Nachher zum Nachbarn

Ich wollte wie immer vorher zum Vorbarn und nachher zum Nachbarn gehen, als ich plötzlich auf die Idee kam, diesmal vorher zum Nach- und nachher zum Vorbarn zu gehen. „Unmöglich!“ sagte mir jemand, den ich auf der Straße traf: „Sie können nicht vorher zum Nach- und nachher zum Vorbarn gehen. Sie müssen vorher zum Vor- und nachher zum Nachbarn gehen!“ „Wieso?“ entgegnete ein anderer Jemand (Es war eine Jemande, das nur nebenbei.), die die Straße entlangkam: „Das Vor und Nach ist nicht zeitlich, sondern räumlich gemeint, der Vorbar wohnt vorne und der Nachbar wohnt…“ – „…hinten! Sehen Sie!“ entgegnete der eine Jemand (der tatsächlich ein Jemand war): „Der Nachbar heißt aber nicht Hintenbar, sondern Nachbar!“ Die Diskussion ging hitzig weiter, ich schlich unbemerkt davon, wollte aber nun keine Experimente mehr eingehen: Ich ging wie üblich vorher zum Vorbarn. Der Vorbar, dessen grammatisches Geschlecht männlich und dessen natürliches weiblich ist, grüßte mich euphorisch und meinte, sie hätte heute Lust zum Vögeln und fragte mich, ob ich auch Lust hätte, ich sagte spontan, dass ich auch Lust hätte, jedoch wandte ich ein – denn es ging mir zu schnell mit dem Vögeln – ob wir nicht vorher ein Vorspiel einbauen könnten, eine Massage etwa, die Vorbar hatte nichts dagegen, so machten wir uns bar und massierten uns, anfangs am Rücken, dann überall am Körper, es war sehr lustvoll, ich war der Vorbar dankbar für den Vorschlag zu vögeln, als sie plötzlich sagte: „Nimm mich von hinten!“ Ich dachte daraufhin wieder an die Diskussion auf der Straße zwischen den zwei Jemanden, ich kam ins Grübeln, ob man die Vorbar von hinten nehmen kann, tat es in meiner Lust dann trotzdem, bis ich plötzlich abbrach und sagte: „Ich muss dringend zum Nachbarn!“ „Wirklich?“ fragte die Vorbar. „Ja“, sagte ich, „beim Nachbarn mähe ich Rasen, und nachher zahlt er mich bar“, es erschien mir eigenartig, dass ich das Rasenmähen erwähnte und vor allem das Barzahlen in unserem baren Zustand, die Vorbar meinte nur: „Kommst du nachher wieder vorbei?“, eine locker in den Raum geschmissene Frage, die mich wieder ins Grübeln brachte: Ich dachte an die zwei Jemand auf der Straße, die es mir verbieten würden, nachher beim Vorbarn vorbeizukommen, zumindest einer davon, ich dachte daran, mich hintenrum zum Nachbarn zu schleichen, um diesem strengen Gericht zu entkommen, plötzlich hatte ich aber die viel kühnere Idee, den Vor- zum Nach- und den Nach- zum Vorbarn zu machen, um künftig nach dem Rasenmähen beim Vorbarn mit Barem zur Nachbarn zu kommen, um nicht nur ein Vorspiel vor dem Vögeln zu haben, sondern auch ein Nachspiel, etwa nach dem Vögeln gemütlich im Bett Essen zu bestellen und es mit dem Baren vom Vorbarn zu bezahlen.

Mit diesen Ideen im Kopf ging ich auf die Straße zum Nochnachbarn, um ihm zu eröffnen, ihn zum Vorbarn zu machen, und niemand, niemand würde mich davon abbringen, nicht mal die zwei Jemand.

Großgewordene Dörfer (München-Trudering)

München ist eine Stadt, sagt Vorderbrandner, kein großgewordenes Dorf. Planmäßig angelegte Prachtstraßen führen nach Westen (Brienner Straße), nach Norden (Ludwigstraße) und nach Osten (Maximilianstraße). Warum nach Süden keine Prachtstraße führt, ist mir ein städtebauliches Rätsel: München, die nördlichste Stadt Italiens, besitzt keine Prachtstraße nach Süden, nach Rom?

Dafür, und das muss der Vollständigkeit halber erwähnt werden, besitzt München eine zweite Prachtstraße nach Osten, die Prinzregentenstraße. Angelegt von keinem König, sondern von Prinzregent Luitpold als bürgerlicher Boulevard, wurde sie im Dritten Reich vom ungekrönten König Adolf mit riesigen, steinwüstenartigen Protzbauten versehen. Sie endet nicht wie ihre Schwestern monumental (Brienner Straße: Propyläen; Ludwigstraße: Siegestor; Maximilianstraße: Maximilianeum), sondern geht hinter dem Monument des Friedensengels weiter bis zum Stadtrand, über den Prinzregentenplatz und den Mittleren Ring bis zum Vogelweideplatz, an dem früher niemand hauste außer die Zigeuner, traditionell das randständigste Volk einer Gesellschaft, zugleich aber das Leben an sich wie kein anderes verkörpernd.

Am Vogelweideplatz

Am Vogelweideplatz, an dem man auch heute nicht verweilen, sondern sich beeilen will, geht die Prinzregentenstraße in die Autobahn 94 über, die dann in weiterer Folge die ländlichen Weiten des östlichen Oberbayerns durchpflügt. Doch rechts davon, auch vom Vogelweideplatz weg, zweigt die Truderinger Straße ab, und führt nach Trudering.

Trudering ist ein großgewordenes Dorf, das 1932 nach München eingemeindet wurde. Und trotzdem hört München am Vogelweideplatz noch immer auf. Von hier aus geht es aufs Land, und folgt man der Truderinger Straße, nach Trudering. Zunächst trifft die Truderinger Straße auf Bahngleise, an denen sie nördlich entlangführt. Auf der anderen Seite stehen Industriegebäude, und vor mir türmt sich der Turm des Süddeutschen Verlages.

Am Beginn der Truderinger Straße

Beim Turm angekommen, muss die Truderinger Straße einen Rechts-Links-Haken schlagen: Sie geht scharf nach rechts, um die Geleise der Bahnstrecke München – Rosenheim zu unterqueren. Diese stark frequentierte Bahnstrecke, bereits in den 1860er Jahren erbaut, zerschneidet den Münchener Osten, besonders Trudering, in Straße und Kirche, doch dazu später.

Die Geleise unterquert, kommt die Truderinger Straße nach Berg am Laim, einem ehemaligen Dorf östlich von München, eingemeindet 1913, ein Industriestandort der ersten Stunde, weil der Wind meist von Westen weht und die schlechten Gerüche so nicht in die Stadt, sondern ostwärts weitergetrieben wurden, nach Trudering. Apropos Trudering: Nun ist der linke Teil des Hakens dran, gleich nach der Gleisunterquerung, es geht nicht weiter nach Berg am Laim, sondern wieder zielstrebig nach Osten. Und gleich wird es ländlich. Rechts, hinter einer Eschen-Allee, taucht ein freies Feld auf, ein Relikt aus bäuerlicher Zeit, das dem Ausflug nach Trudering eine ländliche Note gibt.

Feld an der Truderinger Straße

Doch das Feld endet bald und weicht einer beidseitigen Bebauung: Hier ist München keine Stadt mehr, sondern großgewordenes Dorf, die Besiedlung und Bebauung franst sich in die Landschaft. Und so geht das kilometerweit weiter – kurz unterbrochen durch einen Schrebergarten, das Grün der Pflanzen, Sträucher und Bäume gibt Hoffnung, dass das Land bald erreicht wird – doch beim Schatzbogen, der Truderinger Straße und Geleise in einem weiten Betonbogen überquert, weicht diese Hoffnung wieder. Weiter zum Truderinger Bahnhof, wo Fernzüge vorbeirasen, S- und U-Bahnen halten.

Am Truderinger Bahnhof

Bald danach kommt so etwas wie Mini-Urbanität auf. Straßtrudering ist erreicht, wo die Truderinger Straße im Moment eine Baustelle ist, um schöner zu werden, um die Verweilqualität zu erhöhen, wie Ortsplaner gerne sagen.

Trudering at its Urbanest – Straßtrudering

Ich bin, ich kann es so sagen, im Zentrum Truderings. Doch eine Kirche, Merkmal jedes bayrischen Dorfes, auch eines großgewordenen, suche ich vergeblich – die steht jenseits der Geleise, in Kirchtrudering. Die Truderinger Straße schert sich nicht um Kirchtrudering, sie ist eine Straß und begnügt sich mit Straßtrudering, ja, sie geht, obwohl sie Straßtrudering erreicht hat, weiter, nach Osten, dann macht sie eine kleine Schleife nach Süden und mündet in die Wasserburger Landstraße, eine Hauptverkehrsachse aus dem und ins Zentrum Münchens. Das Schicksal einer Hauptverkehrsachse blieb der Truderinger Straße erspart, sie ist so etwas wie ein Schleichweg zwischen Autobahn 94 und Wasserburger Landstraße. Sie schleicht mit einer gewissen Nostalgie, nie groß- sondern immer nur zweispurig, durch Suburbania.

Am Ende der Truderinger Straße

Was nun, am Ende der Truderinger Straße? Soll ich mich die Wasserburger Landstraße hinauswälzen durch die großgewordenen Dörfer, bis ich irgendwann auf dem Land bin? Man kann von Glück reden, sagt Vorderbrandner, dass es die Demokratie nicht schon immer gibt. Sonst gäbe es keine Städte, sondern nur großgewordene Dörfer. Sonst würde alles so aussehen wie zwischen München und Trudering.

Münchner Prachtstraßen

Komm Isar Inn!

Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Sven Handrek

Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Flüsse sprechen können. Mehr noch, sie können die Sprache der Flüsse mit Hilfe modernster technischer Mittel sogar verstehen. Nun wurden folgende Gespräche zwischen Isar, Inn und Donau ins Deutsche übersetzt:

Die Donau ruft, bei Deggendorf, zur Isar:
Komm Isar!
Nein, ruft die Isar lapidar,
Fluss bin ich, nicht Kommissar.
Und dennoch kommt die Isar in die Donau,
als Fluss natürlich, nicht als Kommissar.

Weiter unten, bei Passau, sagt der Inn:
Ich glaub ich spinn, die Isar folgt der Donau,
sie ist ein Donaukommissar,
und ich, ich bin der große Inn.

Da ruft die Donau:
Komm wie die Isar, Inn!
Auch wenn ich, sogar mit Isar, kleiner als du bin,
will ich, dass ich als Donau weiterrinn.

Isarmündung
Innmündung

Die Sprache der Flüsse ist also männlich dominiert wie unsere Sprache. Sonst würde der Inn, der einzige männliche Fluss unter den hier besprochenen Inn, Isar und Donau, nicht von der Isar als Donaukommissar sprechen, sondern als DonaukommissarIn. Oder handelt es sich um einen Übersetzungsfehler ins Deutsche? Oder ist den Flüssen das Geschlecht nicht so wichtig wie uns Menschen?

Was zeigen uns diese Gespräche sonst noch? Wir wissen nun, wieso die Donau als Donau und nicht als Inn ab Passau durch Österreich fließt, wo sie, besonders in Wien, hoch verehrt wird:

Du Depp (Studie zur Vergangenheitsbewältigung)

Ich war wieder einmal mit einer Studie zur Vergangenheitsbewältigung beschäftigt, ich hatte, wie immer für diese Studien, meinen Schreibtisch verlassen und mich ins Bett gelegt, im leichten Dämmerschlaf kommen mir die größten Erkenntnisse bei meinen Studien zur Vergangenheitsbewältigung, ich sah meinen Vater in der Kirche sitzen, in einer der harten Bänke, knieend, und er sprach die Worte der Schuld:

Ich habe gesündigt, in Gedanken, Worten und Werken, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld,

er bemerkte mich nicht, so versunken war er in sein andächtiges Schuldgeständnis, dann stand er auf, er verließ die harte Bank, ich meine er schaute kurz zu mir, oder wünsche ich mir das nur, jedenfalls ging er dann, ohne zu mir zu kommen, den steinigen Gang entlang aus der Kirche, vermutlich ins Wirtshaus, aber das weiß ich nicht, er war einfach verschwunden, ich war nun alleine, nur Julia huschte noch kurz um die Ecke, ja, Julia, nicht Maria, Maria würde besser in die Kirche passen, aber es war Julia, wir hatten uns abgeschleckt, zuerst an den Zungen, dann am ganzen Körper, wir waren ins Schwitzen gekommen bei unserem Abschlecken, ich möchte gerne, dass wir uns wieder abschlecken, aber ich traue mich nicht mehr, ist es denn eine Sünde, wenn Julia und ich uns abschlecken? Julia verschwand hinter dem Pfeiler, dann sah ich sie nicht mehr, ich bildete mir ein, sie war im Beichtstuhl verschwunden und sprach dort die Worte der Schuld:

Ich habe gesündigt, in Gedanken, Worten und Werken, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld,

Julia, du meinst doch nicht das Abschlecken? Abschlecken ist doch keine Sünde! Ist Abschlecken Sünde? Bitte sag dass es keine Sünde ist! Julia! Mein Ruf hallte durch die Kirche, obwohl ich ihn nicht rief, nein, ich verstummte, ich war nun wirklich alleine in der Kirche, es war nun an der Zeit, selbst Worte der Schuld zu sprechen, furchtlos schritt ich zum Altar, stellte mich auf ihn und begann zu singen:

Ich schaue auf mein Leben, mit einem Gefühl der Scham, ich bin der Schuldige, alles was ich tun will, egal wann, wo, mit wem, es ist immer dasselbe: Es ist Sünde!

Die Kirche füllte sich mit Menschen, mit vielen Menschen, sie wurde übervoll, wie in Trance setzte ich meinen Gesang fort:

Der Jubel der vielen Menschen setzte ein, sie zündeten ein Feuer an, das Feuer umtoste mich, mir wurde heiß, sehr heiß, ich rannte durch das Feuer über den steinigen Weg nach draußen, in mir brannte das Feuer für Julia, nun, draußen angelangt, beschloss ich, die Sünde zu leben, je mehr Sünde desto besser, das Feuer beherrschte mich, ich bekam wahnsinnige Lust auf Julia, ich wollte ihre Haut spüren, sie abschlecken, ich wollte ihre Haare zerzausen, ihre Körperöffnungen erkunden, der Leib Juliä, Amen, ich rannte und rannte um nicht wahnsinnig zu werden, Julia, nur du kannst mich retten vor dem Strudel der Sünde, nimm mich auf in deinen warmen Schoß, lass mich an dir riechen, betöre mich, ich rannte und rannte und…  blieb erschöpft stehen, mitten im Wald war ich gelandet, die Ekstase von Sünde und Lust verflüchtigte sich, ich nahm einen Zweig vom Boden und schlug mich damit, ich verfluchte meinen Leib der mich zu den Sünden verführt, ich geißelte mich ob meiner lächerlichen Begierden, ich geißelte mich ob meines Menschseins, ich hasste mich, ich beschloss, fortan die Sünde hinter mir zu lassen. Du Depp du! waren meine Worte zu mir: Lass diesen Unsinn!

Da kam einer des Weges, irgendeiner, ich hatte ihn noch nie gesehen, doch er hatte mich durchschaut und lachte über mich, er hatte mich sagen hören: Du Depp du, er wusste auch von mir und Julia und machte sich lustig über meinen Kopf in ihrem Schoß, ich wurde wütend, ich werd’s dir zeigen, dachte ich mir, er aber ging einfach weiter, ich machte ein paar Schritte, bemerkte meine Erschöpfung und verfolgte ihn nicht weiter, rief ihm aber hinterher, was ich von ihm halte:

Er aber ging weiter und weiter ohne sich einmal umzudrehen, zähneknirschend ging ich daraufhin in die Stadt zurück, es kamen mir lauter Deppen entgegen, wirklich, lauter Deppen, ich hatte auch keine Lust mehr auf Julia, soll sie sich doch zum Teufel scheren, ich wusste nicht wohin, alles ist Sünde, meine Studie zur Vergangenheitsbewältigung schien erfolglos ihrem Ende entgegenzustraucheln, mitten in diesem Straucheln stieg ich aus dem Bett und trank ein Glas Wasser. Und dachte an Julia.