Franz Vorderbrandner

Vorderbrandner sagt, in seiner Familie gebe es keine Tradition der Vornamen mit V, wie man von seinem Vornamen Valentin und dem seiner Schwester Veronika ableiten könnte. (Die ihre Töchter Valerie und Viktoria genannt hat.) Eher gebe es eine Tradition der Vornamen mit F, sagt Vorderbrandner, denn mein Vater hieß Felix, und mein Onkel, sein Zwillingsbruder, hieß Franz.

Felix und Franz, Söhne des Ferdinand Vorderbrandner, waren ein ungleiches Zwillingspaar. Felix, der ruhige, introvertierte, hatte einen traurigen und nachdenklichen Blick. Er zog sich in seine Werkstatt zurück und fertigte Dinge aus Metall, denn das hatte er lernen dürfen: Tröge, Gitter, Zäune, Tische, Stühle, Regale, aber auch maßstabgetreue Nachbildungen von Fahrzeugen, Häusern und Kirchen, und Skulpturen wie einen Reiter auf seinem Pferd. Es gab fast nichts, was er nicht aus Metall erschuf, und er war ständig am Schaffen, sodass seine Frau Eleonore, meine Mutter, sagt Vorderbrandner, über das Schaffen ihres Mannes klagte: Bei uns ist alles aus Metall! Während der Klagen seiner Frau trug Felix seinen traurigen und nachdenklichen Blick, um anschließend wieder in die Werkstatt zu gehen und weiterzuschaffen.

Felix war der tragische Teil der Zwillingsbrüder. Franz hingegen, der Jüngere, der gut zwei Stunden später aus dem Mutterbauch gekommen war, war eine Ausgeburt an Fröhlichkeit. Kam er in eine Runde, heiterte er sie mit einem Witz auf. Fiel ihm kein Witz ein, ließ er wenigstens einen lustigen Spruch von sich. Manchmal ging so ein Spruch auch zu Lasten seines Bruders Felix, wenn Franz etwa sagte:
Schaut meinen tragischen Bruder Felix an, wie er traurig und nachdenklich dreinschaut. Obwohl er Felix, der Glückliche, heißt. Gäbe es mich nicht, wäre der Name Vorderbrandner ein einziges Jammertal!
Felix nahm die Aussagen seines Bruders schweigend zur Kenntnis und ging, was Franz irritierte. Aber er lächelte über seine Irritation hinweg. So wie er über alles hinweglächelte. Sein Leben schien ein einziges Lächeln zu sein.

Mir imponierte am meisten, sagt Vorderbrandner, dass Franz viel besser Fußballspielen konnte als mein Vater Felix. Das machte ihn für mich zum Star, zum Licht, und meinen Vater zum Verlierer, zum Schatten, der alleine in der dunklen Werkstatt werkt, während Franz sich von den anderen feiern lässt.

Plötzlich und unerwartet starb Felix, nicht mehr jung aber auch noch nicht alt. Das hat Franz tief getroffen. Das Hinweglächeln über alles fiel ihm fortan schwerer. Wenn Franz und ich uns begegneten, sagt Vorderbrandner, waren regelmäßig Tränen in seinen Augen. Franz! sagte ich und wollte ihn in meine Arme nehmen. Aber er ging weg und kam nach einer Weile lächelnd wieder.

Die letzten drei Jahre seines Lebens – Felix, mein Vater, war schon über zwanzig Jahre tot – hat Franz im Pflegeheim verbracht. Er schaffte es nicht mehr, hinwegzulächeln. Er saß da und schaute ins Leere. Als ich ihn einmal mit Marga, seiner Frau, besuchte, fragte sie ihn:
Erkennst du ihn, Franz, den Valentin, den Sohn vom Felix?
Natürlich! sagte Franz ungehalten: Natürlich!
Für einen Moment glaubte ich in seinem Blick etwas zu erkennen, das jenseits seiner Leere und seines Hinweglächelns war.

Vergangenen Sonntag, sagt Vorderbrander, ist Franz gestorben.

Morgens Pro, abends Mus, dazwischen Tes, Tan und Tis

Sein Morgen und sein Abend ist klar strukturiert, und im Prinzip auch der Tag dazwischen. Doch dazu später.

Sein Morgen beginnt mit einem Pro. Er schaut in den Spiegel und ist pro irgendetwas. Es ist egal wofür, nur pro etwas, das ist ihm wichtig, niemals kontra. Er macht eine Ausnahme: Pro sich selbst ist er nie, das verstößt gegen seine Ethik, gegen seine Religion, wenn er auch nicht explizit kontra sich selbst ist. Aber er sagt nie morgens zu seinem Spiegelbild: Heute bin ich pro mich selbst.

Seine Abende sind konkreter: Da gibt es immer Mus. Apfel- oder Pflaumenmus, aber auch Exotischeres wie Kartoffel- oder Erbsenmus, ja, es gibt sogar Fleischmus, was andere als Hackfleisch bezeichnen würden.

Nun zu seinem Tag zwischen Morgen und Abend, der mit Tes, Tan und Tis gefüllt ist, und zwar immer in dieser Reihenfolge. Tes bedeutet für ihn die Beschäftigung mit dem Termersetzungssystem, ein formales berechnungsmodell der Theoretischen Informatik, aber auch das Experimentieren mit Tetraethylsilon. Wenn noch Zeit bleibt, spielt er The Elder Scrolls.

Dann kommt Tan dran, wobei er sich dann mit der Winkelfunktion Tangens, manchmal aber auch mit dem ehemaligen kleinen Lehnsfürstentum desselben Namens beschäftigt.

Tis schließlich ist sein härtester Tagespunkt. Es handelt sich hierbei um das Trauma-Institut Süddeutschland. Dieser Beschäftigungspunkt bringt sein Weltbild gehörig ins Wanken, erfährt er doch hier unter anderem, dass sein großes Vorbild Martin Luther nur deshalb seine Thesen in die Welt setzte, weil er schwer traumatisiert war.

Eines Morgens meldet sich sein Therapeut von Tis bei ihm, als er gerade vom Spiegel kommt und begonen hat, sich mit Tes zu beschäftigen. Er ist noch längst nicht bereit für Tan, geschweige den für Tis. Der Anruf des Therapeuten bringt seine Ordnung in völlige Unordnung und ihn in eine schwere Krise. Sein Therapeut besteht aber darauf, dass es heute sinnvoll sei, sich zuerst mit Tis zu beschäftigen, sich vielleicht den ganzen Tag bis zum abendlichen Mus mit Tis zu beschäftigen, und es leuchtet ihm ein, dass es diese Möglichkeiten grundsätzlich gibt: Statt TesTanTis TisTesTan oder TisTanTes zu machen oder nur Tis zu machen, er kann das intellektuell begreifen, doch es ist ihm unvorstellbar, das auch zu tun, es überfordert ihm emotional derart, dass er den Vorschlag des Therapeuten aufs Vehementeste ablehnt, schwebt doch über all seinem Tun ProTesTanTisMus, und zwar genau in dieser linearen Reihenfolge.

Der Therapeut meint, diese zwanghafte Linearität sei eine Verdrängung der darunterliegenden Traumata, mit der nun Schluss sein müsse.

Bach und der Geist des Protestantismus

So lebten sie nach der protestantischen Ethik und erschufen den Geist des Kapitalismus, ohne es zu wissen.

War Bach der Komponist von protestantischem Gedudel, um den Kapitalismus zu befeuern? Ein Sklave des von Luther und Calvin ersonnenen Systems?

Nicht bei seiner Air aus der Suite in D-Dur Bachwerke-Verzeichnis 1068: Da wurde er sehnsuchtsvoll. Er suchte nach etwas, das er nicht in dieser Welt vermutete, da es nach Luther und Calvin nicht von dieser Welt sein konnte: Die Liebe, die in jedem von uns wohnt.

Alles ist ganz anders geworden

Alles ist ganz anders geworden, damals: Ich muss sechs Jahre alt gewesen sein, ja, ich glaube, ich ging schon zur Schule, alles war ohnehin schon anders geworden, als meine Mutter begann, ihre Tage im Bett zu verbringen, im abgedunkelten Schlafzimmer. Ich vernahm nur ein Ächzen und Klagen und Stöhnen, wenn mein Vater zu ihr ins Zimmer ging und dabei die Tür kurz öffnete. Wenn mein Vater wieder aus dem Zimmer kam, schüttelte er seinen Kopf und streichelte mir im Vorbeigehen kurz den meinigen. Starke Kopfschmerzen, war die Erklärung für die Bettlägrigkeit meiner Mutter: Migräneanfälle.

Eines Tages, meine Mutter lag wieder im Bett im abgedunkelten Zimmer, stritt meine sechs Jahre ältere Schwester mit meinem Vater, weil er sie zur Küchenarbeit einspannen wollte aber sie keine Lust dazu hatte. Sie rannte stattdessen ins Wohnzimmer und legte eine Schallplatte auf, ja, jetzt erinnere ich mich genau, wie sie die Platte aus der Hülle nahm und auf den Teller legte. Die Musik erklang, während mein Vater verärgert aus der Küche nach ihr rief.

Icn nutzte diese Unruhe, um unauffällig abzuhauen und ins Schlafzimmer zu meiner Mutter zu schleichen. Leise und vorsichtig öffnete die Tür. Alles war dunkel. Ich hörte meine Mutter atmen. Sie schlief wahrscheinlich. Jedenfalls hatte sie mich nicht bemerkt. Oder sie war so erschöpft, dass sie reglos liegen blieb, obwohl sie mich bemerkt hatte. Ich kniete mich hin und legte meinen Kopf zu ihr aufs Bett.

Durch die Wand hörte ich meinen Vater und meine Schwester schreien. Dann wurde die Musik ganz laut. Meine Schwester hatte sie wohl aus Trotz hochgedreht. Die Musik übertönte nun alles. Sie drang in mein Herz, das ohnehin schon heftig pochte, weil ich unerlaubt zu meiner kranken Mutter ans Bett geschlichen war. Meine Schwester hatte den Soundtrack zu meinen Gefühlen aufgelegt:

Ich kniete am Bett und beschloss, meine Mutter für immer zu lieben, sie noch mehr zu lieben als bisher. Sie zu retten aus ihrer Krankheit. Ich blickte durch die Dunkelheit auf sie und glaubte, sie zu besitzen, ihr so nahe zu sein wie nie zuvor. Vorsichtig berührte ich mit meiner Hand die ihre. Ja, es war wahrhaftig meine Mutter, die ich in der Hand hatte. Dann schlich ich so vorsichtig aus dem dunklen Zimmer, wie ich hineingeschlichen war. Ich hörte nur die Musik aus dem Wohnzimmer. Kein Laut von meinem Vater und meiner Schwester. Ich schlich weiter den Flur entlang ins Freie.

Es regnete. Aber es machte mir nichts. Ich fühlte mich stark, so stark, dass ich meine Mutter tragen konnte. Ich ging mit ihr auf den Schultern durch den Regen, immer weiter. Immer weiter.

DJ Sister