Pilip und Filif Otto

Ein ehemaliger Schulkamerad von mir heißt Pilip Otto. Seine Zwillingsschwester war auch in meiner Klasse, sie heißt Filif Otto. Während meiner ganzen Schulzeit fand ich die Namen der beiden etwas eigenartig. Ich habe sie aber nie gefragt, warum sie heißen wie sie heißen, sondern habe es einfach so hingenommen.

Neulich habe ich Pilip getroffen und ihn endlich gefragt, warum er und seine Schwester denn so heißen, wie sie heißen. Pilip redete gleich bereitwillig drauf los, meinte, das sei eine gute Frage. Er habe sich das selbst schon früh gefragt, als Teenager, und seine Eltern darauf angesprochen. Sie hätten lange gezögert, mit der Wahrheit über seinen und dem Namen seiner Schwester herauszurücken, so als schämten sie sich dafür, aber er blieb hartnäckig. Nun wisse er alles darüber, warum er und seine Schwester heißen, wie sie heißen.

„Also, das war so“, begann er: „Meine Eltern, so haben sie es mir erzählt, hatten beide schon früh, unabhängig voneinander, ein großes Faible für den Namen Philipp. Als sie sich kennenlernten und ihre gemeinsame Vorliebe entdeckten, wurde daraus eine Leidenschaft. Sie haben sich stundenlang damit unterhalten, sich gegenseitig den Namen Philipp zuzurufen. Sogar beim Sex, sagten sie, hätten sie ihre Lust gesteigert, indem sie immer wieder Philipp zueinander sagten. Sie wünschten sich folglich nichts sehnlicher als einen Sohn, den sie Philipp nennen können. Als meine Mutter schwanger wurde, waren sie sehr aufgeregt und hofften innigst, sie würde einen Sohn gebären, den sie dann Philipp nennen könnten. Mit Fortschreiten der Schwangerschaft stellte sich heraus, dass nicht ein Kind im Leib meiner Mutter heranwächst, sondern zwei. Meine Eltern waren – nun ja – nicht enttäuscht, aber doch geknickt. Wenn eines der Kinder ein Junge werden würde, den sie Philipp nennen, wie sollten sie das zweite Kind nennen? Jeder andere Name als Philipp wäre nur ein Abklatsch, so groß war die Leidenschaft meiner Eltern für den Namen Philipp. Das zweite Kind, das nicht Philipp heißen würde, wäre auf ewig der Außenseiter, der weniger Geliebte. Als sich herausstellte, dass höchstwahrscheinlich ein Mädchen und ein Junge im Leib meiner Mutter heranwachsen, nämlich meine Schwester und ich, überlegten meine Eltern kurzzeitig, uns Philipp und Philippine zu nennen. Diese Idee haben sie aber schnell verworfen, denn, so sagte mein Vater, Freunde von ihnen hatten damals ihre gemischten Zwillinge Clemens und Clementine genannt, was sowohl ihm als auch meiner Mutter nicht gefiel.

Was also tun? Sie verfielen in zunehmende Ratlosigkeit, je größer der Bauch meiner Mutter wurde. Als sie eines Abends wieder zusammensaßen und darüber sinnierten, wie sie denn ihre Kinder nun nennen könnten, fiel ihnen auf, dass ihre eigenen Vornamen beide Palindrome sind, also Wörter, die vorwärts wie rückwärts gelesen identisch sind: Meine Mutter heißt Anna und mein Vater Otto. Sie waren begeistert von dieser Tatsache und fanden beide, dass es schön wäre, die Tradition der Palindrome in der Familie aufrechtzuerhalten.

Nun standen sie jedoch vor einem neuen Problem. Sie fanden keine Palindrome für Namen außer Anna und Otto. Meine Schwester und mich wieder Anna und Otto zu nennen kam vor allem für meinen Vater nicht in Frage. Unser Familienname ist Otto, also heißt mein Vater Otto Otto, was ihn schon sein ganzes Leben lang sehr belastet, so sehr, dass er ständig auf psychologische Hilfe angewiesen ist. Diese Belastung wollte er mir, seinem Sohn, nicht weitergeben. Meine Eltern kamen also nicht weiter bei der Namensfindung.

Als meine Mutter einige Tage später erneut bitterlich darüber klagte, dass sie nicht einen Sohn gebären würde, den sie dann Philipp nennen könnte, sondern auch eine Tochter, hatte mein Vater eine Idee: Philipp sei ja, vom Schriftbild her, beinahe ein Palindrom – Philipp rückwärts ist Ppilihp. Da müsste doch was zu machen sein. Nach längerem Herumtüfteln beschlossen sie, mich palindromgerecht Pilip zu nennen. Was für eine Freude!

Blieb immer noch das Problem, wie sie meine Schwester nennen sollten. Da hatte meine Mutter die rettende Idee: Den Jungen werden wir rufen, wie man ihn schreibt, also zweimal mit P – Pilip. Damit das gesprochene F aus Philipp nicht verloren geht, nennen wir das Mädchen Filif – so haben wir es doppelt verankert.

Und genauso haben es meine Eltern dann gemacht, als meine Schwester und ich auf die Welt kamen.“

Pilip Otto schaute mich an und ich schaute ihn an. Wir schwiegen. Er hatte mir erklärt, warum er und seine Schwester so heißen wie sie heißen, nämlich Pilip und Filif Otto, und das war es ja, was ich ihn gefragt hatte. Es gab nichts mehr zu besprechen, alles war gesagt.

Qual der Wahl

Ich gehe die Straße entlang, weil ich es zuhause nicht aushalte. Der Entscheidungsdruck wird unerträglich. Soll ich wie üblich SPD wählen, obwohl ich Martin Schulz gar nicht leiden kann? Ich kann meine Entscheidung doch nicht von einer Person abhängig machen, oder Sigmar? Soll ich grün wählen, als Alternative? Um ehrlich zu sein, sind mir da mittlerweile zu viele schwarze Sprenkel drin in diesem Grün. Da kann ich gleich Union wählen. Ich höre oft den feschen Christian reden, aber ich habe das Gefühl, der spricht nur zu den Männern, deren Frauen mit ihren SUVs die Straßen der Stadt verstopfen. Weiß der Kuckuck was die aneinander so toll finden! Ich fühle mich jedenfalls außen vor.

Ich wollte good old Heiner um Rat bitten, wen ich wählen soll, aber der wollte sich das auch nicht mehr antun und hat sich davor aus dem Staub gemacht. Soll ich diesmal also wirklich über meinen Schatten springen und good old Angi wählen, damit alles so bleibt wie es ist?

Ich gehe an einem Mülleimer vorbei, bei dem zwei ältere Männer darüber streiten, wer zuerst die Pfandflasche entdeckt hat, die darin steckt. Da kommt mir eine neue Idee: Ich wähle AfD, um sicherzugehen, dass ich, wenn ich selbst einmal ein älterer Mann bin, mich nicht mit Afghanen und Syrern um wertvolle Pfandflaschen streiten muss.

Ich gehe weiter, und als hätte eine höhere Macht meine Gedanken mitbekommen, sehe ich folgendes Plakat:

Jetzt weiß ich endlich, welche Partei ich wähle bei der Bundestagswahl am Sonntag: Ich wähle die Partei DIE PARTEI – denn sie ist sehr gut!

 

Komisches und Tragisches (das Leben)

Komisch und tragisch erlebe ich Vorderbrandner. Er sagte mir zuletzt unter Tränen, dass er unendlich froh und unendlich dankbar sei, seinen Platz hier in diesem Leben zu haben. Das war tragisch im Vortrag, aber auch komisch. Warum komisch? Vorderbrandner ist ständig auf der Suche nach seinem Platz im Leben. Das hängt meiner Meinung nach damit zusammen, dass er nicht bereit ist, seinen Platz einzunehmen. Vom Suchen und nicht Finden(wollen) des Platzes im Leben könnte man also Vorderbrandners bisheriges Leben betiteln. Stattdessen verkriecht er sich oft in der Ecke. Er erfindet für dieses Verkriechen alle möglichen Argumente. Er sagte zum Beispiel einmal, er sei eine konstante Belastung für seine Umwelt, seine CO2-Bilanz sei konstant negativ, wie im übrigen die eines jeden Menschen. Deshalb bezweifle er, ob seine menschliche Existenz über eine berechtigte Grundlage verfüge, wie im übrigen die eines jeden Menschen. Gleichzeitig, und das macht die Sache so komisch, hat er eine unglaublich große Sehnsucht nach dem Leben.

Bevor ich mich in Allgemeinheiten verliere, will ich konkret werden: Vorderbrandner und ich fuhren mit unseren Fahrrädern die Ainmillerstraße in München-Schwabing entlang. Das war gar nicht tragisch. Das war auch nicht komisch. Deshalb erwähne ich es, weil es ungewöhnlich ist, mit Vorderbrandner etwas zu erleben, das nicht tragisch und nicht komisch ist. Ein Auto fuhr vor uns durch die Ainmillerstraße. Es fuhr so langsam, dass wir zu ihm aufschlossen. Wir fuhren hinter ihm her, bis wir kurz vor dem Ende der Ainmillerstraße angelangt waren.

Der Ort des Geschehens

Die Ainmillerstraße mündet in die Kurfürstenstraße. An dieser Einmündung muss man sich entscheiden: Biegt man nach links oder nach rechts in die Kurfürstenstraße ein? Geradeaus weiterfahren ist nicht möglich. Der langsam fahrende Autofahrer vor uns tat seine Entscheidung nicht kund: Er setzte keinen Blinker. Oder hatte er sich noch nicht entschieden und zuckelte unentschieden auf die Kreuzung zu? Das Auto wurde jedenfalls immer langsamer. Warum erzähle ich das? Weil Vorderbrandner unvermittelt mit seinem Fahrrad links an dem langsamer und langsamer werdenden Auto vorbeifuhr. Auf Höhe der Fahrertür, deren Scheibe geöffnet war, sagte er zum Fahrer: „Es wäre nett von Ihnen, wenn Sie blinken würden und uns so mitteilen, ob Sie links oder rechts abbiegen wollen!“ Er sagte es in einem subtil provokanten Ton, der sich schwer beschreiben lässt.
„Wieso? Ich suche einen Parkplatz“, hörte ich den Fahrer irritiert aus dem Wagen antworten.
„Dann wäre es nett von Ihnen, wenn Sie Ihrer Umwelt mitteilen, wo Sie beabsichtigen, Ihren Parkplatz zu suchen, links oder rechts.“
Der Fahrer wurde verbal ungehalten, woraufhin Vorderbrandner durch die offene Scheibe ins Auto griff und den Blinkerhebel betätigte. Der Wagen war inzwischen mitten auf die Kreuzung gerollt und blockierte den Verkehr. Links und rechts hupten andere Autos.
„Sie Unverschämter Sie!“ schrie der Fahrer aus dem Wagen.
„Bitte nach rechts fahren, nach dorthin ist der Blinker gesetzt!“ erwiderte Vorderbrandner scheinbar ungerührt und herablassend und gab mir Zeichen zum Weiterfahren.

Ich folgte seiner Anweisung. Nichts wie weg hier! Wir fuhren weiter und überließen die angerichtete Szene den anderen Protagonisten. Beim Weiterfahren dachte ich über den, wie ich finde, äußerst dreisten und provokanten Auftritt Vorderbrandners nach. Einerseits hat Vorderbrandner diese große Scheu, seinen Platz im Leben einzunehmen, andererseits legt er Auftritte wie eben jenen hin.

Wir fuhren in unser Büro in der Georgenstraße 146 in München-Schwabing. Dort angekommen, hörte Vorderbrandner ein wenig Musik. Das macht er oft, um Erlebtes zu verarbeiten. Diesmal drangen trällernde Opernstimmen durch den Raum. Ich ging näher zu Vorderbrandner und sah auf dem Bildschirm zwei Opersängerinnen, als Männer verkleidet, die sich in einem gesanglichen Zwiegespräch befinden.

Vorderbrandner, ungewöhnlich kommunikativ für einen solchen Moment der inneren Besinnung, sagte: „Das ist ein Ausschnitt aus der Oper Serse von Händel – komische Tragödie und tragische Komödie.“
„Komisch ist das in der Tat“, sagte ich: „Wieso sind denn die Frauen als Männer verkleidet?“
„Es gibt keine Kastraten mehr, die die Rollen singen könnten.“
„Tragisch… Für die Oper, meine ich, – dass es keine Kastraten mehr gibt“, und meinte es komisch.
Wir lauschten dem Gesang.
„Der in weiß Gekleidete ist König Serse“, erläuterte Vorderbrandner und zeigte auf die Opersängerin in der weißen Uniform. „Er offenbart seinem Bruder Arsamene (die in schwarz gekleidete Dame im Video – Anm. d. Red.), dass er der schönen Romilda seine Liebe gestehen wird, obwohl Arsamene mit ihr verlobt ist.“
Vorderbrandner interessierte vor allem eine Sequenz des Videos, zwischen 1:00 und 2:30, die er mehrmals abspielen ließ. Hier verkündet Serse seine Absicht: Io le dirò che l’amo, ne mi sgomentarò. (Ich werde ihr sagen, dass ich sie liebe, ich werde nicht davor zurückschrecken.)

„Schau!“ sagte Vorderbrandner und zeigte auf den Bildschirm, „wie stolz Serse ist; wie er sich auf seine Sänfte heben lässt und immer wieder betont, dass er Romilda seine Liebe gestehen wird! Was für ein stolzer, leidenschaftlicher Platzhirsch!“ Seine Augen leuchteten vor Begeisterung, als nähme Serse stellvertretend für ihn den Platz ein, den er sich gerne nehmen würde. Wir waren wieder mitten drin im Komischen und Tragischen.

Während wir weiter dem Gesang lauschten, stellte ich mir Vorderbrandner in der Ainmillerstraße vor, wie er auf den Dächern der hupenden Autos steht und im Falsett die Arie des Serse singt. Wieso ist mit Vorderbrandner immer alles komisch und tragisch? Liegt es wirklich nur daran, dass er seinen Platz im Leben sucht und nicht finden will? Oder liegt es daran, dass er mir beständig vorführt, was das Leben ist: Komische Tragödie und tragische Komödie?

Ein Foto für die Welt

Ich habe mich lange gegen die sogenannte Digitalisierung gewehrt, wollte meine Privatsphäre achten, wollte der Instagramisierung trotzen. Doch nun haben mich all die netten Menschen von Google, Facebook etc. bekehrt.

Ich weiß jetzt, dass es notwendig ist, sich zu zeigen, ja mehr noch, dass es glücklich macht. Darum teile ich heute voller Freude ein Foto mit der Welt, dessen Motiv aus meinem tiefsten Herzen kommt:

Ich bin sehr froh, dass ich diesen Schritt getan habe, fühle mich sehr erleichtert und warte auf die spannenden Kommentare der Welt. :—)