Alle Beiträge von EmilHinterstoisser

Morgens Pro, abends Mus, dazwischen Tes, Tan und Tis

Sein Morgen und sein Abend ist klar strukturiert, und im Prinzip auch der Tag dazwischen. Doch dazu später.

Sein Morgen beginnt mit einem Pro. Er schaut in den Spiegel und ist pro irgendetwas. Es ist egal wofür, nur pro etwas, das ist ihm wichtig, niemals kontra. Er macht eine Ausnahme: Pro sich selbst ist er nie, das verstößt gegen seine Ethik, gegen seine Religion, wenn er auch nicht explizit kontra sich selbst ist. Aber er sagt nie morgens zu seinem Spiegelbild: Heute bin ich pro mich selbst.

Seine Abende sind konkreter: Da gibt es immer Mus. Apfel- oder Pflaumenmus, aber auch Exotischeres wie Kartoffel- oder Erbsenmus, ja, es gibt sogar Fleischmus, was andere als Hackfleisch bezeichnen würden.

Nun zu seinem Tag zwischen Morgen und Abend, der mit Tes, Tan und Tis gefüllt ist, und zwar immer in dieser Reihenfolge. Tes bedeutet für ihn die Beschäftigung mit dem Termersetzungssystem, ein formales berechnungsmodell der Theoretischen Informatik, aber auch das Experimentieren mit Tetraethylsilon. Wenn noch Zeit bleibt, spielt er The Elder Scrolls.

Dann kommt Tan dran, wobei er sich dann mit der Winkelfunktion Tangens, manchmal aber auch mit dem ehemaligen kleinen Lehnsfürstentum desselben Namens beschäftigt.

Tis schließlich ist sein härtester Tagespunkt. Es handelt sich hierbei um das Trauma-Institut Süddeutschland. Dieser Beschäftigungspunkt bringt sein Weltbild gehörig ins Wanken, erfährt er doch hier unter anderem, dass sein großes Vorbild Martin Luther nur deshalb seine Thesen in die Welt setzte, weil er schwer traumatisiert war.

Eines Morgens meldet sich sein Therapeut von Tis bei ihm, als er gerade vom Spiegel kommt und begonen hat, sich mit Tes zu beschäftigen. Er ist noch längst nicht bereit für Tan, geschweige den für Tis. Der Anruf des Therapeuten bringt seine Ordnung in völlige Unordnung und ihn in eine schwere Krise. Sein Therapeut besteht aber darauf, dass es heute sinnvoll sei, sich zuerst mit Tis zu beschäftigen, sich vielleicht den ganzen Tag bis zum abendlichen Mus mit Tis zu beschäftigen, und es leuchtet ihm ein, dass es diese Möglichkeiten grundsätzlich gibt: Statt TesTanTis TisTesTan oder TisTanTes zu machen oder nur Tis zu machen, er kann das intellektuell begreifen, doch es ist ihm unvorstellbar, das auch zu tun, es überfordert ihm emotional derart, dass er den Vorschlag des Therapeuten aufs Vehementeste ablehnt, schwebt doch über all seinem Tun ProTesTanTisMus, und zwar genau in dieser linearen Reihenfolge.

Der Therapeut meint, diese zwanghafte Linearität sei eine Verdrängung der darunterliegenden Traumata, mit der nun Schluss sein müsse.

Bach und der Geist des Protestantismus

So lebten sie nach der protestantischen Ethik und erschufen den Geist des Kapitalismus, ohne es zu wissen.

War Bach der Komponist von protestantischem Gedudel, um den Kapitalismus zu befeuern? Ein Sklave des von Luther und Calvin ersonnenen Systems?

Nicht bei seiner Air aus der Suite in D-Dur Bachwerke-Verzeichnis 1068: Da wurde er sehnsuchtsvoll. Er suchte nach etwas, das er nicht in dieser Welt vermutete, da es nach Luther und Calvin nicht von dieser Welt sein konnte: Die Liebe, die in jedem von uns wohnt.

Alles ist ganz anders geworden

Alles ist ganz anders geworden, damals: Ich muss sechs Jahre alt gewesen sein, ja, ich glaube, ich ging schon zur Schule, alles war ohnehin schon anders geworden, als meine Mutter begann, ihre Tage im Bett zu verbringen, im abgedunkelten Schlafzimmer. Ich vernahm nur ein Ächzen und Klagen und Stöhnen, wenn mein Vater zu ihr ins Zimmer ging und dabei die Tür kurz öffnete. Wenn mein Vater wieder aus dem Zimmer kam, schüttelte er seinen Kopf und streichelte mir im Vorbeigehen kurz den meinigen. Starke Kopfschmerzen, war die Erklärung für die Bettlägrigkeit meiner Mutter: Migräneanfälle.

