Deutschstunde mit Vera

Ich frage Vera:
Was unterscheidet Verse
von der Ferse?

Sie sagt:
Phonetisch nicht sehr viel,
das Orthographisch-Semantisch-Visuelle kommt ins Spiel.

Ich schreibe:
Danke Wera
für diese wisuelle Worterläuterung.
Phonetisch betrachtet
bleib ich lieber stumm.

Die Dinge der Welt

Mein Freund Georg ist ein ordnungsliebender Mensch, und nichts liebt er mehr, als Dinge in eine Struktur zu bringen. Da ihn jedoch seine Beziehungen mit der Welt regelmäßig in ungeordnete Krisen stürzen, hat er neuerdings die Philosophie als Disziplin für sich entdeckt. Er studiert in letzter Zeit Buch über Buch, gerät dabei jedoch zunehmend in Unruhe.

Ich sitze mit ihm am Tisch, als er zu mir sagt: „Lieber Emil! Was ich erkenne ist, dass die Philosophie viel mit den Dingen dieser Welt zu tun hat. Meine Bücher bringen mich da nicht weiter. Das ist zu theoretisch.“
Er macht eine kurze Pause. Ich signalisiere ihm, er solle fortfahren. Was er tut.
„Lieber Emil, du bist doch ein Mensch, der sich viel mit den Dingen der Welt beschäftigt. Könntest du nicht mal rausgehen zu den Dingen der Welt, fort von den Büchern, und mir dann berichten, was du erfahren konntest?“

Es erscheint mir eine große Aufgabe, die mein Freund Georg mir da stellt. Doch er hat Recht – nichts interessiert mich mehr als die Dinge der Welt. Meine Neugier ist grenzenlos. Ich verspreche also, mich um sein Anliegen zu kümmern.

Eine große Aufgabe beginnt man am besten mit kleinen Schritten. Ich gehe raus ins Freie, das erscheint mir sinnvoll. Da finde ich die Dinge der Welt am ehesten, glaube ich. Ich sehe eine Pflanze am Wegrand stehen. Sie ist zweifelsohne ein Ding der Welt. Ich frage sie: „Wie geht es dir in deinem Grünsein?“ Sie gibt mir keine verbale Antwort. Natürlich nicht. Das wäre doch eine große Überraschung, wenn mir die Pflanze eine verbale Antwort gäbe. Doch gibt sie mir wirklich gar keine Antwort? Sie erscheint mir plötzlich viel grüner als wenn ich sie nicht gefragt hätte. Ich treffe einen Mann und frage ihn: „Wie geht es dir in deinem Mannsein?“ Er schaut mich irritiert an und sagt: „Sonst geht’s dir gut? Du hast vielleicht Probleme!“ Dann geht er weiter. Ich treffe ein Kind und frage es: „Wie geht es dir in deinem Kindsein?“ „Ich verstehe deine Frage nicht“, sagt das Kind, „aber sie ist lustig. Wollen wir etwas spielen?“ Gerne würde ich mit dem Kind etwas spielen, aber ich habe eine Mission: etwas zu erfahren über die Dinge der Welt.

Allmählich denke ich mir jedoch, dass mich diese Fragerei nicht weiterbringt. Ich sollte mich aufs Beobachten verlegen. Ich beobachte Menschen. Sie scheinen ganz nett miteinander umzugehen, doch ich werde das Gefühl nicht los, dass sich viele von ihnen dauernd anschreien mit ihren Blicken und Gesten. Sie haben gequälte Gesichter. Ich erinnere mich an meine Großmutter, die hatte oft ein gequältes Gesicht. Aber sie hat nie erzählt, was sie denn so quält. Einmal habe ich sie so lange getriezt deswegen, bis sie zwar nicht geschrien, aber geweint hat. Es klingt komisch, aber das war der schönste Moment, den ich mit meiner Großmutter hatte. So nah waren wir uns vor diesem Moment nicht und danach auch nie mehr wieder. Soll ich die Menschen, die ich beobachte, die scheinbar so nett miteinander umgehen, fragen, ob sie, nur für eine Minute, mal offen miteinander schreien? Vielleicht würde das ihre Gesichter von den gequälten Ausdrücken befreien? Ich befürchte, viele von ihnen würden sagen: Wenn ich zu schreien anfange, müsste ich mich selbst erklären. Das will ich vermeiden. Ich bleibe lieber stumm. Und außerdem: Wenn jeder schreit, wo kommen wir denn da hin? Doch ich will ja keine Fragen mehr stellen, nur beobachten. So ein Gesichtsausdruck sagt mehr als tausend Worte, die ihn widerlegen oder verheimlichen wollen, denke ich mir.

Ein weiterer Gedanke kommt während des Beobachtens zu mir: Der Mensch ist immer auf sich selbst zurückgeworfen. Wenn das stimmt, wieso fällt es mir dann so schwer, mich mit mir selbst zu befassen? Wieso ist es ein scheinbar automatisiertes Muster, auf andere zu zeigen, obwohl ich selbst der Betroffene bin? Was ist so schlimm an mir, dass mir dabei unbehaglich werden könnte? Mir kommt jetzt die entscheidende Frage in den Sinn, die ich mir zu stellen habe: „Emil, wie geht es dir in deinem Emilsein?“ Das ist die entscheidende Frage, und nur wenn ich sie mir beantworte, können die Dinge der Welt einen Sinn für mich ergeben.

Ich breche meine Beobachtungen ab und gehe voller Freude über diese Erkenntnis zu Georg. Ich setze mich zu ihm und sage: „Georg, wenn du den Dingen der Welt auf den Grund gehen willst, dann frage dich zuallererst: ‚Georg, wie geht es dir in deinem Georgsein?‘ Als ich mir selbst diese Frage stellte, erschienen mir die Pflanzen plötzlich viel grüner, die Menschen viel menschlicher und die Sonne viel heller.“

„Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, musstest du rausgehen? Das ist herzlich wenig. Ich habe dich losgeschickt, um etwas über die Dinge der Welt zu erfahren, und du wirfst mir alles wieder zurück? Hättest du mir das nicht gleich sagen können?“

„Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen“, murmle ich für mich, durch Georgs Aussage an meinen eigenen Gedanken mich erinnernd.
„Was?“ fragt Georg
„Nein“, sage ich, „hätte ich nicht. Ich hätte es dir nicht gleich sagen können“, beantworte ich Georgs Frage.
„Nein! Was du gerade gemurmelt hast meine ich!“
„Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen.“

Enttäuscht wendet Georg seinen Blick von mir ab. Er sieht zum Fenster hinaus und beachtet mich nicht mehr. Ein gequälter Ausdruck liegt in seinem Gesicht. Ein stiller Schrei liegt in der Luft. Ich entscheide mich zu gehen. Georg jetzt allein zu lassen erscheint mir das einzig Sinnvolle. Leise schließe ich die Tür. Ein Gedanke kommt zu mir: Um sich selbst zu erfahren, geht der Mensch hinaus zu den Dingen der Welt und begegnet ihnen.

„Emil, wie geht es dir in deinem Emilsein?“ frage ich mich. Ich gehe hinaus in den Tag, der noch lange nicht zu Ende ist.

Der Duschkopf

Am Meer gibt es oft Duschen am Strand, damit man sich das Salz vom Körper waschen kann. Auch ich gehöre zu denjenigen, die solche Duschen gerne benutzen, weil mich das Salz sonst juckt, wenn ich es mir nicht vom Körper wasche.

An schönen Sommertagen kann es nun vorkommen, dass sich vor einer solchen Dusche eine kleine Schlange bildet. In solch einer kleinen Schlange befinde ich mich gerade, als plötzlich ein Herr, der unter der Dusche steht, einen lauten Schrei von sich gibt. Alle in der Schlange und sonstige Umstehende schauen daraufhin zu ihm, während er, seinen Rücken mir und den anderen Wartenden zugewandt, wie angewurzelt stehen bleibt. Zögernd dreht er seinen Kopf über die Schulter. Alle warten auf eine Erklärung für seinen Schrei. Ist etwas passiert? Ist alles in Ordnung? Der Herr scheint sich zu sammeln und sagt, immer wieder unterbrochen von einem verlegenen Lächeln: „Diese Dusche ist eine tolle Sache. Um sich das Salz vom Körper zu waschen. Einfach herrlich. Nicht? Wobei ich das Meer an sich, obwohl es voller Salz ist, ja schon sehr mag. Ich meine nicht nur das Baden im Meer. Sondern das Meer an sich. Betrachtet man zum Beispiel die Geschichte der Seefahrt…“

Er setzt gerade an zu erklären, wie die Portugiesen die Hoheit über die Meere erobert haben, als der erste der Wartenden in der Schlange seinen Vortrag unterbricht und ihn fragt, ob er denn nicht neben der Dusche weitererzählen könne, denn er wolle jetzt selbst gerne duschen. Der Mann tritt verlegen zur Seite, als ob er bei etwas sehr Widerwärtigem ertappt worden sei. Er mustert die umstehenden Leute. Hat er Angst, ein Geheimnis von sich preiszugeben? Sein Schrei von vorhin liegt in der Luft.

Unsere Blicke treffen sich. Es ist ein kurzer, aber intensiver Moment. Der Mann zögert. Welche Konsequenzen zieht er aus diesem Moment? Dann stürmt er auf mich zu, packt mich und reißt mich nieder, sodass wir beide auf dem Boden zu liegen kommen.
„Hören Sie!“, sagt er äußerst erregt zu mir. „Das, das geht niemanden etwas an! Niemanden!“
„Was denn?“ frage ich kleinlaut.
„Der Duschkopf!“
Fragende Blicke meinerseits.
„Der Duschkopf machte eben ein sehr komisches Geräusch. Haben Sie es gehört? – Sie müssen es gehört haben!“
Ich getraute mich nicht zu widersprechen.
„Als ich ein kleiner Junge war, hat sich bei einem ähnlichen Geräusch der Duschkopf gelöst und ist mir auf den Kopf gefallen. Es tat höllisch weh. Meine Eltern hatten es nicht gehört, sind erst sehr spät zu mir gekommen. Ich fühlte mich so alleine, so im Stich gelassen.“
Er fängt zu schluchzen an.
Plötzlich wird er wieder ernst, packt mich am Kragen und sagt: „Aber das geht niemanden etwas an. Niemanden!“
Er schaut sich um, richtet sich vorsichtig auf und schleicht davon. Das geht niemanden etwas an! hallt es nach in meinen Ohren.
„Niemanden? Nicht einmal Sie?“ sage ich, aber er ist längst davongegangen und hört mich nicht mehr.

Ich blicke zur Dusche und sehe, dass sie gerade frei ist. Erst einmal abduschen, was ich ohnehin wollte, das ist eine gute Idee, denke ich. Ich stelle mich unter die Dusche und betrachte den Duschkopf. Alles scheint normal. Ich mache das Wasser an. Keinerlei Geräusche. Während das Wasser auf mich prasselt, denke ich: Dem Mann muss geholfen werden! Er muss an die Duschköpfe der Welt wieder herangeführt werden. Und es ist am besten, mit diesem zu beginnen. Ich gehe am Strand umher und suche den Mann. Ich gehe nach hinten, nach vorne, blicke durch alle Reihen. Schließlich finde ich ihn tatsächlich, in einer der versteckteren Ecken. Er blättert in einem Buch über die Geschichte der Seefahrt.
„Kommen Sie!“ sage ich, „ich will Ihnen etwas zeigen.“

Er weigert sich. Ich bleibe hartnäckig, und schließlich kommt er mit. Ich gehe mit ihm zur Dusche. Sie ist frei, keine Schlange davor. Ich stelle mich darunter, mache das Wasser an. Es prasselt auf meinen Körper. Der Mann steht daneben und starrt wie gelähmt auf den Duschkopf. Sein Blick hat etwas Irres, so als sehe er alle Duschköpfe der Welt vor sich, die auf seinen und auf die Köpfe aller seefahrenden Portugiesen knallen. Dann beginnt er, in Schleifen um die Dusche herumzurennen und ruft dabei wie verrückt:
„Duschköpfe beherrschen die Weltmeere! Sie haben die Portugiesen besiegt!“
Er ruft es immer wieder, während er seine Schleifen um die Dusche dreht. Ich spüre Zorn in mir, wahrscheinlich weil mir das alles zu viel wird und ich rufe in seine Schreie hinein:
„Lassen Sie doch die Portugiesen in Frieden! Die geht das nichts an! Es geht um Sie und den kleinen Jungen in Ihnen, der mit den Duschköpfen dieser Welt Frieden schließen soll!“

Er hört mich nicht. Er läuft wie in Trance seine Schleifen. Als ein kleiner Junge seinen Weg kreuzt, stößt er ihn einfach um. Der kleine Junge fängt fürchterlich zu brüllen an. Die Situation scheint völlig zu eskalieren. Dann packen ihn zwei andere Männer und halten ihn fest. Kurz wehrt er sich. Dann fängt er hemmungslos zu weinen an. Dieses Weinen, finde ich, ist das Beste an dieser Geschichte, denn ich hatte das Gefühl, durch die Tränen schien er zu begreifen, dass es ihn sehr wohl etwas angeht, sein Verhältnis zu den Duschköpfen dieser Welt, und dass weder Portugiesen noch sonst wer ihm das abnehmen werden.

Das Wasser prasselt noch immer auf meinen Körper ohne dass ich es merke. So gefesselt bin ich von dieser Szene vor mir. Da berührt mich jemand leicht am Arm und gibt mir zu verstehen, dass er duschen wolle. Für einen kurzen Moment schaue ich die Person verständnislos an über diese banale Bitte in diesem Moment. Dann trete ich zur Seite und sage: „Vorsicht. Duschkopf!“

Was geht mich das jetzt an?

Gedanke und Gedenke

Danke, danke, danke sehr, höre ich die Person sagen. Die Dankesbekundungen nehmen kein Ende, im Gegenteil:

Was für ein nerviges Gedanke, denke ich mir. Doch dies ist offensichtlich ein falscher Gedanke. Denn das Wort Gedanke bezeichnet kein übermäßiges Bedanken (was ich eben für mich als Gedanke bezeichnet hatte), sondern bezeichnet einen, nun ja, einen Gedanken.

Was ist ein Gedanke? (Nein, verschwinde jetzt, Gedanke: Ein Gedanke ist kein übermäßiges Bedanken!) Laut Google ist ein Gedanke ein bestimmter geistiger Inhalt, der als zusammenhängende Einheit gedacht wird. Danke Google, ich danke dir sehr – doch halt: Ich will in kein Gedanke verfallen, das mich bei dieser Person eben so genervt hat.

Ich lese weiter, dass ein Gedanke im Gegensatz zu Wahrnehmung und Intuition als begrifflich aufgefasst wird. Begrifflich! Das ist es ja gerade: Der Begriff Gedanke ist bei mir bereits besetzt, nämlich von übermäßigem Bedanken. Ich brauche einen neuen Begriff für das, was Google als bestimmten geistigen Inhalt bezeichnet.

Allmählich vergeht mir die Lust am Denken, und ich denke: Was soll dieses ganze Gedenke, das dieses Gedanke bei mir ausgelöst hat?