Jean-Paul Grautier, Belmondo und die Passagier

Einst waren Esel die Herrscher über die Geschöpfe der Welt und hielten sich die Menschen als Diener. Die herrschenden Esel züchteten ein Gemüse namens Passa, das ihre Lieblingsspeise war. Passa sah den heutigen Karotten ähnlich, doch weil die Esel es hauptsächlich in trockenen und kargen Gegenden anbauten, wo sie bevorzugt ihre Herrschaftsdomizile errichteten, war Passa von gröberer Konsistenz und bitterer im Geschmack als Karotten. Den Eseln jedenfalls schmeckte Passa vorzüglich. Mit dem Ende der Eselsherrschaft endete jedoch auch die Passa-Kultur. Die Pflanze gilt heute als ausgestorben.

Unter den Menschen, die den Eseln dienten, hatte es besonders ein Geschlecht zu höchsten Dienerwürden gebracht: Sprösslinge aus diesem Geschlecht waren der Esel liebste Diener. Als die Eselsherrschaft endete, brach mit einem Mal die Existenzgrundlage für dieses stolze Dienergeschlecht weg. Jahrhundertelang zogen seine Nachkommen wie Nomaden durch die Welt, bis sie schließlich in der Pfalz sesshaft wurden und dort eine neue Heimat fanden. Als es später üblich wurde, einen Nachnamen zu tragen, gab sich dieses Geschlecht, in Erinnerung seiner Wurzeln, den Namen Grautier.

Josef Grautier ist ein Sprössling aus diesem Geschlecht. Er ist in der Pfalz geboren. Bei einem Ausflug in das französische Zentralmassiv lernte Josef Marie kennen. Wenig später beschlossen die beiden zu heiraten. Josef zog aus der Pfalz in das kleine, hochgelegene Dorf im französischen Zentralmassiv, in dem Marie wohnt. Um sich besser zu integrieren, nannte er sich fortan Jean-Paul statt Josef.

Die Böden in der Gegend, in der Jean-Paul mit Marie nun wohnte, sind sehr karg und trocken. Es wachsen nur vereinzelt Bäume im weiten Grasland. Ab und zu durchziehen Buschreihen die Landschaft. Als Jean-Paul, wie Josef sich nun nannte, diese Landschaft betrachtete, bemerkte er, dass sie der ideale Lebensraum für Esel ist. Er besorgte sich daraufhin einen Esel und war sehr stolz darauf, die Familientradition der Grautiers wieder zu beleben, wenn auch mit umgekehrten Rollen. Jean-Paul nannte den Esel Belmondo, weil er seiner Meinung nach die Welt schöner machte.

Als Jean-Paul eines Tages eine Karotte in der Hand hielt und Belmondo das sah, fing das Grautier laut zu schreien an:

Jean-Paul ging zu Belmondo und hielt ihm die Karotte zum Fressen hin, doch Belmondo schnupperte nur kurz daran und wandte sich anschließend angewidert ab. Jean-Paul erinnerte sich, was seine Vorfahren ihm überliefert hatten und schlussfolgerte, dass die Karotte Belmondo wahrscheinlich an Passa erinnert und damit an die glorreichen Herrschaftstage seiner Gattung. Aber weil es eine Karotte ist und keine Passa, ist er enttäuscht und will sie nicht fressen.

Als Jean-Paul schon ein paar Wochen bei Marie lebte, klingelte es eines Tages an der Tür. Jean-Paul öffnete, und vor ihm stand der Bürgermeister des Dorfes mit einem Geschenk in der Hand. Der Bürgermeister sagte: „Schön, dass Sie, der berühmte Modeschöpfer, sich unser Dorf als neue Heimat ausgesucht haben!“
Jean-Paul verstand nicht und blickte hilfesuchend zu Marie. Marie kam an die Tür und sagte: „Mein Mann heißt Grautier, Herr Bürgermeister, nicht Gaultier. Sie verwechseln ihn.“
Irritiert wandte der Bürgermeister seinen Blick von Jean-Paul ab und dem Stall zu, wo er Belmondo sah: „Stimmt! Jetzt sehe ich es: Sie haben ein Grautier und kein Gaultier! Entschuldigen Sie!“ sagte er und ging mitsamt seinem Geschenk wieder davon.

Wenige Wochen nach dem Besuch des Bürgermeisters wiederum wurde Marie schwanger, wenngleich man diese beiden Ereignisse nicht zwingend miteinander in Beziehung setzen muss. Marie sagte zu Jean-Paul: „Mit all meinen Ex-Freunden habe ich versucht, ein Kind zu bekommen. Das halbe Dorf hat sich versucht. Nie hat es geklappt. Wieso sollte es ausgerechnet mit dir klappen? Das Kind ist wohl von Gott geschenkt!“

Einige Monate später, als es Winter wurde, bemerkte Jean-Paul, dass zu wenig Holz für die kalte Jahreszeit eingelagert war. Da Holz in der kargen Gegend um das kleine Dorf nicht verfügbar war, wollte er deshalb mit Belmondo nach Clermont-Ferrand reiten, um dort welches zu besorgen.
„Reite jetzt nicht nach Clermont-Ferrand!“ bat ihn Marie: „Bleib nicht so lange weg, jetzt, da das Kind jederzeit auf die Welt kommen kann.“
„Aber wenn das Kind erst da ist, ist es doch noch beschwerlicher für dich, wenn ich so lange weg bin!“ entgegnete Jean-Paul.

