Kate winselt in Leonardos Cabrio 2

Fortsetzung von Teil 1

Ein sehr alter Zug stand am Bahnhof melancholisch zur Abfahrt bereit. Vorderbrandner öffnete die mechanische Tür und stürmte als Erster in den Waggon. „Toll, sagte er, die alten Garnituren! Die mag ich am liebsten! Die haben so etwas Nostalgisches, wie die Titanic.“ Vorderbrandner war aufgewühlt. Er war in Kathi verliebt, über beide Ohren, und hatte sich fest vorgenommen, heute Abend ihr Herz zu erobern. Kaum war der Zug losgefahren, drängte er uns, nach draußen zu gehen, denn die alten Garnituren hatten an beiden Waggonseiten offene Enden. Vorderbrandner ging wieder voraus, Kathi an der Hand nehmend, Konsti und ich händchenhaltend hinterher. Wir gingen ans Ende des Zuges, wo eine Tür ins Freie unter ein Vordach führte. Wir gingen durch die Tür nach draußen und standen – mit viel romantischer Imaginationskraft – auf einer fahrenden Loggia. Die Landschaft zog an uns vorbei und erschien wie ein Meer aus Dunkelheit.

Auf der Loggia des alten Waggons

Wie in einem Cabrio ist es hier!“ sagte Vorderbrandner und spielte damit auf das Cabrio an, mit dem Kathis Mutter damals durch den Ort fuhr. Er wirkte sehr entschlossen und sagte zu Kathi: „Mach mal die Augen zu!“
„Wozu denn?“
„Mach sie einfach mal zu!“
Widerwillig schloss Kathi die Augen. Vorderbrandner fasste sie von hinten, hob sie etwas in die Höhe und klemmte sie zwischen sich und das Geländer: „Und jetzt öffne sie! – Siehst du: Du fliegst, wie auf der Titanic!“
„Lass mich runter Valentin!“ protestierte Kathi sofort gegen Vorderbrandners improvisierte Ich-fliege-Szene am Bug der Titanic.
Vorderbrandner aber drückte sie noch fester ans Geländer und rief: „Breite die Arme zur Seite aus! Du fliegst!“
In Vorderbrandners Drehbuch würden sie sich gleich küssen, wie Kate und Leonardo auf der Titanic. Stattdessen aber, Vorderbrandners Drehbuch in keiner Weise folgend, wiederholte Kathi ihre Aufforderung an ihn, sie runterzulassen. Als er nicht locker und ihr seine überlegene Physis spüren ließ, kam ein leichtes verzweifeltes Winseln in ihre Stimme. Ein Kuss war jedenfalls weit entfernt. Da fiel es mir wieder ein:
Kate winselt in Leonardos Cabrio. Peinliche Berührtheit statt großem Kino auf der Loggia des alten Waggons.

Vorderbrandner gab schließlich nach, und Kathi ging mit beleidigter Miene ins Waggoninnere. Er stürmte ihr nach. Ich hielt Konsti am Arm fest. Sie drehte sich zu mir. Dann nahm sie mich mit ihrer anderen Hand und zog mich nach drinnen. Drinnen herrschte eisige Stimmung. Wir saßen da, Konsti und ich auf der einen Seite, Kathi und Vorderbrandner auf der anderen, ohne etwas zu sagen. Hörten das Rattern des Waggons auf den Schienen unter uns. Kathi blickte demonstrativ von Vorderbrandner weg. Bei den beiden herrschte die Hölle, während ich mit Konsti im Himmel war. Ich musste mich sehr beherrschen, um nicht Konstis Hand zu nehmen. Doch das erschien mir unpassend angesichts der Hölle, die sich mir gegenüber auftat. Für einen Moment drehte Kathi ihren Kopf leicht zu Vorderbrandner: In ihrem Gesichtsausdruck begegnete er seinem persönlichen Eisberg. Ich merkte ihm seine tiefe Enttäuschung an.

Vorderbrandners Eltern wohnten im unteren Dorf, eine Station vor dem oberen Dorf, während Kathi, Konsti und ich im oberen Dorf wohnten. Als der Zug am unteren Dorf hielt, brach Kathi das Schweigen: „Valentin, steigst du nicht aus?“ fragte sie Vorderbrandner mit gespielter Höflichkeit, der eine Aufforderung innewohnte.