Eines Tages, meine Mutter lag wieder im Bett im abgedunkelten Zimmer, stritt meine sechs Jahre ältere Schwester mit meinem Vater, weil er sie zur Küchenarbeit einspannen wollte aber sie keine Lust dazu hatte. Sie rannte stattdessen ins Wohnzimmer und legte eine Schallplatte auf, ja, jetzt erinnere ich mich genau, wie sie die Platte aus der Hülle nahm und auf den Teller legte. Die Musik erklang, während mein Vater verärgert aus der Küche nach ihr rief.

Icn nutzte diese Unruhe, um unauffällig abzuhauen und ins Schlafzimmer zu meiner Mutter zu schleichen. Leise und vorsichtig öffnete die Tür. Alles war dunkel. Ich hörte meine Mutter atmen. Sie schlief wahrscheinlich. Jedenfalls hatte sie mich nicht bemerkt. Oder sie war so erschöpft, dass sie reglos liegen blieb, obwohl sie mich bemerkt hatte. Ich kniete mich hin und legte meinen Kopf zu ihr aufs Bett.

Durch die Wand hörte ich meinen Vater und meine Schwester schreien. Dann wurde die Musik ganz laut. Meine Schwester hatte sie wohl aus Trotz hochgedreht. Die Musik übertönte nun alles. Sie drang in mein Herz, das ohnehin schon heftig pochte, weil ich unerlaubt zu meiner kranken Mutter ans Bett geschlichen war. Meine Schwester hatte den Soundtrack zu meinen Gefühlen aufgelegt:

Ich kniete am Bett und beschloss, meine Mutter für immer zu lieben, sie noch mehr zu lieben als bisher. Sie zu retten aus ihrer Krankheit. Ich blickte durch die Dunkelheit auf sie und glaubte, sie zu besitzen, ihr so nahe zu sein wie nie zuvor. Vorsichtig berührte ich mit meiner Hand die ihre. Ja, es war wahrhaftig meine Mutter, die ich in der Hand hatte. Dann schlich ich so vorsichtig aus dem dunklen Zimmer, wie ich hineingeschlichen war. Ich hörte nur die Musik aus dem Wohnzimmer. Kein Laut von meinem Vater und meiner Schwester. Ich schlich weiter den Flur entlang ins Freie.

Es regnete. Aber es machte mir nichts. Ich fühlte mich stark, so stark, dass ich meine Mutter tragen konnte. Ich ging mit ihr auf den Schultern durch den Regen, immer weiter. Immer weiter.

DJ Sister

Über Fall und Überfall

In der Stadt, über die zu berichten ist, gibt es Fälle und Überfälle. Über die Fälle berichtet, und das ist kein Zufall, ein gewisser Faller, über die Überfälle ein gewisser Überfaller. Viele glauben zunächst, Faller sei eine Art Allgemeinberichterstatter und Überfaller eine Art Spezialberichterstatter. Es ist jedoch genau umgekehrt: In der Stadt gibt es nämlich kaum Fälle, aber viele Überfälle. Die Stadt ist auf sehr flachem Gelände erbaut und die Häuser sind in Bungalow-Bauweise errichtet, wodurch es kaum Möglichkeiten für Fälle gibt. Andererseits sind die Bewohner der Stadt sehr offen und so auch ihre Häuser, wodurch es viele Gelegenheiten zu Überfällen gibt, die auch genutzt werden. Überfaller ist also ein vielbeschäftigter Berichterstatter, während Faller nur in äußerst seltenen Fällen herangezogen werden muss. Die Stadtverwaltung hat schon oft versucht, die Bewohner zu mehr Verschlossenheit zu animieren und ihre Häuser in Abwesenheit zu verschließen, um Überfälle zu minimieren, aber vergeblich. die Bewohner sind sehr stolz auf ihre Offenheit und lassen deshalb konsequenterweise in Abwesenheit ihre Häuser offen. Die Stadt wird von manchen Offen genannt, aber bekannt ist sie unter dem Namen Überfall.

Überfall ist keine sehr große Stadt, aber trotzdem erstreckt sie sich weit in die Ebene, weil es nur ebenerdige Bungalows gibt. Überfall war die erste Besiedelung in der Ebene. Vor nicht allzuferner Zeit verließen viele Bewohner die Stadt, weil sie der vielen Überfälle überdrüssig waren. Sie gründeten eine neue Stadt am Rand der Ebene, auf steilem und felsigem Gelände, um gut vor Überfällen geschützt zu sein. Außerdem beschloss die Stadtverwaltung, dass Häuser auf Stelzen gebaut werden müssen, um noch schwieriger zugänglich zu sein, und in Abwesenheit immer verriegelt und verschlossen sein müssen. Viele Bewohner der Stelzenhäuser im steilen und felsigen Gelände ließen außerdem Panzerglas oder Gitter vor den Fenstern anbringen, um Überfälle nahezu unmöglich zu machen. Dieses Verschließen wirkte sich auf die Bewohner der neuen Stadt aus, die als sehr verschlossen gelten, sehr im Gegensatz zur Offenheit der Bewohner von Überfall. In der neuen Stadt mit ihren Stelzenhäusern auf steilem, felsigem Gelände gibt es also kaum Überfälle, aber viele Fälle. Entweder fallen die Bewohner im steilen und felsigen Gelände in die Tiefe, oder sie vergessen, dass sie in Stelzenhäusern wohnen und fallen beim aufwendigen Verschließen und Verlassen ihrer Häuser. Die neue Stadt wird Fall genannt.

In Fall gibt es viel über Fälle zu berichten, was auch dort ein gewisser Faller übernimmt, ein Verwandter des Fallers aus Überfall, der im Gegensatz zu seinem Kollegen aus Überfall aber vielbeschäftigt ist. Komplementär dazu ist ein gewisser Überfaller, der in Fall über Überfälle berichtet, chronisch unterbeschäftigt.

Über Überfaller, der in Fall über Überfälle berichtet, gibt es jedoch zu berichten, dass er vor kurzem aus Fall ausgewiesen und nach Überfall abgeschoben wurde. Der Bürgerrat von Fall hatte dies verlangt und durchgesetzt, nachdem behauptet worden war, Überfaller verursache durch seine Berichterstattung erst die Überfälle in Fall, ohne seine Berichterstattung wäre Fall komplett überfallfrei.

In Überfall nahm man die Abschiebung Überfallers aus Fall nur am Rande zur Kenntnis, kämpft man dort doch mit neuen bisher unbekannten Problemen: Man hat einige höhere Häuser zwischen die Bungalows gebaut, wodurch sich nun viel mehr Fälle in Überfall ereignen als bisher. Die Fälle ereignen sich hauptsächlich bei Überfällen, da die Überfaller es nicht gewohnt sind, dass sie in Überfall bei Überfällen fallen können. Faller, der in Überfall über Fälle berichtet, ist nun vielbeschäftigt, und Überfaller, nämlich der, der aus Fall abeschoben wurde, hat in Überfall ein neues Betätigungsfeld: Er berichtet über die Überfälle bei den Fällen.

Ein Tankwart namens Dankwart

Es überraschte mich, als mich an der Tankstelle ein Mensch fragte, ob er mein Auto betanken könne. Denn heutzutage trifft man selbst an Kassen immer seltener Menschen, die einen fragen, ob sie Geld kassieren können. Man kommuniziert und handelt mehr und mehr mit elektronischen Maschinen.

Es war also eine Begegnung mit Seltenheitswert, als mich der Mensch an der Tankstelle fragte, ob er mein Auto betanken könne. Ich bejahte, und während er den Stutzen in die Tanköffnung beförderte und der Diesel zu fließen begann, sagte ich zu ihm:

Sie sind also Tankwart?

Ja ich bin Tankwart wie Theodor und heiße Dankwart wie Dora.

Ich hatte es mit einem auskunftsfreudigen Tankwart zu tun, der mir, ohne gefragt zu werden, seinen Vornamen nannte. Seinen Vornamen, der natürlich originell war, denn als Tankwart Dankwart zu heißen – das ist etwas, was mich aufmerksam machte.

Dankwart, der Tankwart, bemerkte meine Aufmerksamkeit und referierte weiter:

Ich heiße Dankwart Dobler, obwohl mein Vater wollte, dass ich Dankwart Danninger heiße.

Wieso wollte ihr Vater, dass sie Dankwart Danninger heißen?

Er hätte mich dann nach meinen Initialen DaDa genannt. Mein Vater ist großer Anhänger des Dadaismus.

Und wieso heißen Sie dann nicht Dankwart Danninger?

Weil meine Mutter es nicht wollte. Meine Mutter, Dorothea Dobler, geborene Danninger, ist Traditionalist und kann mit dem Dadaismus meines Vaters nichts anfangen. Sie wollte, dass mein Vater, Dagobert Dobler, und sie heiraten, und sie – ganz klassisch – den Namen meines Vaters annimmt. Mein Vater stimmte einer Heirat – ganz undadaistisch – zu, wollte aber den Namen meiner Mutter annehmen, um Dagobert Danninger zu heißen und sich DaDa nennen zu können. Das war für meine Mutter aber außerhalb ihres Möglichkeitsraums. So gab mein Vater nach und meine Eltern heißen Dagobert und Dorothea Dobler.

Ich war verwirrt von DaDa, DaDo und DoDa. Als ich wieder klarer wurde, dachte ich mir, dass sich Dorothea Dobler DoDo nennen könnte. Aber wenn Dago Dobler seine Doro Dodo nennen würde, wäre das sicher eine große Belastung für ihre Ehe. Und außerdem: Wer will sich schon nach einem ausgestorbenen Vogel benennen oder benannt werden, dem seine Dummheit sein Leben kostete. Da wäre es schon besser, wenn Dagobert Dobler Dagobert Danninger hieße und sich DaDa nennen könnte.

Der Tank war längst gefüllt, als Dankwart Dobler, vaterlicherseits gewollter Danninger, der Tankwart, mich fragte:

Und wer sind Sie?

Ich? Ich heiße Emil. Emil Hinterstoisser.

Emil Hinterstoisser? Der berühmte Schriftsteller?

Ich? Berühmt?

Natürlich! Könnten Sie mir ein paar Zeilen aufschreiben?

Dankwart Dobler gab mir einen kleinen Zettel, auf den ich ganz schlicht schrieb:

ein Tankwart namens Dankwart
hat mein Auto betankt
und ich habe mich
bei Dankwart dem Tankwart
dafür bedankt

Ich war schon in den Wagen gestiegen, als mir Dankwart nachrief:
Mein Schwester hat einen Doppelnamen – sie heißt Dolores-Daisy Dobler. Vielleicht können Sie das nächste Mal ein paar Zeilen für sie schreiben!

Die Welt ist femininer geworden

Uteto Fritz, einst als Sprachenergetiker tätig und nun als ein der Sprache Abgewandter lebend, sagt: Die Welt ist femininer geworden, denn heutzutage labern Männer mindestens genau so viel wie das traditionellerweise Frauen tun.

Das Weibliche strebt tendenziell nach Fülle, während das Männliche tendenziell nach Leere strebt. Durch die Überbetonung des Verbalen in unserer Kultur suchen wir im vielen Labern nach Fülle. Männer, die viel labern, sind also feminine Männer, die im Labern nach Fülle suchen, referierte Uteto Fritz, ungewohnt gesprächig.

Ich habe mit Miriam viel gelabert, sagt Uteto Fritz, weil ich unsere Beziehung damit füllen wollte. Ich traute mich nicht mehr in die Leere, obwohl es mich zur Leere hinzog. Ich hatte Angst, durch die Leere Miriam zu verlieren. Ich glaubte, durch das Labern die Liebe wecken zu können. Doch nach dem Labern hatte ich das Gefühl, dass ich einen Haufen Unsinn von mir gegeben hatte und überhaupt nicht bei mir selbst geblieben war. Ich warf mir jedesmal vor, dass ich Miriam bei meinem Gelaber kaum in die Augen geschaut habe. Dabei sagen Augen viel mehr als Münder.

Ich besann mich meiner Männlichkeit und ging tief in den Wald, um die Leere zu suchen. Die Schritte fielen mir anfangs schwer, denn jeder Schritt tiefer in den Wald kam mir vor wie ein Schritt weg von Miriam. Miriam ist sicher in der Stadt und vergnügt sich in der Fülle, dachte ich mir, während ich in der Leere herumirre. Ich ging auf verschlungenen Pfaden die Anhöhe hoch, von wo ich auf den See blickte, dessen Wasser in der Sonne glänzte. Tief entleert fuhr ich in die Stadt zurück, beseelt vom Gedanken, wieder nahe bei Miriam zu sein. Doch der Abend war ein leerer, als wäre ich im Wald geblieben.

Am nächsten Tag trafen wir uns, und Miriam erzählte aufgeregt, dass sie gestern am See gewesen war, am See, dessen Ufer von hügeligen Wäldern umrahmt sind und dessen Oberfläche in der Sonne glänzte. Ihre Augen glänzten, während sie das sagte. Ich wollte meinen Mund halten, konnte es aber nicht und fragte:
An welchem See warst du? Am Zeller See?
Ja, so heißt er: Zeller See. Genau. Woher weißt du das?
Ich war auch dort. Ich war auf der Anhöhe über den hügeligen Wäldern und sah auf das Wasser, das in der Sonne glänzte.
Miriam öffnete leicht ihren Mund, als wollte sie etwas sagen, aber sie konnte ihn halten. Wir sahen uns in die Augen, und ich glaube, wir haben uns noch nie so viel gesagt wie in diesem Moment. Ich dachte daran, dass ich oben auf der Anhöhe glaubte, weit weg zu sein von Miriam. Dabei war sie ganz nahe unten am See gewesen. Ich spürte Tränen in meinen Augen.

Unsere Augenblicke verlangten nach Nähe. Doch dann sagte Miriam etwas Belangloses, dass ich schon wieder vergessen habe. Ich merkte, wie wir in leeres Gelaber verfielen. War uns die Nähe der Augenblicke zu tief, sodass wir ins Seichte flüchten mussten? Ich ging und wollte zurück in den Wald, obwohl jeder Schritt schwer fiel nach der Fülle, die ich gerade erlebt hatte.