nachbildungen von Fahrzeugen, Häusern und Kirchen, und Skulpturen wie einen Reiter auf seinem Pferd. Es gab fast nichts, was er nicht aus Metall erschuf, und er war ständig am Schaffen, sodass seine Frau Eleonore, meine Mutter, sagt Vorderbrandner, über das Schaffen ihres Mannes klagte: Bei uns ist alles aus Metall! Während der Klagen seiner Frau trug Felix seinen traurigen und nachdenklichen Blick, um anschließend wieder in die Werkstatt zu gehen und weiterzuschaffen.

Felix war der tragische Teil der Zwillingsbrüder. Franz hingegen, der Jüngere, der gut zwei Stunden später aus dem Mutterbauch gekommen war, war eine Ausgeburt an Fröhlichkeit. Kam er in eine Runde, heiterte er sie mit einem Witz auf. Fiel ihm kein Witz ein, ließ er wenigstens einen lustigen Spruch von sich. Manchmal ging so ein Spruch auch zu Lasten seines Bruders Felix, wenn Franz etwa sagte:
Schaut meinen tragischen Bruder Felix an, wie er traurig und nachdenklich dreinschaut. Obwohl er Felix, der Glückliche, heißt. Gäbe es mich nicht, wäre der Name Vorderbrandner ein einziges Jammertal!
Felix nahm die Aussagen seines Bruders schweigend zur Kenntnis und ging, was Franz irritierte. Aber er lächelte über seine Irritation hinweg. So wie er über alles hinweglächelte. Sein Leben schien ein einziges Lächeln zu sein.

Mir imponierte am meisten, sagt Vorderbrandner, dass Franz viel besser Fußballspielen konnte als mein Vater Felix. Das machte ihn für mich zum Star, zum Licht, und meinen Vater zum Verlierer, zum Schatten, der alleine in der dunklen Werkstatt werkt, während Franz sich von den anderen feiern lässt.

Plötzlich und unerwartet starb Felix, nicht mehr jung aber auch noch nicht alt. Das hat Franz tief getroffen. Das Hinweglächeln über alles fiel ihm fortan schwerer. Wenn Franz und ich uns begegneten, sagt Vorderbrandner, waren regelmäßig Tränen in seinen Augen. Franz! sagte ich und wollte ihn in meine Arme nehmen. Aber er ging weg und kam nach einer Weile lächelnd wieder.

Die letzten drei Jahre seines Lebens – Felix, mein Vater, war schon über zwanzig Jahre tot – hat Franz im Pflegeheim verbracht. Er schaffte es nicht mehr, hinwegzulächeln. Er saß da und schaute ins Leere. Als ich ihn einmal mit Marga, seiner Frau, besuchte, fragte sie ihn:
Erkennst du ihn, Franz, den Valentin, den Sohn vom Felix?
Natürlich! sagte Franz ungehalten: Natürlich!
Für einen Moment glaubte ich in seinem Blick etwas zu erkennen, das jenseits seiner Leere und seines Hinweglächelns war.

Vergangenen Sonntag, sagt Vorderbrander, ist Franz gestorben.

Morgens Pro, abends Mus, dazwischen Tes, Tan und Tis

Sein Morgen und sein Abend ist klar strukturiert, und im Prinzip auch der Tag dazwischen. Doch dazu später.

Sein Morgen beginnt mit einem Pro. Er schaut in den Spiegel und ist pro irgendetwas. Es ist egal wofür, nur pro etwas, das ist ihm wichtig, niemals kontra. Er macht eine Ausnahme: Pro sich selbst ist er nie, das verstößt gegen seine Ethik, gegen seine Religion, wenn er auch nicht explizit kontra sich selbst ist. Aber er sagt nie morgens zu seinem Spiegelbild: Heute bin ich pro mich selbst.

Seine Abende sind konkreter: Da gibt es immer Mus. Apfel- oder Pflaumenmus, aber auch Exotischeres wie Kartoffel- oder Erbsenmus, ja, es gibt sogar Fleischmus, was andere als Hackfleisch bezeichnen würden.

Nun zu seinem Tag zwischen Morgen und Abend, der mit Tes, Tan und Tis gefüllt ist, und zwar immer in dieser Reihenfolge. Tes bedeutet für ihn die Beschäftigung mit dem Termersetzungssystem, ein formales berechnungsmodell der Theoretischen Informatik, aber auch das Experimentieren mit Tetraethylsilon. Wenn noch Zeit bleibt, spielt er The Elder Scrolls.

Dann kommt Tan dran, wobei er sich dann mit der Winkelfunktion Tangens, manchmal aber auch mit dem ehemaligen kleinen Lehnsfürstentum desselben Namens beschäftigt.

Tis schließlich ist sein härtester Tagespunkt. Es handelt sich hierbei um das Trauma-Institut Süddeutschland. Dieser Beschäftigungspunkt bringt sein Weltbild gehörig ins Wanken, erfährt er doch hier unter anderem, dass sein großes Vorbild Martin Luther nur deshalb seine Thesen in die Welt setzte, weil er schwer traumatisiert war.

Eines Morgens meldet sich sein Therapeut von Tis bei ihm, als er gerade vom Spiegel kommt und begonen hat, sich mit Tes zu beschäftigen. Er ist noch längst nicht bereit für Tan, geschweige den für Tis. Der Anruf des Therapeuten bringt seine Ordnung in völlige Unordnung und ihn in eine schwere Krise. Sein Therapeut besteht aber darauf, dass es heute sinnvoll sei, sich zuerst mit Tis zu beschäftigen, sich vielleicht den ganzen Tag bis zum abendlichen Mus mit Tis zu beschäftigen, und es leuchtet ihm ein, dass es diese Möglichkeiten grundsätzlich gibt: Statt TesTanTis TisTesTan oder TisTanTes zu machen oder nur Tis zu machen, er kann das intellektuell begreifen, doch es ist ihm unvorstellbar, das auch zu tun, es überfordert ihm emotional derart, dass er den Vorschlag des Therapeuten aufs Vehementeste ablehnt, schwebt doch über all seinem Tun ProTesTanTisMus, und zwar genau in dieser linearen Reihenfolge.

Der Therapeut meint, diese zwanghafte Linearität sei eine Verdrängung der darunterliegenden Traumata, mit der nun Schluss sein müsse.