Nein, ich…“

Doch Valentin, du steigst hier aus!“ sagte sie, nun jede Höflichkeit ablegend.

In diesem Moment rammte Vorderbrandner endgültig den Eisberg. Die kalte Hölle tat sich auf. Es warf ihn von Bord. Er entschwand durch die Tür der alten Garnitur in die dunkle Nacht, die ihn einsog wie der weite, große Ozean. Ich dachte, ich würde Vorderbrandner nie mehr wieder sehen, so sehr hatte ihn die Dunkelheit eingesogen und verschlungen. Ich dachte, eine große Männerfreundschaft würde in diesem Moment zerbrechen.

Trotzdem sprang ich ihm nicht nach in die Dunkelheit, sondern fuhr ich mit Kathi und Konsti weiter ins obere Dorf. Für Konsti war ich bereit, Vorderbrandner zu opfern. Am Bahnhof verabschiedete sich Kathi von uns. Konsti drehte sich zu mir und legte ihren Arm um mich. Sie sagte, ihre Eltern und ihre jüngeren Geschwister seien nicht zuhause und fragte mich, ob ich zu ihr mitkommen möchte. Der Himmel war voller Geigen.

Kate winselt in Leonardos Cabrio 1

Wir waren junge Männer, sehr junge Männer, als Vorderbrandner zu mir gelaufen kam und freudestrahlend rief: „Ich habe Kathi und Konsti überredet, mit uns ins Kino zu gehen!“

Ich fühlte mich überrumpelt. Etwas in mir wehrte sich dagegen, in Vorderbrandners Freude einzusteigen. Ich fragte distanziert: „Um was anzusehen?“

„Titanic natürlich! Kate Winslet und Leonardo di Caprio!“

Ich verstand in diesem Augenblick nur: Kate winselt in Leonardos Cabrio. Wirklich, genau das verstand ich: Kate winselt in Leonardos Cabrio. Eine Situation, die bei genauerer Betrachtung nicht zu erhebenden kinowürdigen Momenten zählt: dass eine Frau in eines Mannes Cabrio winselt. Aber ich verstand genau das. Ich sagte: „Nein, keine Lust“, und ging weg. Ich glaube, Vorderbrandner hätte mich in diesem Moment am liebsten auf den Mond geschossen. Doch er tat es nicht. Es gehört zu Vorderbrandners Eigenschaften, Dinge so hinzunehmen, wie sie sind und sie nicht auf den Mond zu schießen.

Nach meiner Absage für den gemeinsamen Kinoabend sah ich Konsti am nächsten Tag zu meiner eigenen Überraschung mit ganz anderen Augen. Schön fand ich sie vorher schon, aber jetzt fand ich sie plötzlich wunderschön. Ich hatte das Gefühl, Konsti ist die einzige Frau auf der Welt für mich. Ich ärgerte mich, dass ich Vorderbrandner abgesagt hatte und nicht mit Konsti ins Kino gehen würde, aber mein Stolz verhinderte, dass ich meine Absage widerrief. In der darauffolgenden Nacht träumte ich von Konsti, und als ich am Morgen erwachte, war ich ganz liebestrunken. Ich sah Konsti tagsüber wieder – wir gingen in dieselbe Schule – und schließlich siegte meine Verliebtheit über meinen Stolz. Ich sagte Vorderbrandner, dass ich doch gerne mitkommen möchte, um mit ihm, Kathi und Konsti Titanic anzusehen. Ich sehe noch das Lächeln in Vorderbrandners Gesicht, als ich ihm das sagte. Es war ein perfekter Moment, der uns beide glücklich machte. Es war ein Moment der Liebe zwischen Männern. Von diesem Moment an fieberten wir beide, ohne es uns zu sagen, auf den Abend hin, an dem wir endlich den Zug aus unserem Kaff in die Stadt nehmen würden, um Kathi und Konsti ins Kino auszuführen.

Kathi war die Tochter unseres Dorfarztes. Konstis Eltern waren Rechtsanwälte. Sie waren quasi Töchter des bürgerlichen Adels, während Vorderbrandners und meine Eltern Abkömmlinge von Bauersleuten waren. Als der Tag des großen Kinoereignisses endlich gekommen war, stieg eine Zweiklassengesellschaft in den Zug, um Titanic anzusehen: Kathi und Konsti, die zwei adligen Damen, mit Vorderbrandner und mir, ihren proletarischen Begleitern.

