Girls on Film

Meinen ersten Film, sagt Vorderbrandner, drehte ich in Pfaffenhofen an der Ilm: Ich war mit meiner Mutter und meiner Schwester zu Besuch bei weitläufig Verwandten, und als wir am Flüsschen Ilm entlangspazierten, filmte ich die beiden mit meiner damals hochmodernen Videokamera, die ich gerade geschenkt bekommen hatte. Zuhause erledigte ich den Schnitt. Als Soundtrack wählte ich Girls on Film von Duran Duran und nannte den Film Girls on Ilm. Ich weiß noch, dass ich mächtig stolz auf mein Werk war. Der Film ging aber in den Wirren meines Lebens verloren und gilt, um es bedeutungsschwanger auszudrücken, als verschollen.

Später nahm ich die Idee wieder auf, sagt Vorderbrandner. Ich fuhr mit zwei Freudinnen nach Ulm, um die beiden in den Straßen Ulms zu filmen. Ich kam mir vor wie Raoul Coutard bei den Dreharbeiten zu À Bout De Souffle, nur eben nicht in den Straßen Paris, sondern Ulms. Die Dreharbeiten mit uns drei gestalteten sich schwierig, denn erstens war Jean-Luc Godard nicht anwesend der Regie hätte führen können und zweitens hatte ich zwei statt einer Hauptdarstellerin, sodass es mir nicht möglich war, das von mir gewünschte Bildmaterial zu filmen und der Film bis heute ein Torso blieb. Einzig der Titel ist klar: Der Film sollte Girls in Ulm heißen, wieder zur Musik von Duran Duran.

Vor einiger Zeit, sagt Vorderbrandner, machte ich erste Schritte zu einem dritten Anlauf, und zwar als meine Schwester mit Lebensgefährte und den beiden Töchtern in die Gilmstraße gezogen war. Ich filmte die beiden Mädchen, um ihr Leben in ihrer neuen Umgebung in der Gilmstraße zu dokumentieren, doch bis auf diese Probeaufnahmen habe ich bisher nichts weiter gedreht, so Vorderbrandner weiter. Einzig Titel und Soundtrack stehen schon wieder fest: Girls in Gilm zur Musik von Duran Duran.

Zusammenfassend ist festzustellen, so Vorderbrandner sehr förmlich, dass ich für keines der drei Filmprojekte herzeigbares Bildmaterial präsentieren kann. Einzig der Soundtrack von Duran Duran existiert:

 

Mittlerweile, so Vorderbrandner weiter, habe ich das Projekt Girls on Film, sei es nun an der Ilm, in Ulm oder in der Gilm, ganz aufgegeben. Es ist für mich eine stereotype Schwärmerei, die nichts mit der sozialen Realität zu tun hat, eine Art Girls Filmed by a Boy as He Likes to See Them. Ich bin mit diesem Filmprojekt auf einen langen Holzweg geraten, den ich nun verlassen will.

Inselmoment

Der Film Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent von François Truffaut ist viel zu dramatisch. Er gilt als einer von Truffauts schlechtesten, wenn nicht sogar als sein schlechtester Film. Unerreichbare Liebe in unerträglicher Traurigkeit wird geboten. Immer wieder ertappe ich mich dabei, Teile des Films anzuschauen, vor allem jene, die mit Musik von Georges Delerue unterlegt sind, mit schwülstiger Musik, die noch tiefer in das Drama der Bilder führt.

Warum zieht mich dieser Film so in seinen Bann?

Als ich zwei Jahre alt war, war mein Leben auch viel zu dramatisch. Ich nenne ihn den Inselmoment meines Lebens, als man mich – medizinisch begründet – zwei Wochen lang von der Außenwelt isolierte. Zu schwer sei die Infektion meiner Verdauungswege, nur so könne man vermeiden, dass sich andere infizieren.

Da lag ich zweijähriger, die Eltern winkten ab und zu durch eine Scheibe, ich glaube mehr die Mutter, der Vater hat die Situation wohl nicht ertragen und ist zuhause geblieben, ich erwartete den Tod, denn ich glaube nicht, dass das, was ich erlebte, mir wie Leben erschien.

Den Inselmoment in Truffauts dramatischem Film mag ich am liebsten: Anne und Claude wohnen auf einer kleinen Insel in einem See, auf der Insel La Motte im Lac d’Illay, und lieben sich. Das Alleinsein des Mannes hat ein Ende, die Frau steht ihm nahe. Ich spüre die Wärme Annes, die Wärme ihrer Weiblichkeit, die den Moment durchflutet.

Ich weine jedes Mal, wenn ich die Bilder dieses Moments sehe, musikalisch unterlegt mit dem Stück Une Petite Île von Delerue. Ich habe panische Angst, dass dieses Glück zu Ende geht. Dass Anne Claude verlassen wird, dass sie ihn alleine zurücklässt auf der Insel. Und sie verlässt ihn ja auch später im Film, so wie meine Mutter nicht zu mir kam, sondern von der Scheibe entschwand und mich allein zurückließ, allein mit der Musk die sie mir vorspielten.

Die Musik ließen sie mir als einzigen Strohhalm zum Leben, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie mir Delerues Une Petite Île vorspielten.

Epilog
Als mein Inselmoment von zwei Wochen Dauer vorbei war und ich nachhause kam, verweigerte ich jeden Kontakt mit meinen Eltern. Ich hatte überlebt, aber meine Liebe war gebrochen. Meine Angst war zu groß, wieder verlassen zu werden. Ich war ein Meister geworden im Erschaffen von Inselmomenten.

Geh vorsichtig!

Vorsicht ist beim Vorwärtsbewegen eine Voraussetzung für sicheres Vorankommen. So wie Rücksicht beim Rückwärtsbewegen. Ich erwähne das nicht nur, weil wir Menschen die Augen vorne am Kopf tragen und die Vorsicht unsere natürliche Sicht ist, sondern weil ich jemanden, obwohl er ein Mensch ist, zur Vorsicht ermahnen musste.

Ein dynamisches Szenario im Straßenverkehr, viel zu komplex eigentlich, um es in starre Worte zu fassen. Eine städtische Kreuzung, an jeder Ecke von Häusern gesäumt, ständig von Menschen zu Fuß, auf dem Fahrrad, auf dem E-Roller oder im Auto durchquert. Ich komme von Norden mit dem Fahrrad, um nach rechts, nach Westen, abzubiegen, ein relativ unkritisches Manöver. Ich durchquere die Kreuzung nicht, ich überquere nicht einmal die Straße, ich schleiche nur am nordwestlichen Rand entlang. Eine kurze Rücksicht, um wegen eventuell straßenquerender Fußgänger anzuhalten, eine kurze Seitsicht nach links, um nicht mit Nichtachtenden von links zu kollidieren, und bei dieser Seitsicht das unerwartete Szenario vor mir: Ein rücksichtiger Fußgänger überquert vorwärtsgehend die Straße von Süd nach Nord, er läuft mir direkt ins Fahrrad ohne es zu sehen, weil er rückwärts schaut. Er schaut zu einem stehenden Auto, das auf der anderen Straßenseite in zweiter Reihe steht, an dessen Steuer eine Person sitzt. Von diesem Auto geht er gerade weg und ruft der Person am Steuer zu: Fahr vorsichtig!, währenddessen er mir rücksichtig ins Fahrrad läuft. Ich bremse und rufe ihm sponan zu: Geh vorsichtig!, woraufhin er den Kopf dreht und vorsichtig – nicht geht, sondern steht.

Was lernen wir daraus: Rate Niemandem, vorsichtig zu sein, wenn du selbst rücksichtig bist. Mann könnte ergänzen, dass man bei Rücksicht Vorsicht walten lassen sollte, denn von uns Menschen wird aufgrund unserer Anatomie der vorwärtsgerichteten Augen erwartet, dass wir uns vorsichtig und nicht rücksichtig bewegen.

Königin Lara

Es lebte einst eine junge Frau in einer Hütte am Waldrand. Als der König mit seiner Jagdgesellschaft an ihrer Hütte vorbeiritt, gefiel sie ihm sehr. Er hielt an und fragte sie: Willst du meine Frau werden?
Ich weiß nicht, antwortete die junge Frau.
Eine Unverschämtheit, diese Antwort! rief der König und ließ in das Horn blasen, um mit seiner Gesellschaft weiterzureiten.

Als er das nächste Mal an der Hütte vorbeiritt, wollte der König nicht anhalten, doch die junge Frau gefiel ihm wieder so gut, dass er nicht anders konnte als anzuhalten.
Nun, sagte der König vorsichtig, hast du über meine Frage nachgedacht?
Über welche Frage? fragte die junge Frau.
Dem König fuhr es kalt über den Rücken ob dieser Missachtung seiner Würde, und nach einer Pause sagte er:
Ob du meine Frau werden willst!
Ach so, sagte die junge Frau, das meinst du. Ich weiß nicht recht – mir gefällt es sehr gut hier in meiner Hütte.
Da schaute der König entgeistert nach vor, spannte seine Zügel und ritt mit seiner Gesellschaft davon.

Ihm war nicht nach Jagen, und so ritt er mit seiner Gesellschaft bedächtig übers Land.
Umbringen werd ich sie, diese unverschämte Weib, umbringen. Verbrennen lass ich sie, auf dem Scheiterhaufen.
Doch er tat es nicht.

Als er das nächste Mal an ihrer Hütte vorbeiritt, war er voller Zorn, doch als er sie sah, gefiel sie ihm wieder so gut, dass er erneut fragte:
Willst du nicht doch meine Frau werden?
Na gut, sagte die junge Frau, wenn du so darauf bestehst.
Dann komm mit mir an meinen Hof! rief der König begeistert aus.
Muss ich das?
Der König schwieg, sein Gesicht wurde bleich vor Entsetzen. Was bildete dieses Weibsbild sich ein!
Ich kann doch auch deine Frau werden und hier in meiner Hütte bleiben, meinte die junge Frau.
Der König war außer sich vor Zorn, doch sie gefiel ihm so gut, dass er seinen Zorn in Zaum hielt und fragte:
Wie soll das gehen? Wie sollen wir uns dann sehen?
Indem du mich besuchst, so wie jetzt.

So besuchte der König die junge Frau in ihrer Hütte und machte sie zu seiner Frau.
Wie heißt du eigentlich, meine Frau? fragte der König nach der Trauung.
Lara.
Lara! Ab jetzt bist du Königin Lara!
Kann ich nicht einfach Lara bleiben?
Der König senkte den Kopf und vergrub ihn in seiner Hand.
Wenn du willst, nenne ich mich ab sofort Klara, das K vorneweg für Königin. Aber Königin werde ich mich nicht nennen, das passt nicht zu mir, sagte Lara.
Der König hob seinen Kopf und schaute sie an. Sie gefiel ihm so gut, dass er einwilligte. So nannte Lara sich nun Klara.