Ksaver Tsints

Xenia Zechner war erstaunlicherweise nicht die Letzte, die aufgerufen wurde, denn nach ihr kam Xaver Zinz. Sie war das letzte Mädchen, aber nicht die letzte Person. Die war immer Xaver Zinz, da half es ihm auch nichts, wenn er sagte: Beim Vornamen aufgerufen wäre ich nicht der Letzte, denn da kommt Xaver vor Xenia, denn der Lehrer blieb stur und rief immer nach Nachnamen auf, und zwar bei A beginnend und bei Z endend, bei Zinz eben. Rief der Lehrer Zinz, kam ein leises, verächtliches Brummen aus der hintersten Ecke des Klassenzimmers, wo Xaver in jedem Jahrgang, meist alleine, saß, und so seinen Ruf zementierte, der Letzte zu sein.

Xenia Zechner arbeitete gegen das Stigma, die Letzte zu sein, an: Sie saß immer ganz vorne, hob ständig die Hand, wenn es die Hand zu heben galt, um eine gestellte Frage des Lehrers zu beantworten. Außerdem heiratete sie später einen Klassenkameraden, der immer als Erster aufgerufen wurde, Armin Achleitner nämlich, und sie versäumte es nicht, im Zuge ihrer Heirat ihren Namen von Zechner zu Achleitner zu ändern. Für Xaver Zinz wäre es nun naheliegend gewesen, sich Andrea Artl anzunähern. Die saß meistens in der Mitte der Klasse, wurde aber nach Armin Achleitner als Zweite aufgerufen. Beim Vornamen wäre sie sogar als Erste aufgerufen worden, aber dies blieb nur eine phantastische Vorstellung, denn es wurde ja immer beim Nachnamen aufgerufen. Außerdem schien es Andrea Artl egal zu sein, ob sie als Erste, Zweite, Mittlere oder Letzte aufgerufen wurde. Sie ließ sich nicht anstecken vom Aufrufirrsinn des Lehrers, der im Lauf der Jahre eine wahre Obsession im Aufrufen entwickelte. Nein, Andrea Artl war die Gleichmut in Person, wordurch sie sich auch nicht für Xaver Zinz interessierte, in der Schule sowieso nicht und später im heiratsfähigen Alter auch nicht. Daher blieb auch eine Person namens Xaver Artl eine Phantasiegestalt. Außerdem interessierte sich Xaver Zinz überhaupt nicht für Andrea Artl. Er saß stattdessen in seiner hintersten Ecke und brütete darüber, wie er seinen Namen verändern könnte, um vom Lehrer nicht mehr als Letzter aufgerufen zu werden. Er schichtete Buchstaben hin und her, und so wie beim Lehrer das Aufrufen, wurden bei ihm Buchstaben eine Obsession.

In der letzten Klasse, vor dem Übertritt in Gesamtschule oder Gymnasium, hatte er dann endlich die zündende Idee, durch die er beim Aufrufen in vordere Ränge katapultiert werden würde. Ohne aufgerufen zu werden, erhob er sich aus seiner hintersten Ecke und trug mit laut fordernder Stimme vor: Die Buchstaben X und Z sollen aus dem Alphabet gestrichen und durch die Buchstabenfolgen KS und TS ersetzt werden! Sein Vorschlag ließ Andrea Artl in Gleichmut erstarren, in der restlichen Klasse jedoch Unruhe aufkommen: Als Ksaver Tsints würde er zwar immer noch nach Ksenia Tsechner aufgerufen, doch Valentin Vorderbrandner und Veronika Wagner würden nach ihm aufgerufen werden. Jeder redete und debattierte kreuz und quer, bis Armin Achleitner die Stimme über alle erhob und meinte, es sei doch lächerlich, so einen Aufwand zu betreiben, um sich im Alphabet lediglich von Z nach T vorzuarbeiten. Xenia Zechner pflichtete ihm bei. Der Lehrer, bisher ungewohnt ruhig geblieben, pflichtete Armin Achleitner ebenfalls bei und rief nun zur Ruhe auf, woraufhin Ksaver, der kurz überlegte einzuwenden, dass er sich als Ksaver im Alphabet von X nach K verbessern würde, aber sogleich die Sinnlosigkeit dieses Einwands erkannte, seine Idee fallen ließ und sich als Xaver schmollend in seine Ecke setzte.

Xaver Zinz, der, wie wir bereits wissen, nicht Andrea Artl heiratete, arbeitet heute in einer Bibliothek. Dort sitzt er meist in einer hinteren Ecke und arbeitet an seinem Werk zur Reform des Alphabets, das nicht nur die fundiert erläuterte Forderung enthält, die Buchstaben X und Z zu streichen und durch die Buchstabenfolgen KS und TS zu ersetzen, sondern auch, die Vokale zu erweitern, um die Lautvielfalt, gerade im süddeutschen Raum, schriftlich akkurater erfassen zu können.

Im herben Herbst oben das Obst

Heute Morgen, als ich aufwachte, war ich glücklich: denn es fiel mir eine Geschichte ein. Wobei: Die Geschichte fiel mir nicht ein, sondern sie kam zu mir, nicht als Geschichte, sondern als Wahrheit: denn es ist immer die Wahrheit, die zu mir kommt, die, besser gesagt, schon bei mir gewesen ist, ohne dass ich es wusste, sodass ich glaube, sie sei gerade zu mir gekommen. So gesehen könnte ich sagen: Die Wahrheit fiel mir in meine Welt ein.

Als kleiner Junge fiel ich vom alten Obstbaum auf den Boden. Meine Schwester, die sechs Jahre älter ist als ich, war vor mir auf den alten Obstbaum geklettert, um Obst zu ernten, es muss also Herbst gewesen sein, ja, ich erinnere mich, es war ein klarer sonniger Oktobertag, an dem das reife rotgelbe Obst am alten Obstbaum in der Sonne glänzte, es lag etwas Herbes in der Luft, die Herbe des Herbsts, und oben, wohin meine Schwester kletterte, oben war das Obst am alten Obstbaum, jetzt, wo ich das schreibe, wird die Erinnerung ganz konkret: Ich sehe mich unten stehen am furchigen Stamm des alten Obstbaums, während meine Schwester nach oben klettert. In der herben Luft des Herbstes blicke ich nach oben zum Obst und zu meiner Schwester, ich möchte auch in diese herbe Welt da oben, aber wie komme ich in diese Welt des Obstes auf dem alten Baum? Hochzuklettern wie meine Schwester traue ich mir nicht zu. Also rufe ich zu ihr nach oben:

Ich herbe, du herbst. Ich obe, du obst.

Ich habe die Verben herben und oben in meine Welt gebracht. Ich wollte mich verbal in den Herbst herben, mich zum Obst oben. Dazu musste ich nach oben. War es das, was ich sagen wollte: Ich muss dringend nach oben zum Obst, um tiefer in den herben Duft des Herbstes einzutauchen? Unterstrich meine Verbalisierung – Substantive und Adjektive völlig außer Acht lassend – wie dringend es war? Jedenfalls rieche ich jetzt ganz deutlich: Der herbe Duft des Herbstes vermischt sich mit dem Duft des rotgelben reifen Obstes am alten Obstbaum, wie es oben an den Zweigen vor dem hellblauen Oktoberhimmel hängt. Der Duft betört mich. Ich muss nach oben! Dringend! Meine Schwester scheint diese Dringlichkeit zu spüren, ruft sie doch vom Baum herab: Ja, kleiner Bruder, im Herbst gibt es Obst. Komm auch nach oben und pflücke mit mir!

Daraufhin greift meine Motorik von der Zunge auf meinen ganzen Körper über: Ich obe mich nach oben, meine kleinen Hände und Füße krallen sich an den furchigen Stamm des alten Obstbaums, und als ich den ersten Ast erreiche, herbt der Herbst, steigt mir der herbe Duft der Obstbaumrinde in die Nase. Dieser Duft, der mir jetzt, beim Anblick der geschriebenen Wörter, intensiv in die Nase steigt, lässt mich vor Glück in die Leere sinken, ich fliege vom Ast und lande im weichen Gras, meine Schwester über mir oben, und hinter ihr der hellblaue Oktoberhimmel.