Im Kino saßen wir in einer Reihe: Vorderbrandner ganz links, neben ihm Kathi, dann Konsti und ich ganz rechts. Zu Beginn der Vorstellung nestelte Vorderbrandner ständig in seinem Stuhl herum, um Kathi näherzukommen. Soweit ich es mitbekam, mit mäßigem Erfolg. Ich weiß noch, dass mich der Film anfangs recht langweilte. Großes Schiff das untergeht, armer Mann der stirbt und reiche Frau die lebt. Dieser Plot erschien mir zu einfältig. Und an das Glück zwischen Mann und Frau glaubte ich sowieso nicht, weil ich meine Eltern als sehr unglücklich in ihrer Beziehung erlebte. Unser Deutschlehrer hatte uns Schüler damals belehrt, wie es in einer Beziehung so ist: Ist der Himmel heute voller Geigen, morgen ist die Hölle los! Ich bewunderte ihn dafür: Endlich einer, der die Wahrheit sagt. Danach hatte er mit uns Erich Fried gelesen: Es ist was es ist, sagt die Liebe. Und jetzt: saß ich in dieser Liebesschmonzette. Ich wollte das Leben sehen, den Himmel und die Hölle, nicht verkitschte Liebe!

Erst als sich Kate Winslet nackt auf die Couch legte, um von Leonardo di Caprio gemalt zu werden, wurde ich aufmerksam. Ich stellte mir vor, wie sich Konsti vor mir nackt auf die Couch legt. Mir wurde heiß. Ich weiß nicht wie es geschah: Plötzlich war meine Hand auf Konstis Oberschenkel. Ich erschrak. Sie aber legte ihre Hand mit zustimmender Geste auf meine. Jetzt wurde der Film dramatisch: Kate darf nicht sterben auf der Titanic, sonst stirbt Konsti für mich. Und Konsti war alles für mich. Es würde nie mehr eine andere Frau für mich geben als Konsti! Da war ich mir damals im Kino ganz sicher. Ich wünschte mir, dass der Film niemals zu Ende gehen würde.

Die Titanic brauchte lange zum Untergehen, aber irgendwann war der Film zu Ende. Wir wurden auf die Straße gespült. Die frische Luft war ernüchternd, tat aber auch gut. Wir eilten sofort zum Bahnhof, um den letzten Zug in unser Kaff zu erwischen. Vorderbrandner lief vorneweg, dahinter Kathi, Konsti und ich hintennach. Wir hielten uns an den Händen, Konsti und ich, als wir zum Bahnhof liefen. Es wäre mir egal gewesen, den Zug zu versäumen. Das wichtigste war, Konstis Hand nicht zu verlieren.

weiter mit Teil 2

Barfuß bis zum Hals

Das Eigenartige ist, dass von allem immer auch das Gegenteil wahr ist. Wenn ich sage, es geht mir gut, impliziere ich damit, dass es mir auch schlecht gehen kann. Wenn ich nur sage, es geht mir, ohne gut oder schlecht, so halte ich mir damit die Möglichkeit offen zu sagen, es steht mir, vielleicht sogar bis zum Hals. Wenn ich sage Hals, erkläre ich alles andere am Körper zum Nicht-Hals. Neulich las ich: barfuß bis zum Hals. Der das schrieb, verneint alles am Körper vom Fuß bis zum Hals, was er ebensogut bejahen könnte.

Barfuß bis zum Hals, so ging ich auf der Wiese, um im See zu baden, was eine Dame, die mir entgegenkam und mich mit entsetztem Blick betrachtete, nicht tat, nein, sie tat das Gegenteil: Sie war nichtbarfuß bis zum Hals, was man als vollständig bekleidet bezeichnen könnte, und hatte nicht vor zu baden. Ich fragte sie – ob ihres entsetzten Blickes – ob sie noch nie einen Mann nackt gesehen habe. Sie nickte und sagte, ihr Mann und sie wären selbst beim Sex nie vollständig nackt und hätten ihn außerdem nur im Dunkeln. Ihr Schamgefühl erlaube ihr nicht, einen Mann nackt zu sehen und sich einem Mann nackt zu zeigen. Dann hoffe ich, sagte ich, dass es dunkel war, als Sie geboren wurden, ansonsten wären Sie bereits zu diesem Zeitpunkt ihrem Schamgefühl schutzlos ausgeliefert gewesen.

