„Weißt du, was immer stimmt?“ fragte er.
Ich schüttelte den Kopf und erwartete eine weise Antwort aus seinem Mund.
„Die Stimme“, sagte er.
Vielleicht war es eine weise Antwort.
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Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ist das schon weis?
„Ach, aber mit Versen ist so wenig getan“ (zum 150. Geburtstag von Rainer Maria Rilke)
Am 4. Dezember 1875 wurde Rainer Maria Rilke in Prag geboren. Hier einige Zeilen aus seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge:
„Ach, aber mit Versen ist so wenig getan, wenn man sie früh schreibt. Man sollte warten damit und Sinn und Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein langes womöglich, und dann, ganz zum Schluss, vielleicht könnte man dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind. Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug) – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muss man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muss die Tiere kennen, man muss fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man muss zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen sah – an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind, an die Eltern, die man kränken musste, wenn sie einem eine Freude brachten und man begriff sie nicht (es war eine Freude für einen anderen -), an Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer überhaupt, an Meere, an Reisenächte, die hoch dahinrauschen und mit allen Sternen flogen – und es ist noch nicht genug, wenn man an alles das denken darf. Man muss Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von denen keine der andern glich, an Schreie von Kreißenden und an leichte, weiße, schlafende Wöchnerinnen, die sich schließen. Aber auch bei Sterbenden muss man gewesen sein, muss bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster und den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt auch noch nicht, dass man Erinnerungen hat. Man muss sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muss die große Geduld haben, zu warten, dass sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, dass in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.“
Wirklichkeit
Ich wirke. Du wirkst. Wir wirken.
Das ist meine. Das ist deine.
Das ist unsere Wirklichkeit.
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort
Rilke ist als Dramatiker gescheitert. Warum? Die Antwort hat er sich selbst gegeben:
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
(Rainer Maria Rilke aus: Mir zur Feier)
Hört auf das Wesen der Erscheinungen, anstatt sie mit Worten festzunageln, sprach er, und nagelte sein eigenes Leben mit Worten fest. Ist das ideale Rilke-Stück eine Choreographie des Schweigens?
Oh Sprache, fließe dahin!
Gegen Ende seines Lebens war Rilke des Deutschen überdrüssig und wollte Französisch zu seiner Sprache machen. Kann das gelingen, von einer Sprache in die andere zu flüchten?
Ich kenne das Gefühl, dass Worte hart, trocken und spröde werden, jetzt zum Beispiel habe ich dieses Gefühl, dass alle Worte zu wenig sind, dass jedes Wort zuviel ist, ich weiß nicht, warum ich schreibe, um zu sagen, dass Schreiben für mich keinen Sinn ergibt.
Musik, Musik! Kann sie mich retten in meinem Zwang mich auszudrücken, ohne es zu können? Oh Sprache, hör auf, mir hart und trocken und spröde zu erscheinen! Fließe dahin mit den Tönen und nimm mich mit!
Haft
Kommt Haft von haften? Oder ist es das Wort für substanzungebundene, personengebundene Sucht?
Inselmoment
Der Film Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent von François Truffaut ist viel zu dramatisch. Er gilt als einer von Truffauts schlechtesten, wenn nicht sogar als sein schlechtester Film. Unerreichbare Liebe in unerträglicher Traurigkeit wird geboten. Immer wieder ertappe ich mich dabei, Teile des Films anzuschauen, vor allem jene, die mit Musik von Georges Delerue unterlegt sind, mit schwülstiger Musik, die noch tiefer in das Drama der Bilder führt.
Warum zieht mich dieser Film so in seinen Bann?
Als ich zwei Jahre alt war, war mein Leben auch viel zu dramatisch. Ich nenne ihn den Inselmoment meines Lebens, als man mich – medizinisch begründet – zwei Wochen lang von der Außenwelt isolierte. Zu schwer sei die Infektion meiner Verdauungswege, nur so könne man vermeiden, dass sich andere infizieren.
Da lag ich zweijähriger, die Eltern winkten ab und zu durch eine Scheibe, ich glaube mehr die Mutter, der Vater hat die Situation wohl nicht ertragen und ist zuhause geblieben, ich erwartete den Tod, denn ich glaube nicht, dass das, was ich erlebte, mir wie Leben erschien.
Den Inselmoment in Truffauts dramatischem Film mag ich am liebsten: Anne und Claude wohnen auf einer kleinen Insel in einem See, auf der Insel La Motte im Lac d’Illay, und lieben sich. Das Alleinsein des Mannes hat ein Ende, die Frau steht ihm nahe. Ich spüre die Wärme Annes, die Wärme ihrer Weiblichkeit, die den Moment durchflutet.
Ich weine jedes Mal, wenn ich die Bilder dieses Moments sehe, musikalisch unterlegt mit dem Stück Une Petite Île von Delerue. Ich habe panische Angst, dass dieses Glück zu Ende geht. Dass Anne Claude verlassen wird, dass sie ihn alleine zurücklässt auf der Insel. Und sie verlässt ihn ja auch später im Film, so wie meine Mutter nicht zu mir kam, sondern von der Scheibe entschwand und mich allein zurückließ, allein mit der Musk die sie mir vorspielten.
Die Musik ließen sie mir als einzigen Strohhalm zum Leben, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie mir Delerues Une Petite Île vorspielten.
Epilog
Als mein Inselmoment von zwei Wochen Dauer vorbei war und ich nachhause kam, verweigerte ich jeden Kontakt mit meinen Eltern. Ich hatte überlebt, aber meine Liebe war gebrochen. Meine Angst war zu groß, wieder verlassen zu werden. Ich war ein Meister geworden im Erschaffen von Inselmomenten.
Königin Lara
Es lebte einst eine junge Frau in einer Hütte am Waldrand. Als der König mit seiner Jagdgesellschaft an ihrer Hütte vorbeiritt, gefiel sie ihm sehr. Er hielt an und fragte sie: Willst du meine Frau werden?
Ich weiß nicht, antwortete die junge Frau.
Eine Unverschämtheit, diese Antwort! rief der König und ließ in das Horn blasen, um mit seiner Gesellschaft weiterzureiten.
Als er das nächste Mal an der Hütte vorbeiritt, wollte der König nicht anhalten, doch die junge Frau gefiel ihm wieder so gut, dass er nicht anders konnte als anzuhalten.
Nun, sagte der König vorsichtig, hast du über meine Frage nachgedacht?
Über welche Frage? fragte die junge Frau.
Dem König fuhr es kalt über den Rücken ob dieser Missachtung seiner Würde, und nach einer Pause sagte er:
Ob du meine Frau werden willst!
Ach so, sagte die junge Frau, das meinst du. Ich weiß nicht recht – mir gefällt es sehr gut hier in meiner Hütte.
Da schaute der König entgeistert nach vor, spannte seine Zügel und ritt mit seiner Gesellschaft davon.
Ihm war nicht nach Jagen, und so ritt er mit seiner Gesellschaft bedächtig übers Land.
Umbringen werd ich sie, diese unverschämte Weib, umbringen. Verbrennen lass ich sie, auf dem Scheiterhaufen.
Doch er tat es nicht.
Als er das nächste Mal an ihrer Hütte vorbeiritt, war er voller Zorn, doch als er sie sah, gefiel sie ihm wieder so gut, dass er erneut fragte:
Willst du nicht doch meine Frau werden?
Na gut, sagte die junge Frau, wenn du so darauf bestehst.
Dann komm mit mir an meinen Hof! rief der König begeistert aus.
Muss ich das?
Der König schwieg, sein Gesicht wurde bleich vor Entsetzen. Was bildete dieses Weibsbild sich ein!
Ich kann doch auch deine Frau werden und hier in meiner Hütte bleiben, meinte die junge Frau.
Der König war außer sich vor Zorn, doch sie gefiel ihm so gut, dass er seinen Zorn in Zaum hielt und fragte:
Wie soll das gehen? Wie sollen wir uns dann sehen?
Indem du mich besuchst, so wie jetzt.
So besuchte der König die junge Frau in ihrer Hütte und machte sie zu seiner Frau.
Wie heißt du eigentlich, meine Frau? fragte der König nach der Trauung.
Lara.
Lara! Ab jetzt bist du Königin Lara!
Kann ich nicht einfach Lara bleiben?
Der König senkte den Kopf und vergrub ihn in seiner Hand.
Wenn du willst, nenne ich mich ab sofort Klara, das K vorneweg für Königin. Aber Königin werde ich mich nicht nennen, das passt nicht zu mir, sagte Lara.
Der König hob seinen Kopf und schaute sie an. Sie gefiel ihm so gut, dass er einwilligte. So nannte Lara sich nun Klara.
Das Blut an meinen Händen
Der Moment als wir uns berührten, ich spüre ihn mit jeder Faser meines Körpers. Ich strich mit meinen Fingern durch deine Haare, dann machte ich, zu meiner großen Überraschung, dein rechtes Ohr frei und beknabberte es mit meinem Mund. Mich durchzuckte es am ganzen Körper, du zittertest und ließt einen unkontrollierten Schrei von dir. Meine Leitungen von und zu meinem Herz waren offen, deine Leitungen von und zu deinem Herz waren offen. Alles strömte von dir zu mir und von mir zu dir.
Ich war tief beeindruckt. Gleichzeitig war ich tief erschrocken. Ich wankte durch meine starken Gefühle, die dieser Moment in mir geweckt hatte. Um mein Wanken, das sich bedrohlich anfühlte, kontrollieren zu können, redete ich mir ein, dass du genauso tief beeindruckt sein musst, wenn nicht sogar tiefer. Gleichzeitig redete ich mir ein, dass du genauso tief erschrocken sein musst wie ich, wenn nicht sogar tiefer. Dass du deshalb dein Herz verschließt, um zukünftige Momente zwischen uns beiden zu verhindern.
Ich selbst kam dabei ins seichte Wasser. Jegliche Tiefe des Moments ging verloren. Ich kontrollierte meine Gefühle, verschloss dabei aber, ohne es zu bemerken, mein Herz. Mein verschlossenes Herz wurde traurig und tat mir weh, doch um den Schmerz zu betäuben wurde ich zornig, ich glaubte, das Recht zu haben, auf dich zornig zu sein: DU hast dein Herz verschlossen, DU verhinderst das Fließen der Liebe zwischen uns.
In einem Moment des Jähzorns ging ich auf dich los und stach tief in dein Herz. Das Blut an meinen Händen, es war von dir. Ich habe es nicht selbst vergossen, ich war zu feige, zu verdrossen, ich brauchte dich dafür:
Der Moment als wir uns berührten, ich spüre in mit jeder Faser meines Körpers. Ich kann mir mein Leben nicht mehr vorstellen ohne diesen Moment. Ich fabulierte viele Worte, um diesen Moment festzuhalten, bis ich spürte, dass ich mich an die vielen Worte klammere, weil ich zu gierig und feige bin um loszulassen.
Das ist deine Geschichte, die ich niemals schreiben kann. Alles was ich weiß, weiß ich von dir. Gestern träumte ich, dass wir fliegen, durch den weiten Himmel. Ich glaube unsere Herzen waren offen.
Leidenskultur
Unsere Kultur leidet gerne, sagt Vorderbrandner, Leben muss Leiden sein, Leiden ist erträglicher als Selbsterkennen. Jean-Luc Godard war ein genialer Leidender, ein genialer Bewahrer unserer Kultur: