Schweigeminuten

Der Regen an diesem Morgen hat ihr Drehbuch geschrieben. Er und sie stehen am Bahnsteig der U-Bahn. Er versucht zu reden. Ganz deutlich höre ich Worte, die seine Lippen passieren. Doch es bleibt bei den Versuchen, denn seine Worte kommen nicht an. Wie hilflose Versuche einer Kontaktaufnahme entfliehen sie in die Weite des Seins.

Sie sagt ja.
Ja.
Nach ein paar Worten von ihm sagt sie wieder: Ja…
Ja.
Ihre Augen sind groß und fragend hinter der dicken Brille, so als bitte sie ihn inständig: Hör bitte zu reden auf! Deine Worte sind bedeutungslos. Sie bedeuten nichts. Nichts, nichts.

Die U-Bahn kommt, und ich habe das Glück, im Waggon direkt neben ihnen zum Stehen zu kommen. Sie reden nichts. Doch jetzt erzählen sie sich große, bedeutungsvolle Geschichten:

Seine Augen so traurig, voller Enttäuschung. Ihre Augen groß und fragend hinter der dicken Brille. Die Sehnsüchte im Raum unendlich. Ich und die vielen anderen im Waggon lauschen ihnen andächtig und gespannt.

Seine Augen sagen: Lass uns über weite grüne Fluren tanzen, wo die Sonne scheint und wir glücklich sind!
Ihre Augen sagen: Weite grüne Fluren? Du glaubst doch wohl nicht an weite grüne Fluren?
Seine Augen sagen: Ja, du hast recht. Ich glaube nicht an weite grüne Fluren. Ich bin ein Mann des Regens, obwohl ich solche Sehnsucht nach der Sonne habe.
Ihre Augen sagen: Ich habe mir so sehr gewünscht, dass du mir jetzt sagst, dass du an sie glaubst, an die weiten grünen Fluren, über die wir tanzen. Aber wieder sagst du mir, dass du nicht an sie glaubst, an die weiten grünen Fluren.

Die Sehnsüchte bleiben hängen, tragisch, unerfüllt. Ich würde ihm gerne eine Regieanweisung geben: Nimm ihr die Brille ab, und dann schaue ihr ganz tief in die Augen, bis sie sie sieht, die weiten grünen Fluren in dir!

Aber ich bin nicht zuständig für das Drehbuch ihres Lebens.

Der Applaus für das Drama bleibt aus an der nächsten Haltestelle. Es ist nicht zum Lachen. Und doch hat sich das Leben ruhig verraten, in diesen Schweigeminuten.