Schließlich einigten sie sich darauf, dass Marie mitkommt nach Clermont-Ferrand. Sofort brachen sie auf, um keine Zeit zu verlieren. Marie setzte sich auf Belmondo, Jean-Paul lief nebenbei her. Als es zu dämmern begann und sie noch das nächste Dorf erreichen wollten, um dort ihr Nachtlager aufzuschlagen, sagte Marie: „Ich glaube, durch das Herumgepoltere auf Belmondo ist gerade meine Fruchtblase geplatzt. Ich muss mich sofort hinlegen, die Geburt steht unmittelbar bevor!“

Jean-Paul versuchte sie zu überreden, es doch noch zu versuchen, bis zum nächsten Dorf zu gelangen. Nach einiger Diskussion lenkte er jedoch ein. Schließlich bekam Marie das Kind und nicht er. Er sah einen Schuppen am Wegesrand, in dem Heu und Stroh gelagert wurde und sagte zu Marie: „Leg dich in das Stroh! Ich suche derweil nach trockenen Buschzweigen, um uns ein kleines Feuer zu machen.“

Als Marie sich hingelegt hatte, machte Jean-Paul seine LED-Taschenlampe an und suchte in der Umgebung des Schuppens nach trockenen Buschzweigen. Plötzlich hörte er Geräusche von hastigen Schritten, die sich dem Schuppen näherten. Er richtete den Lichtschein der Lampe in Richtung der Geräusche und erblickte in ihm drei Männer, die, als sie vom Lichtschein getroffen wurden, laut zu seufzen begannen und sich enttäuscht auf die Knie warfen.
„Was ist denn mit euch los?“ fragte Jean-Paul.
„Wir dachten, wir hätten den Halleyschen Kometen erblickt. Dabei ist es nur der Schein einer LED-Taschenlampe!“ sagte einer der drei Männer.
„Wieso dachtet ihr, den Halleyschen Kometen erblickt zu haben?“
„Wir sind drei Wissenschaftler aus Kaiserslautern“, sagte der zweite der Männer.
„Aus Kaiserslautern? Quasi aus meiner Heimat, der Pfalz!“
„Ja, aus Kaiserslautern“, fuhr der dritte fort. „Wir haben herausgefunden, dass der Halleysche Komet nicht erst, wie bisher angenommen, am  29. Juli 2061 das nächste Mal von der Erde aus sichtbar sein wird, sondern bereits am 6. Januar 2018. Außerdem gehen wir davon aus, dass der Komet vom französischen Zentralmassiv aus am besten zu sehen sein wird. Deshalb sind wir aus Kaiserslautern hierhergekommen.“

Jean-Paul hielt etwas verduzt seine LED-Taschenlampe in der Hand, deren Schein noch immer auf die drei Wissenschaftler aus Kaiserslautern gerichtet war, als einer der drei ausgerechnet eine Karotte aus seiner Tasche holte. Belmondo fing daraufhin natürlich laut zu schreien an. Alle Beschwichtigungen von Jean-Paul an das Tier halfen nichts.
„Das Grautier hat die Passagier!“ rief Jean-Paul durch das Geschrei zu den Wissenschaftlern: „Es ist wohl das unverarbeitete Trauma des Herrschaftsverlusts, das ihn immer wieder heimsucht. Vielleicht können Sie das mal näher untersuchen!“
Als der Wissenschaftler die Karotte wieder in seine Tasche gesteckt und Belmondo sich einigermaßen beruhigt hatte, hörte man Marie aus dem Schuppen rufen: „Jean-Paul, das Kind ist geboren!“
„Entschuldigen Sie mich! Meine Frau hat soeben ein Kind geboren“, sagte Jean-Paul zu den Wissenschaftlern und lief eilig in den Schuppen.

„Ist das nicht ein Wunder!“ sagte einer der Wissenschaftler, „dass wir genau zu dem Zeitpunkt hier sind, wenn ein Kind geboren wird! Das ist noch viel schöner, als den Halleyschen Kometen zu sehen!“
Daraufhin sammelten sie trockene Buschzweige. Sie entzündeten mit den Zweigen ein kleines Feuer und warfen zur Feier des freudigen Ereignisses Weihrauchharz und Myrrhe in die Flammen. Als Jean-Paul vom Schuppen aus mit der LED-Taschenlampe auf den heiligen Rauch leuchtete, sah es tatsächlich so aus, als sei dies der Schweif des Halleyschen Kometen.

Durch den Lichtschein angelockt, kamen Schafhirten mit ihrer Herde zum Schuppen. Als die drei Wissenschaftler aus Kaiserslautern ihnen von der Geburt des Kindes erzählten, nahmen sie ihre Instrumente und spielten dem Neugeborenen eine Serenade: