Kleine Philosophie des Lebens

Jeden Tag erwache ich und frage mich: Was ist das Leben? Dann lebe ich, den ganzen Tag, und vor lauter Leben vergesse ich die Frage, die ich mir am Morgen gestellt habe.

Abends gehe ich ins Bett und erinnere mich an die Frage die ich mir morgens gestellt habe: Was ist das Leben? Um eine Antwort zu finden, lasse ich den Tag Revue passieren und sage mir schließlich: Das ist es, das Leben. Und schlafe zufrieden ein.

Josef im Interview

Neulich bin ich in den Himmel aufgefahren und habe den heiligen Josef zu einem Interview getroffen.

Emil: Josef, die Menschen auf der Erde feiern wieder mal Weihnachten. Freust du dich darüber?
Josef: Ich weiß nicht recht. Ich bin etwas zwiegespalten.
Emil: Inwiefern?
Josef: Die Menschen feiern Jesus und Maria, und ich steh blöd daneben.
Emil: Wie war das damals, als Maria dir sagte, sie sei schwanger?
Josef: Sie druckste ganz schön rum. Klar, das Kind war ja nicht von mir, obwohl wir verlobt waren und heiraten wollten.
Emil: Von wem war denn das Kind?
Josef: Sie hat es mir nie gesagt. Ich vermute, sie hatte eine Affäre mit Hans dem Schreiner.
Emil: Was hat sie stattdessen gesagt?
Josef: Sie redete plötzlich davon, dass sie ein Kind von Gott empfange, und dass ihr, wie durch ein Wunder, ohne sexuelle Aktivität die Frucht in den Leib gelegt worden sei. Das fand ich komisch. Denn so schlimm finde ich sexuelle Aktivität nicht, dass man auf so ein Wunder hoffen müsste. Außerdem machte ich mir ernsthaft Sorgen um sie. Hatte sie solche Panik, dass ich sie verlasse, was sie dazu veranlasste, eine solch abstruse Geschichte zu erfinden? Oder geht mit Schwangeren generell die Phantasie durch?
Emil: Du bist aber dennoch bei ihr geblieben.
Josef: Ja. Da kam der Beschützerinstinkt in mir durch. Außerdem fand ich sie schon wahnsinnig toll. Sie hat sich ja auch trotz des Kindes für mich und gegen Hans den Schreiner entschieden. Außer beim Sex. Da blieb sie hartnäckig.
Emil: Wie? Sie hatte danach noch Sex mit Hans dem Schreiner?
Josef: Das weiß ich nicht. Jedenfalls nicht mit mir. Ich vermute, ihr damaliger PR-Manager, wie hieß der nochmal – Petrus, glaube ich – hatte großen Anteil daran. Also, ich weiß nicht ob sie mit dem auch was hatte, ist auch nicht wichtig, aber auf alle Fälle wollte der die Nummer mit dem Sohn Gottes groß rausbringen.
Emil: Du willst also sagen, Maria hat aus PR-technischen Gründen keinen Sex mit dir gehabt?
Josef: Als das Ding voll am Laufen war, also die Story mit dem Sohn Gottes und der Jungfräulichkeit, waren Maria und ich einmal sehr leidenschaftlich über uns hergefallen, als sie plötzlich von mir abrückte und sagte, sie dürfe keinen Sex mit mir haben, denn Petrus hätte gemeint, sie müsse als Jungfrau authentisch wirken. Wenn sie mit mir Sex hätte, würde man das merken. Da wurde ich wirklich zornig auf Petrus und wollte dafür sorgen, dass Maria aus dieser Nummer rauskommt. Sie aber meinte, ich solle bedenken, wieviel wir verdienen mit ihren Auftritten als Jungfrau Maria im Gegensatz zu meinem kärglichen Zimmermann-Lohn. Da habe ich klein beigegeben.
Emil: Und dein Sohn, ääh, ich meine Jesus, welche Rolle hat der dabei gespielt, als er auf die Welt gekommen war?
Josef: Bei seiner Geburt waren wir bei meinen Eltern im Bethlehem. Als bei Maria die Wehen einsetzten, verordnete Petrus, wir sollen in den alten Stall gehen, er habe dort bereits alles arrangiert. Der Stall war schön mit Kerzen und Fackeln ausgeleuchtet. Vier Reporter waren da: Lukas, Matthäus und… wie hießen die beiden anderen jetzt? Schließlich kamen auch noch drei maskierte Typen, als ob wir Fasching hätten, und haben sich als Heilige Drei Könige ausgegeben. Sie hatten Zeug dabei, das hat so gestunken, dass ich nach einer Weile unauffällig zum Holzhacken gegangen bin.
Emil: Wie ging es Jesus, als er so im Scheinwerferlicht heranwuchs?
Josef: Ich glaube, er hat es vom ersten Moment an genossen, im Mittelpunkt zu stehen. Er war ein Star, der Sohn Gottes, mehr geht nicht, und dazu seine Mutter, die ewige Jungfrau. Die Frauen kamen wegen ihm, die Männer wegen ihr. Später hat sich der Junge dann gewaltig inszeniert! Ein gigantisches Spektakel hat er abgezogen. Der Eselsritt zum Beispiel, ein Wahnsinn! Ich glaube, irgendwann hat er übertrieben und sich viele Feinde geschaffen. Einer der Jungs, die ständig an seiner Seite waren und mit ihm rumhingen, ich glaube es war Judas, ist dann von der Clique abgesprungen und hat den Römern gesagt, dass Jesus einen an der Klatsche habe.
Emil: Auffallend viele Frauen sind während der dramatischen letzten Stunden Jesus‘ gesehen worden.
Josef: Kein Wunder, er hat ja mit vielen was gehabt. Vor Verehrerinnen konnte er sich nicht retten. Richtig sexsüchtig war er, der Sohn der ewigen Jungfrau. (lacht)
Emil: Wie ging es Maria, als ihr Sohn gekreuzigt wurde?
Josef: Ich glaube, sie fühlte sich wie eine alte Jungfrau. (lacht wieder) Sie war traurig wie eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Sie wusste, mit Jesus war ihr kongenialer Gegenpart von ihr gegangen. Wer konnte schon ahnen, dass dieser PR-Coup des Petrus eine derart langandauernde Wirkung über den Tod Jesu hinaus haben würde.
Emil: Auch du wirst sehr verehrt von den Menschen. Es gibt viele Kirchen und Plätze auf der Erde, die deinen Namen tragen.
Josef: Ich habe keine Ahnung wieso. Ich finde, ich habe in dieser Geschichte ja schon die Arschkarte gezogen. Aber es ist halt wie es ist. – Wer hat das geschrieben? Sigmund Freud, euer neuer Gott?
Emil: Der Dichter Erich Fried hat geschrieben: Es ist was es ist, sagt die Liebe.
Josef: Auch gut. Ich geh jetzt holzhacken. Diese Tradition habe ich mir auch im Himmel beibehalten. Schöne Weihnachten!

Emil Hinterstoisser 2014 und 2015

Aufzug zur Tiefgarage

„Wir nehmen das Auto“, sagt Lene und geht zu einem kleinen Häuschen im Hof.
„Was ist das für ein Häuschen?“ frage ich sie.
„Das ist der Aufzug zur Tiefgarage.“
„Zur Tiefgarage fährt man doch hinab. Dann ist das also der Abzug zur Tiefgarage“, korrigiere ich sie und betrachte die Angelegenheit als erledigt.
„Nein“, sagt Lene, „ein Abzug ist etwas anderes“ und zitiert aus ihrem Smartphone: „Ein Abzug ist eine Absauganlage für gasförmige Substanzen, während ein Aufzug eine Anlage ist, mit der Personen oder Lasten in einer beweglichen Kabine zwischen zwei oder mehreren Ebenen transportiert werden können. Wie eben dieser Aufzug zur Tiefgarage.“

Ich bin verwirrt, denn wenn ich auf ebener Erde bin und zur Tiefgarage hinabfahre, kann ich dies doch unmöglich in einem Aufzug tun.
Lene sagt mir daraufhin, ich solle mir vorstellen, in der Tiefgarage zu stehen und mit dem Aufzug hinaufzufahren.
Ich sage, dass ich mir dies nicht vorstellen möchte, da ich ein Mensch bin, der sich bevorzugt auf ebener Erde aufhält und dass ich deshalb von der ebenen Erde meine Aktionen denken möchte. Jegliche andere Perspektive stört meinen inneren Seelenfrieden. Ich wiederhole, dass ich, um in die Tiefgarage hinabzufahren, dies unmöglich in einem Aufzug tun kann.

„Mir fällt etwas ein“, sagt Lene. „Wir nennen den Aufzug einfach Abzug. Dann können wir mit ihm zur Tiefgarage gelangen.“
Ich erwidere: „Bei der korrekten Benutzung des nun so genannten Abzugs riskieren wir, laut Definition, uns in gasförmige Substanzen zu verwandeln und abgesaugt zu werden, was ich mir ebenfalls nicht näher vorstellen möchte.“

Lene sieht mich an und geht plötzlich schnurstracks Richtung Straße.
„Was machst du?“ rufe ich ihr nach.
„Ich habe erkannt, dass es unmöglich ist, mit dem Aufzug in die Tiefgarage hinabzufahren und wenn wir dies mit dem Abzug tun, wir als gasförmige Wesen aus dem Leben gesaugt werden. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände habe ich beschlossen, dass wir zu Fuß gehen.“

Ich bin mit Lenes Vorschlag einverstanden, denn ich bewege mich, wie bereits erwähnt, bevorzugt auf ebener Erde. Mir fällt noch ein, ihr vorzuschlagen, die Treppe zur Tiefgarage zu benutzen, doch ich unterlasse diesen Vorschlag. Ich glaube, er würde in diesem Zusammenhang zu weit führen.

Bulut Bayernhaupt

Mitterbichler stand vor meiner Tür, mit einem lustigen Holzgestell auf Rädern. Was das sei? fragte ich ihn.
„Das ist ein Registrierwagen, von mir selbst gebaut“, sagte Mitterbichler.
„Ein Registrierwagen, von dir selbst gebaut? Und was willst du damit?“
„Ich will die Behörden unterstützen beim Registrieren der Flüchtlinge“, sagte Mitterbichler. „Komm mit mir zum Bahnhof!“

Ich sah Mitterbichler verständnislos an. Ich wollte ihm sagen, dass ich seine Idee absurd finde, mit diesem selbstgebauten Holzgestell auf Rädern zum Bahnhof zu fahren und Flüchtlinge zu registrieren. Doch ich sagte nichts, sondern kam mit ihm mit. Ich war zu neugierig auf das, was Mitterbichler vorhatte, um mich ihm zu widersetzen.

Am Bahnhof sauste Mitterbichler wie wild mit seinem fahrenden Holzgestell durch die ankommenden Flüchtlinge. Wie ein Schäferhund durch seine Schafherde. Ich war mit ihm auf dem Gestell und klammerte mich daran, um nicht herunterzufallen.
„Wer möchte sich registrieren?“ rief Mitterbichler in die Menge. „Hier ist es möglich.“
„Die verstehen doch kein Deutsch!“ rief ich dazwischen, während Mitterbichler eine Kurve machte und ich beinahe vom Holzgestell fiel.
„Anybody would like to register? Here it is possible!“ rief Mitterbichler nun, als ich endgültig vom Holzgestell gefallen war.
Mitterbichler hielt an, und ich sagte daraufhin zu ihm: „Ich gehe nachhause. Das macht keinen Sinn. Die Leute kommen nicht hierher, um sich registrieren zu lassen.“
„Es geht auch nicht um die Leute“, sagte Mitterbichler. „Es geht um die Behörden, denen wir Arbeit abnehmen.“
„Wieso willst du den Behörden Arbeit abnehmen?“
„Das ist eine Idee, die ich gut finde.“

Ehe ich erwidern konnte, sagte Mitterbichler zu einem Vorbeikommenden: „Hey du, willst du dich registrieren lassen?“
„Wieso denn registrieren?“
„Wieso denn nicht?“
Ich weiß nicht wieso, doch ich wurde neugierig. Das ist immer so mit Mitterbichler: Bin ich auf dem Absprung, passiert irgendetwas, dass ich an Bord bleibe.
Ich fragte nun den Vorbeikommenden: „Bist du ein Flüchtling?“
„Kann man so sagen.“
„Wie? – Kann man so sagen? Du sprichst perfekt deutsch. Du bist doch kein Flüchtling.“
„Doch. Ich bin dauernd auf der Flucht. Bin ich hier, flüchte ich nach dort. Bin ich dort, flüchte ich nach hier.“ Er hatte sich mittlerweile auf das Holzgestell gesetzt. Offensichtlich hatte er eine Verschnaufpause nötig, von seinem rastlosen Von-hier-nach-dort.
„Was ist hier, was ist dort?“
„Hier ist Bayern, dort ist die Türkei. Oder umgekehrt.“
„Wie heißt du überhaupt?“ fragte Mitterbichler, wohl an seinen selbstgestellten Registrierungsauftrag denkend. Zumindest schließe ich das aus der Vehemenz, mit der er diese Frage stellte.
„Bulut Bayernhaupt.“

„Bayernhaupt!“ meinte Mitterbichler mit einem Ausdruck des Entzückens. „Horst Seehofer würde gern Bayernhaupt heißen. Horst Bayernhaupt – HBH. Jedesmal, wenn er am Hofbräuhaus vorbeigeht, würde er seine Initialen sehen.“
„Bayernhaupt ok, aber wieso Bulut?“ funkte ich dazwischen.
„Scholl ok, aber wieso Mehmet?“ äffte Mitterbichler mich nach und übernahm wieder die Initiative: „Bulut, das klingt wie Bulle. Du bist doch kein Bulle?“
„Ach Schmarren“, meinte Bulut. „Bulut ist türkisch und heißt auf deutsch Wolke. Mein Vater sagt, ich bin in Bayern geboren, also soll ich seinen Nachnamen haben. Meine Mutter sagt, ich bin der Sohn einer Türkin, also soll ich einen türkischen Vornamen haben.“
„Das ist eine schöne Geschichte“, sagte ich. „Schön?? Gezeugt, getrennt. Meine Mutter ist in der Türkei, mein Vater in Bayern. Wenn ich bei meiner Mutter bin, will ich bei meinem Vater sein. Und umgekehrt. Und manchmal will ich überhaupt nirgends sein. Mich auflösen wie eine Wolke. Meine beschissenen Eltern!“
„Bulut, du sollst Frieden mit deinen Eltern schließen“, sagte ich.
„Lass ihn in Frieden!“ meinte Mitterbichler in wirschem Ton zu mir.
„Aber es ist doch nicht gut für ihn, sich dauernd in seiner Scheiße zu wälzen.“
„Dauernd? Du kennst ihn ein paar Minuten. Lass ihn. Vielleicht ist Scheiße etwas Gutes für ihn und er nennt es nur Scheiße.“
Ich fühlte mich in die Enge getrieben von Mitterbichler und drehte mich um zu Bulut. Doch er war nicht mehr da. Hatte sich während der Diskussion zwischen Mitterbichler und mir unbemerkt aus dem Staub gemacht. Sich aufgelöst wie eine Wolke, um ihn zu zitieren.

So saßen wir zu zu zweit auf dem Holzgestell, während die Leute an uns vorbeiströmten.
„Sollen wir nun endlich Flüchtlinge registrieren?“ sagte ich zu Mitterbichler; mehr hilflos als überzeugend.
„Nein. Einer reicht für den ersten Tag. Wir wollen uns nicht übernehmen“, sagte Mitterbichler in einem für ihn so typisch selbstüberzeugten Ton.
„Wieso einer? Bulut ist doch kein Flüchtling!“ versuchte ich mich Mitterbichlers Entschlossenheit zu widersetzen.
„Bulut ist ein Flüchtling. Er hat doch selbst gesagt: Ich bin dauernd auf der Flucht.“
„Ja, aber…“
„Bestimmst du, ob jemand Flüchtling ist oder der, der es von sich sagt?“
Mitterbichler stieg auf das Holzgestell und rauschte davon. Ich war so verwirrt, dass ich im Moment nichts anderes zu tun wusste, als ihm zu folgen.

Unwichtige Brustgeschichte

Ich habe von einer Geschichte gehört, die mir nicht wichtig scheint. Dennoch will ich sie erzählen:

Ein Mann, ich weiß nicht welchen Alters, wobei auch das nicht wichtig ist, hatte über eine virtuelle Partnervermittlung Kontakt zu einer Frau aufgenommen. Nach einer Weile virtuellen Chattens beschlossen die beiden, sich zu sehen. Ich stellte Erkundungen über den Mann an und erfuhr, dass er recht üppig beleibt ist. Ich habe nicht erfahren, ob dies seinem Lebenswandel geschuldet ist oder aus einer Veranlagung kommt. Außerdem ist dies für den weiteren Fortgang der Geschichte nicht von Bedeutung. Weiters erfuhr ich, dass der Mann promovierter Naturwissenschaftler ist. Ich fragte nicht nach in welchem Fach. Auch das erschien mir nicht wichtig. Der Mann, so sagte man mir, sei recht klug und gebildet, doch von anderer Seite wurde mir herangetragen, dass er sich dies, seine Klugheit und Bildung, lediglich einbilde. Die Frau, mit der er sich traf, ist von zierlicher Natur und ohne rechte Kurven. Ich weiß das aus verlässlicher Quelle, kann es jedoch selbst nicht bestätigen.

Als sie sich nun trafen, in einem Lokal zum Abendessen, herrschte zunächst große Stille am Tisch. Ob die Stille an den enttäuschten gegenseitigen Erwartungen lag, lässt sich nicht ermitteln. Nach einiger Zeit wollte der Mann die Stille beenden. Es ist anzunehmen, dass er sie beenden wollte, denn er sagte:

„Es ist doch erstaunlich, dass die Brüste menschlicher Frauen wesentlich größer sind als die verwandter weiblicher Primaten.“

Ohne darauf eine abschließende Antwort zu finden, lässt sich nun spekulieren, warum der Mann dies sagte. Ist die weibliche Brust Gegenstand seiner beruflichen Forschungen? Wollte er mit dieser Aussage seine Bildung unterstreichen? Wollte er mit dieser Aussage etwas über die Brüste der Frau sagen, die ihm gegenübersaß? Die Frau war, wie gesagt, von zierlicher Natur und hatte, für eine menschliche Frau, recht kleine Brüste. Als sie den Mann reden hörte, dachte sie daran, dass sie sich schon öfter größere Brüste gewünscht hatte. Neuerdings war sie jedoch zu der Überzeugung gekommen, mit der Größe beziehungsweise Kleinheit ihrer Brüste Frieden schließen zu wollen. Sie hatte deshalb beschlossen, einen Mann zu finden, der ihre kleinen Brüste begehrt.

Sie hätte diese Gedanken nun dem Mann mitteilen können. Hätte er sie verstanden? Es ist müßig darüber nachzudenken, denn sie teilte diese Gedanken dem Mann nicht mit. Stattdessen gab sie der Kränkung nach, die sie in sich spürte, und sagte zu dem wohlbeleibten Mann, der ihr gegenübersaß:

„Es ist ebenfalls erstaunlich, wie groß die Brüste menschlicher Männer manchmal sein können, größer als die ihrer weiblichen Artgenossen. Jedoch zeigen sich die Fettablagerungen bei diesen Männern meist nicht nur in der Brust, sondern am ganzen Körper.“

Ich getraue mich anzunehmen, dass die Frau diese Aussage nicht tätigte, um den Gegenstand ihrer gegenwärtigen beruflichen Forschung zu beschreiben. Über die berufliche Tätigkeit der Frau habe ich im übrigen keine Kenntnisse. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass sie mit dieser Aussage etwas über die Brüste des Mannes sagen wollte. Wobei auch dies nicht endgültig bewiesen werden kann.

Rein naturwissenschaftlich gesehen hätte es nun viele Themen gegeben, über die die beiden hätten sprechen können, zum Beispiel über die Anatomie des Menschen im allgemeinen und die seiner Brüste im besonderen. Doch praktisch gesehen herrschte große Stille an ihrem Tisch.

An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass mein Freund Vorderbrandner bis zum Zeitpunkt dieser Stille am Nachbartisch gesessen hatte und mir die Ereignisse bis hierher geschildert hatte. (Wobei er sich bei seinen Ausführungen immer wieder auf Kenntnisse von Mitterbichler berief, den ich jedoch nicht für sehr glaubwürdig erachte.) Vorderbrandner ist kein Freund der Stille, sodass er sich aufgrund dieser Stille erhob und das Lokal verließ. Im weiteren Verlauf war also niemand anwesend, der jetzt über den Fortgang dieser Stille berichten könnte. Es wird jedoch gemutmaßt, dass sich der Mann nach einiger Zeit still erhob und die Frau allein am Tisch zurückließ. Die Frau, so sagt man, verfiel daraufhin in großen Kummer ob ihrer kleinen Brüste. Ein Kummer, der mir unnötig erscheint, doch ich glaube, es ist nicht wichtig, ob er mir nötig oder unnötig erscheint, sodass ich diesen Kummer nun nicht weiter verfolgen möchte.

Ich hatte die Geschichte schon vergessen, als ich vor ein paar Tagen von Vorderbrandner aufgehalten wurde und er mich fragte, ob ich mich noch an die Geschichte mit dem Mann und der Frau im Lokal erinnern könne. „Ist das die Geschichte mit den Brüsten?“ fragte ich. Auch, sagte Vorderbrandner, aber das sei nicht wichtig. Wichtig sei zu erwähnen, dass der Mann und die Frau in der virtuellen Partnervermittlung, über die sie sich kennengelernt hatten, sich nach ihrem Treffen so schlecht bewertet hätten, dass sie wegen des daraus resultierenden schlechten Rankings noch immer keinen Partner gefunden hätten. Ich fragte ihn, woher er das wisse? „Berufsgeheimnis“, sagte er: „Ich arbeite neuerdings in der digitalen Welt.“

Ich versuche nun, diese Geschichte endgültig zu vergessen. Sie beruht auf Indizien und auf Aussagen Vorderbrandners, die nichts beweisen, und wenn ich es mir so überlege, wüsste ich gar nicht, was zu beweisen wäre. Ich habe keine Ahnung, warum ich diese Geschichte überhaupt erzählt habe. Vielleicht weil ich durch sie bemerkt habe, wie wichtig mir weibliche Brüste sind?