Alles ist ganz anders geworden, damals: Ich muss sechs Jahre alt gewesen sein, ja, ich glaube, ich ging schon zur Schule, alles war ohnehin schon anders geworden, als meine Mutter begann, ihre Tage im Bett zu verbringen, im abgedunkelten Schlafzimmer. Ich vernahm nur ein Ächzen und Klagen und Stöhnen, wenn mein Vater zu ihr ins Zimmer ging und dabei die Tür kurz öffnete. Wenn mein Vater wieder aus dem Zimmer kam, schüttelte er seinen Kopf und streichelte mir im Vorbeigehen kurz den meinigen. Starke Kopfschmerzen, war die Erklärung für die Bettlägrigkeit meiner Mutter: Migräneanfälle.
Eines Tages, meine Mutter lag wieder im Bett im abgedunkelten Zimmer, stritt meine sechs Jahre ältere Schwester mit meinem Vater, weil er sie zur Küchenarbeit einspannen wollte aber sie keine Lust dazu hatte. Sie rannte stattdessen ins Wohnzimmer und legte eine Schallplatte auf, ja, jetzt erinnere ich mich genau, wie sie die Platte aus der Hülle nahm und auf den Teller legte. Die Musik erklang, während mein Vater verärgert aus der Küche nach ihr rief.
Icn nutzte diese Unruhe, um unauffällig abzuhauen und zu meiner Mutter ins Schlafzimmer zu schleichen. Leise und vorsichtig öffnete ich die Tür. Alles war dunkel. Ich hörte meine Mutter atmen. Sie schlief wahrscheinlich. Jedenfalls hatte sie mich nicht bemerkt. Oder sie war so erschöpft, dass sie reglos liegen blieb, obwohl sie mich bemerkt hatte. Ich kniete mich hin und legte meinen Kopf zu ihr aufs Bett.
Durch die Wand hörte ich meinen Vater und meine Schwester schreien. Dann wurde die Musik ganz laut. Meine Schwester hatte sie wohl aus Trotz hochgedreht. Die Musik übertönte nun alles. Sie drang in mein Herz, das ohnehin schon heftig pochte, weil ich unerlaubt zu meiner kranken Mutter ans Bett geschlichen war. Meine Schwester hatte den Soundtrack zu meinen Gefühlen aufgelegt:
Ich kniete am Bett und beschloss, meine Mutter für immer zu lieben, sie noch mehr zu lieben als bisher. Sie zu retten aus ihrer Krankheit. Ich blickte durch die Dunkelheit auf sie und glaubte, sie zu besitzen, ihr so nahe zu sein wie nie zuvor. Vorsichtig berührte ich mit meiner Hand die ihre. Ja, es war wahrhaftig meine Mutter, die ich in der Hand hatte. Dann schlich ich so vorsichtig aus dem dunklen Zimmer, wie ich hineingeschlichen war. Ich hörte nur die Musik aus dem Wohnzimmer. Kein Laut von meinem Vater und meiner Schwester. Ich schlich weiter den Flur entlang ins Freie.
Es regnete. Aber es machte mir nichts. Ich fühlte mich stark, so stark, dass ich meine Mutter tragen konnte. Ich ging mit ihr auf den Schultern durch den Regen, immer weiter. Immer weiter.