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Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?

Leidenskultur

Unsere Kultur leidet gerne, sagt Vorderbrandner, Leben muss Leiden sein, Leiden ist erträglicher als Selbsterkennen. Jean-Luc Godard war ein genialer Leidender, ein genialer Bewahrer unserer Kultur:

Unglückliche Umstände

Ich erlebe meine Mutter seit jeher als eine angespannte, unglückliche Frau, sagt Vorderbrandner, aber sie selbst rationalisiert ihr Angespanntsein und ihr Unglücklichsein seit jeher, das heißt sie sagt nie: Ich bin angespannt und unglücklich, obwohl sie sich angespannt und unglücklich fühlt, sondern sie sagt: Die Umstände meines Lebens machen mich angespannt und unglücklich, es ist ganz klar, dass ich angespannt und unglücklich bin, es geht gar nicht anders, wie sollte es anders sein, bei den Umständen meines Lebens. Sie rennt von Arzt zu Arzt und klagt über ihr Angespanntsein und Unglücklichsein, aber keiner kann mir helfen, sagt sie, jeder bestätigt mir nur, dass ich angespannt und unglücklich bin.

Ihr Lieblingsarzt, ein Psychiater, zu dem sie schon sehr lange rennt, bestätigt ihr immer wieder, dass sie ein toller, wenn nicht sogar ein hervorragender Mensch sei, aber die Umstände ihres Lebens zwängen sie dazu, ein angespannter und unglücklicher Mensch zu sein.

Einmal bat mich meine Mutter, zu ihrem Lieblingsarzt mitzukommen, denn es wäre besser, familiäre Konflikte mit einer dritten, neutralen Person zu besprechen. In der Absicht, die leidensreichen Umstände des Lebens meiner Mutter, die zu ihrem Angespanntsein und Unglücklichsein führen, zu mildern, kam ich mit, woraufhin der Arzt mich belehrte, mit welch schwierigen Umständen meine Mutter zu kämpfen habe, mit meiner ungehörigen und unbelehrbaren Schwester etwa, warum meine Schwester, ihre Tochter – er zeigte verständnisvoll auf meine Mutter – so ungehörig und unbelehrbar sei, wisse er nicht, er kenne sie ja nicht, und er sei froh, nun wenigstens mich kennenzulernen, den Sohn, denn auch ich sei ein schwieriges Kind, ein Umstand, der meine Mutter belastet, und so zementierte sich bei diesem Gespräch erneut mein in der Kindheit entwickelter Grundsatz, dass Männer für Frauen schwierige Umstände seien, Umstände, die Frauen belasten, die sie angespannt und unglücklich machen, denn auch mein verstorbener Vater wurde erwähnt, der als Vater völlig versagt habe, was zu meinem schwierigen Sohnsein geführt hätte, zu meinem Sohnsein, das für meine Mutter eine große Belastung sei, ich sei quasi die Fortsetzung des belastenden Männerdaseins für die Frauen im Allgemeinen und für meine Mutter im Speziellen, die Aussagen des Arztes prasselten wie schwere Vorwürfe auf mich ein, ich war nicht fähig, weder mich selbst noch meinen Vater zu verteidigen, auf mein und sein Recht zu pochen, ein Mann zu sein, sondern ergab mich devot meinem Schicksal als Belastung für die Frauen im Allgemeinen und für meine Mutter im Speziellen: Männer sind für Frauen belastende Umstände, die sie angespannt und unglücklich machen. Dabei ließ ich völlig außer Acht, und ich hatte den Eindruck auch der Arzt, dass auch meine Schwester als Frau ein belastender Umstand für meine Mutter sei, und weil ich es außer Acht ließ, fragte ich nicht nach, was der Grund sein könnte, dass auch meine Schwester, obwohl sie kein Mann ist, ein belastender Umstand für meine Mutter sei.

Johanna sagt nicht, dass sie mich liebt, sagt Vorderbrandner, aber ich spüre es, ich spüre, dass ich kein belastender Umstand für sie bin, der sie angespannt und unglücklich macht. Johanna sagt: Es muss aufhören, das Beschuldigen, das generationenübergreifende Anklagen, es muss aufhören! Hör auf dich zu beschuldigen, nimm die Schuld von dir, entschuldige dich! Du bist erwachsen genug dazu.

Auf der Treppe der U-Bahn-Station

Im Spiegel der U-Bahn-Station sehe ich mich die Treppe hinuntersteigen und staune: Das bin ich. Ich spüre, wie meine Gelenke meine Beine jede Stufe geschmeidig hinuntergleiten lassen. Was für ein Wunder: Ich in meinem Körper auf dieser Erde. Wie gut mein Körper funktioniert und mich durchs Leben leitet.

Und doch beruhigend zu wissen, dass eines Tages, wenn er gekommen ist, mich der Tod aus dieser körperlichen Form erlösen wird.

Bleib am Leben!

Mein Vater starb viel zu früh für heutige Verhältnisse, mit Mitte fünfzig, und viel zu plötzlich, an einem Lungenkollaps. Der hatte sich, im Nachhinein betrachtet, angekündigt, als er sich monatelang kraftlos durch seine Tage schleppte, aber als Anfangzwanzigjähriger, der ich damals war, wurde ich von seinem Tod überrascht.

In meinen Träumen nach seinem Tod rannte ich über sonnige Wiesen, in denen er am Wegesrand erschien. Er stand da, scheinbar völlig genesen und doch unwirklich, irre, verrückt. Ich blieb stehen und er lächelte. War das das Glück, das ich mir wünschte? Ich konnte nicht stehenbleiben. Ich rannte weiter. Er blieb zurück und verschwand wieder.

In einem meiner Träume, ich rannte wie immer, bauten sich hinter mir dicke schwarze Wolken auf, dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Jetzt stirbt er wieder, dachte ich. Ich rannte zu ihm zurück. Vater, rief ich, bleib am Leben! Es gibt noch etwas zu erledigen!

Als ich zu ihm zurückkam, erschien er wie Phönix aus der Asche. Es schien, als hätte er meinem Willen gehorcht. Der Regen, den die dicken schwarzen Wolken gebracht hatten, verzog sich und die Sonne kam raus. Ich legte mich vor ihm ins Gras. Er setzte sich zu mir und streichelte mir liebevoll über den Kopf. Dann erstarrte er und entschwand mir wieder.

Ich stand auf. Ich rannte nicht, ich ging ruhigen und kraftvollen Schrittes. Ich ließ ihn allein zurück. Und dennoch hatte ich das Gefühl, dass er bei mir blieb. War das seine Auferstehung? Ließ ich ihn gehen? War das Kind in mir nun bereit, sein eigener Vater zu sein?

 

Gefangenhalting

Mein Vater war ein zerrissener Mensch: Er schwärmte von bäuerlichen Leben am Berg und arbeitete in der Metallfabrik im Tal. Wir wohnten direkt unterhalb des Stoissbergs, der Keimzelle des Namens Hinterstoisser. Auf den hinteren Hängen des Stoissberges lebte einst ein Mann, der als erster den Namen Hinterstoisser erhielt. Unterhalb des Stoissbergs, in der Ortschaft Anger, wo wir wohnten, war es während der Wintermonate sehr schattig. Meine Mutter, die in dem ebenfalls schattigen Dorf Aufham ihre Kindheit verbrachte, wollte deshalb in die Stadt Freilassing ziehen, die nördlicher liegt und nicht mehr im Schatten der Berge. Außerdem, sagte meine Mutter, ist es praktischer, wenn wir in der Stadt leben und nicht in diesem Kaff. Du arbeitest doch sowieso dort, sagte meine Mutter zu meinem Vater, und ich werde dort auch Arbeit finden.

Aber mein Vater wehrte sich vehement gegen diese Pläne meiner Mutter. Ein Hinterstoisser, das sei nun mal Gesetz, habe auf dem Stoissberg oder zumindest am Fuße des Stoissbergs zu wohnen. Nach Freilassing kannst du alleine ziehen, sagte mein Vater zu meiner Mutter, obwohl er täglich nach Freilassing zur Arbeit in die Metallfabrik fuhr. Freilassing, sagte mein Vater weiter, hat den völlig falschen Namen. Es ist eine Ausgeburt an Häßlichkeit, und ich frage mich, wie man dort wohnen kann. Dort kann man doch nicht freiwillig sein mögen. Ich glaube, alle, die in Freilassing wohnen, werden dort gefangen gehalten, und deshalb sollte es Gefangenhalting heißen und nicht Freilassing.

Sollte es nicht Gefangennehming heißen, wandte ich ein: Ich meine – man kommt nach Freilassing und wird dort gefangen genommen und nicht mehr frei gelassen. Das Gegenteil von frei lassen ist doch gefangen nehmen und nicht gefangen halten. Mein Vater hatte keine Lust, in diese Diskussion einzusteigen, und verschwand in den Keller, um dort ein oder mehrere Bier zu trinken.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, ihn mit meinen spitzfindigen Überlegungen vergrault zu haben, und dachte weiter, dass sowohl gefangen nehmen als auch gefangen halten das Gegenteil von frei lassen sein kann, denn jemanden frei lassen kann sowohl bedeuten, ihn oder sie in die Freiheit zu entlassen, aber auch ihn oder sie in der Freiheit zu belassen. Insofern hatte mein Vater völlig recht, Freilassing Gefangenhalting und nicht Gefangennehming zu nennen, und ich fühlte mich schuldig, ihn dazu veranlasst zu haben, in den Keller zu gehen und ein oder mehrere Bier zu trinken.

Freilassing blieb ein Reizthema zwischen meinen Eltern. Als kleiner Bub war ich auf der Seite meines Vaters: Ich liebte es, an den Hängen des Stoissbergs herumzustreifen, in den Wäldern Hütten zu bauen oder kleine Wasserläufe aufzustauen, und ich wünschte mir sehnlichst, nicht nur am Stoissberg, sondern auf dem Stoissberg zu wohnen. Was sollte ich in Freilassing?

Je älter ich jedoch wurde, desto mehr schlug ich mich auf die Seite meiner Mutter. Freilassing wurde immer interessanter, mit seinen Läden und Menschen und Mädchen. Mit seiner Nähe zu Salzburg, das man von dort mit dem Zug in ein paar Minuten erreichen kann. Wäre nicht die künstlich gezogene Staatsgrenze zwischen Deutschland und Österreich, wäre Freilassing quasi ein Teil der Stadt Salzburg, eine westliche Vorstadt. Immer öfter wollte ich mitkommen zum Einkaufen nach Freilassing, und wenn wir wieder nachhause fuhren, wollte ich am liebsten dort bleiben. In Anger, an den Hängen des Stoissbergs, gefiel es mir immer weniger, und mein Vater wurde sehr unglücklich darüber, dass ich nicht mehr mit ihm an den Hängen des Stoissbergs umherstreifte, sondern nach Freilassing fuhr, sooft ich nur konnte.

Einmal, ich war gerade dabei, mein Fahrrad zu schnappen und nach Freilassing zu radeln, schnauzte mich mein Vater in seiner Verzweiflung an, warum ich denn schon wieder in dieses Drecksnest fahre. Weil ich mich in Freilassing frei gelassen fühle, und nicht wie hier gefangen gehalten, schnauzte ich zurück. Die Dinge hatten sich gedreht. Was für meinen Vater Gefangenhalting war, war für mich Freilassing und umgekehrt.

Ich spüre noch die Luft, die mich umwehte, als ich nach Freilassing radelte, während mein Vater in den Keller verschwand, um ein oder mehrere Bier zu trinken.

Guardian Angels, oh, Protect Me!

Im Morgengrauen verließ ich unser Chalet, um zu gehen. Gehen beruhigt mich. Ich ging den Hang hoch, Schritt für Schritt das Schneefeld überwindend, mit bedächtigem Rhythmus. Ab und zu pausierte ich. Schaute nach Osten, wo sich die Sonne immer mehr dem Horizont näherte. Schaute nach unten, auf das Chalet, unter dessen Dach du noch schliefst, während ich unruhig dem Morgen entgegenwanderte. Ich war stolz, dass wir unter einem Dach übernachtet hatten. Nicht in einem Zimmer, schon gar nicht in einem Bett, Aber immerhin unter einem Dach.

Oben auf dem Gipfel blickte ich auf das weite Land unter mir. Ich hatte Angst mich zu verlieren in dieser himmlischen Weite. Eilig hastete ich hinunter, zum Chalet zurück. Seltsam, dass ich glaube, mich bei dir zu finden.

Im Frühstücksraum setzte ich mich an einen Tisch, und als du kamst und mich sahst, setztest du dich an einen anderen Tisch. Deine Misshandlung tat mir weh. Ich stand auf und ging ins Freie. Nach einer Weile hörte ich, wie sich hinter mir leise die Tür öffnete. Ich spürte dich.

„Hast du gut geschlafen?“ fragte ich dich, ohne mich umzudrehen.
„Ja.“
„Das freut mich.“

Ich nahm die Rodel und stürzte mich ins Tal. Du nahmst den sicheren Weg zu Fuß. Unten setzte ich mich auf einen Stein und wartete auf dich. Du brauchtest lange, aber ich wartete auf dich. Als du kamst, gingst du an mir vorbei und stiegst ins Auto.

Ich sah dem Auto nach, das du ins Tal steuertest. Ich war drauf und dran, mich wegzuwerfen. Aber ich war am Sattel, die Berge ringsherum. Nirgends steil genug, um mich wegzuwerfen. Starr schaute ich in die Sonne. Ich wusste nicht weiter. Gehen schien keine Option mehr.

Da kam das Auto zurück. Du stiegst aus, und zu meiner Überraschung überraschte es mich nicht. Wir gingen los und suchten unseren gemeinsamen Rhythmus. Wir taten uns schwer. Wir setzten uns.

„Ich habe überhaupt nicht geschlafen letzte Nacht“, sagtest du, „ich habe kein Auge zugetan.“
Ich sah dich an und sah deine Erschöpfung. Ich hatte dich noch nie so schön gesehen, so offen und frei.

„Warum verlässt mich jeder?“ sagtest du und schautest zum Himmel: „Ich muss geliebt werden. Ich kann mich selbst nicht lieben.“

Ich hörte den Gesang in deiner Stimme. Ich spürte, wie du dich findest in deinem Schmerz. Wie du beginnst, dich zu lieben. Ich weiß nicht, war ich der Oboist, der deinen Gesang untermalte, oder der Lautenist, der dich mit sanftem Rhythmus begleitete. Jedenfalls hatte ich etwas gefunden, was ich nur durch dich finden konnte.