Ich ging weiter, als sich mir eine andere Frau näherte, die sich im selben Zustand befand wie ich, nämlich barfuß bis zum Hals oder mit unbedecktem Hals bis zu den Füßen, je nach Sichtweise. Diese Frau gefiel mir, doch ehe ich ihr das sagen konnte, sagte sie zu mir, dass ich ihr gefalle und dass ihr mein Penis gefalle und ob es mir gefallen würde, ihren Penis zu streicheln und zu lecken. Ich sagte ihr, dass ich nicht genau wissen würde, was sie damit meine, also sagte sie mir, dass ihre Klitoris zwar Klitoris heiße aber in Wahrheit ein Penis sei, ein kleiner aber feiner Penis. Mich erregte, wie sie das sagte und ich stimmte zu, ihren kleinen feinen Penis zu streicheln und zu lecken. Ich kniete mich vor sie und sie spreizte ihre Beine ein wenig, damit ich sie besser streicheln und lecken konnte. Während ich ihren Penis namens Klitoris streichelte und leckte, bewegte sich mein eigener Penis in die Höhe, oder – das ist vielleicht die bessere Beschreibung – er bewegte sich in die Tiefe, denn er zeigte zum Himmel, und nur im Himmel sind die tiefsten, unendlichen Tiefen, während die Erde zwar tief ist, aber irgendwann kommt man auf der anderen Seite wieder raus. Galilei stellte fest: Die Erde ist eine Kugel und keine Scheibe mit Höhen und Tiefen.

Ich streichelte und leckte weiter die Klitoris, und mir war, als ob sich alles Gegensätzliche auflösen würde, als ob die Welt eins und ganz wäre. Da sagte die Frau: Jeder Moment ist da, um zu vergehen. Alles bewegt sich, immer und fortwährend, und alles Körperliche ist nur dazu da, uns die Existenz des Unkörperlichen zu zeigen. Da entdeckten wir unsere Körper abseits von Klitoris und Penis, wir erkundeten ihre Oberflächen und Öffnungen. Diese Erkundungen erregten mich sehr, ließen mich fallen in einen Zustand der Glückseligkeit. Ich ringe nach Worten, und mir scheint, das Nicht-Wort wäre in dieser Situation angebrachter.

Plötzlich ging Wittgenstein neben uns ins Wasser zum Baden. Ja, es war Wittgenstein, barfuß bis zum Hals, und ich rief zu ihm hinüber: Du hast recht, Ludwig – wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, während er kopfüber ins Wasser tauchte, ohne ein Wort.

Jean-Paul Grautier, Belmondo und die Passagier

Einst waren Esel die Herrscher über die Geschöpfe der Welt und hielten sich die Menschen als Diener. Die herrschenden Esel züchteten ein Gemüse namens Passa, das ihre Lieblingsspeise war. Passa sah den heutigen Karotten ähnlich, doch weil die Esel es hauptsächlich in trockenen und kargen Gegenden anbauten, wo sie bevorzugt ihre Herrschaftsdomizile errichteten, war Passa von gröberer Konsistenz und bitterer im Geschmack als Karotten. Den Eseln jedenfalls schmeckte Passa vorzüglich. Mit dem Ende der Eselsherrschaft endete jedoch auch die Passa-Kultur. Die Pflanze gilt heute als ausgestorben.

Unter den Menschen, die den Eseln dienten, hatte es besonders ein Geschlecht zu höchsten Dienerwürden gebracht: Sprösslinge aus diesem Geschlecht waren der Esel liebste Diener. Als die Eselsherrschaft endete, brach mit einem Mal die Existenzgrundlage für dieses stolze Dienergeschlecht weg. Jahrhundertelang zogen seine Nachkommen wie Nomaden durch die Welt, bis sie schließlich in der Pfalz sesshaft wurden und dort eine neue Heimat fanden. Als es später üblich wurde, einen Nachnamen zu tragen, gab sich dieses Geschlecht, in Erinnerung seiner Wurzeln, den Namen Grautier.

Josef Grautier ist ein Sprössling aus diesem Geschlecht. Er ist in der Pfalz geboren. Bei einem Ausflug in das französische Zentralmassiv lernte Josef Marie kennen. Wenig später beschlossen die beiden zu heiraten. Josef zog aus der Pfalz in das kleine, hochgelegene Dorf im französischen Zentralmassiv, in dem Marie wohnt. Um sich besser zu integrieren, nannte er sich fortan Jean-Paul statt Josef.

Die Böden in der Gegend, in der Jean-Paul mit Marie nun wohnte, sind sehr karg und trocken. Es wachsen nur vereinzelt Bäume im weiten Grasland. Ab und zu durchziehen Buschreihen die Landschaft. Als Jean-Paul, wie Josef sich nun nannte, diese Landschaft betrachtete, bemerkte er, dass sie der ideale Lebensraum für Esel ist. Er besorgte sich daraufhin einen Esel und war sehr stolz darauf, die Familientradition der Grautiers wieder zu beleben, wenn auch mit umgekehrten Rollen. Jean-Paul nannte den Esel Belmondo, weil er seiner Meinung nach die Welt schöner machte.

Als Jean-Paul eines Tages eine Karotte in der Hand hielt und Belmondo das sah, fing das Grautier laut zu schreien an:

Jean-Paul ging zu Belmondo und hielt ihm die Karotte zum Fressen hin, doch Belmondo schnupperte nur kurz daran und wandte sich anschließend angewidert ab. Jean-Paul erinnerte sich, was seine Vorfahren ihm überliefert hatten und schlussfolgerte, dass die Karotte Belmondo wahrscheinlich an Passa erinnert und damit an die glorreichen Herrschaftstage seiner Gattung. Aber weil es eine Karotte ist und keine Passa, ist er enttäuscht und will sie nicht fressen.

Als Jean-Paul schon ein paar Wochen bei Marie lebte, klingelte es eines Tages an der Tür. Jean-Paul öffnete, und vor ihm stand der Bürgermeister des Dorfes mit einem Geschenk in der Hand. Der Bürgermeister sagte: „Schön, dass Sie, der berühmte Modeschöpfer, sich unser Dorf als neue Heimat ausgesucht haben!“
Jean-Paul verstand nicht und blickte hilfesuchend zu Marie. Marie kam an die Tür und sagte: „Mein Mann heißt Grautier, Herr Bürgermeister, nicht Gaultier. Sie verwechseln ihn.“
Irritiert wandte der Bürgermeister seinen Blick von Jean-Paul ab und dem Stall zu, wo er Belmondo sah: „Stimmt! Jetzt sehe ich es: Sie haben ein Grautier und kein Gaultier! Entschuldigen Sie!“ sagte er und ging mitsamt seinem Geschenk wieder davon.

Wenige Wochen nach dem Besuch des Bürgermeisters wiederum wurde Marie schwanger, wenngleich man diese beiden Ereignisse nicht zwingend miteinander in Beziehung setzen muss. Marie sagte zu Jean-Paul: „Mit all meinen Ex-Freunden habe ich versucht, ein Kind zu bekommen. Das halbe Dorf hat sich versucht. Nie hat es geklappt. Wieso sollte es ausgerechnet mit dir klappen? Das Kind ist wohl von Gott geschenkt!“

Einige Monate später, als es Winter wurde, bemerkte Jean-Paul, dass zu wenig Holz für die kalte Jahreszeit eingelagert war. Da Holz in der kargen Gegend um das kleine Dorf nicht verfügbar war, wollte er deshalb mit Belmondo nach Clermont-Ferrand reiten, um dort welches zu besorgen.
„Reite jetzt nicht nach Clermont-Ferrand!“ bat ihn Marie: „Bleib nicht so lange weg, jetzt, da das Kind jederzeit auf die Welt kommen kann.“
„Aber wenn das Kind erst da ist, ist es doch noch beschwerlicher für dich, wenn ich so lange weg bin!“ entgegnete Jean-Paul.

Schließlich einigten sie sich darauf, dass Marie mitkommt nach Clermont-Ferrand. Sofort brachen sie auf, um keine Zeit zu verlieren. Marie setzte sich auf Belmondo, Jean-Paul lief nebenbei her. Als es zu dämmern begann und sie noch das nächste Dorf erreichen wollten, um dort ihr Nachtlager aufzuschlagen, sagte Marie: „Ich glaube, durch das Herumgepoltere auf Belmondo ist gerade meine Fruchtblase geplatzt. Ich muss mich sofort hinlegen, die Geburt steht unmittelbar bevor!“

Jean-Paul versuchte sie zu überreden, es doch noch zu versuchen, bis zum nächsten Dorf zu gelangen. Nach einiger Diskussion lenkte er jedoch ein. Schließlich bekam Marie das Kind und nicht er. Er sah einen Schuppen am Wegesrand, in dem Heu und Stroh gelagert wurde und sagte zu Marie: „Leg dich in das Stroh! Ich suche derweil nach trockenen Buschzweigen, um uns ein kleines Feuer zu machen.“

Als Marie sich hingelegt hatte, machte Jean-Paul seine LED-Taschenlampe an und suchte in der Umgebung des Schuppens nach trockenen Buschzweigen. Plötzlich hörte er Geräusche von hastigen Schritten, die sich dem Schuppen näherten. Er richtete den Lichtschein der Lampe in Richtung der Geräusche und erblickte in ihm drei Männer, die, als sie vom Lichtschein getroffen wurden, laut zu seufzen begannen und sich enttäuscht auf die Knie warfen.
„Was ist denn mit euch los?“ fragte Jean-Paul.
„Wir dachten, wir hätten den Halleyschen Kometen erblickt. Dabei ist es nur der Schein einer LED-Taschenlampe!“ sagte einer der drei Männer.
„Wieso dachtet ihr, den Halleyschen Kometen erblickt zu haben?“
„Wir sind drei Wissenschaftler aus Kaiserslautern“, sagte der zweite der Männer.
„Aus Kaiserslautern? Quasi aus meiner Heimat, der Pfalz!“
„Ja, aus Kaiserslautern“, fuhr der dritte fort. „Wir haben herausgefunden, dass der Halleysche Komet nicht erst, wie bisher angenommen, am  29. Juli 2061 das nächste Mal von der Erde aus sichtbar sein wird, sondern bereits am 6. Januar 2018. Außerdem gehen wir davon aus, dass der Komet vom französischen Zentralmassiv aus am besten zu sehen sein wird. Deshalb sind wir aus Kaiserslautern hierhergekommen.“

Jean-Paul hielt etwas verduzt seine LED-Taschenlampe in der Hand, deren Schein noch immer auf die drei Wissenschaftler aus Kaiserslautern gerichtet war, als einer der drei ausgerechnet eine Karotte aus seiner Tasche holte. Belmondo fing daraufhin natürlich laut zu schreien an. Alle Beschwichtigungen von Jean-Paul an das Tier halfen nichts.
„Das Grautier hat die Passagier!“ rief Jean-Paul durch das Geschrei zu den Wissenschaftlern: „Es ist wohl das unverarbeitete Trauma des Herrschaftsverlusts, das ihn immer wieder heimsucht. Vielleicht können Sie das mal näher untersuchen!“
Als der Wissenschaftler die Karotte wieder in seine Tasche gesteckt und Belmondo sich einigermaßen beruhigt hatte, hörte man Marie aus dem Schuppen rufen: „Jean-Paul, das Kind ist geboren!“
„Entschuldigen Sie mich! Meine Frau hat soeben ein Kind geboren“, sagte Jean-Paul zu den Wissenschaftlern und lief eilig in den Schuppen.

„Ist das nicht ein Wunder!“ sagte einer der Wissenschaftler, „dass wir genau zu dem Zeitpunkt hier sind, wenn ein Kind geboren wird! Das ist noch viel schöner, als den Halleyschen Kometen zu sehen!“
Daraufhin sammelten sie trockene Buschzweige. Sie entzündeten mit den Zweigen ein kleines Feuer und warfen zur Feier des freudigen Ereignisses Weihrauchharz und Myrrhe in die Flammen. Als Jean-Paul vom Schuppen aus mit der LED-Taschenlampe auf den heiligen Rauch leuchtete, sah es tatsächlich so aus, als sei dies der Schweif des Halleyschen Kometen.

Durch den Lichtschein angelockt, kamen Schafhirten mit ihrer Herde zum Schuppen. Als die drei Wissenschaftler aus Kaiserslautern ihnen von der Geburt des Kindes erzählten, nahmen sie ihre Instrumente und spielten dem Neugeborenen eine Serenade: