S7 Kreuzstraße (Es fährt ein Zug nach Nirgendwo)

Dieser alte Schlager hat einen verheißungsvollen Titel: Es fährt ein Zug nach Nirgendwo.

Ich habe mir Nirgendwo immer als einen schönen Ort vorgestellt, als einen Ort, an den man sich zurückziehen kann, um sich zu finden und dann gestärkt wieder von Nirgendwo nach Irgendwo zurückzukehren. Doch der Schlager enttäuscht mich textlich: Der will gar nicht nach Nirgendwo. Der singt davon, dass er nach Nirgendwo fährt, aber da gar nicht hin will.

Ich jedenfalls will nach Nirgendwo. Ich setze mich in Giesing in den Zug, bereit, ihn bis zu seiner Endhaltestelle in Nirgendwo nicht zu verlassen. Zunächst rauscht die Stadt vorbei, Nirgendwo ist noch ganz weit weg. Die Vorstadt, also die Gegend der verschluckten, ehemaligen Dörfer: Das alte Bahnhofsgebäude von Perlach steht unbenützt und einsam und scheint verloren in seiner städtischen Umgebung, und in Neuperlach-Süd glaube ich eher an eine Reise in eine utopische Urbanität statt nach Nirgendwo. Auch beim Verlassen des Stadtgebiets bleibt alles beim Alten: Neubiberg, Ottobrunn, Hohenbrunn, Höhenkirchen, Siegertsbrunn – alles dichtbesiedelte Kleinstädte, deren Nähe zur großen Stadt München spürbar ist. Aber dann: Es wird sehr ländlich. Die Haltestellen tragen so sperrige Namen wie Dürrnhaar oder Peiß, dazwischen Aying als Metropole der Ländlichkeit. Nirgendwo kann nicht mehr weit sein! Ist es auch nicht.

Nirgendwo trägt den Namen Kreuzstraße und ist eine Ansammlung einiger Häuser. Der Zug hält abseits dieser Häuser, in einer bewaldeten Geländevertiefung namens Teufelsgraben.

Ich gehe nicht nach Kreuzstraße, sondern überquere die Gleise und verlasse den Teufelsgraben in die andere Richtung. Nach ein paar Minuten komme ich aus dem Wald auf freie Wiesen. Stille. Ich kann die Erde atmen hören und die Sterne beim Herabblicken sehen. Ich spüre mich, vom Kopf bis zu den Füßen. Ich spüre mein Sein. Ich spüre mich leben in diesem flirrenden Universum. Ich bin wieder bereit für Irgendwo nach dieser kurzen Auszeit in Nirgendwo. Danke Kreuzstraße, danke, dass es dich gibt!

Bilder aus Nirgendwo

 

 

Vorderbrandner wird Vater und schreibt über François Truffaut

Vorderbrandner wird Vater, und das, sagt er, überwältigt ihn dermaßen, dass er nichts darüber schreiben kann. Deshalb, sagt er, sei er froh, dass er heute, am 21. Februar, etwas über François Truffaut schreiben kann. François Truffaut ist an einem 6. Februar geboren und an einem 21. Oktober gestorben. Der 21. Februar eignet sich also hervorragend, um über ihn zu schreiben. Der 6. Oktober genauso, sagt Vorderbrandner, und vielleicht werde er auch am 6. Oktober etwas über François Truffaut schreiben, aber das werde er erst entscheiden, nachdem er am 21. Februar etwas über François Truffaut geschrieben hat.

Nun könnte man schreiben, sagt Vorderbrandner, dass François Truffaut an diesem Donnerstag, dem 21. Februar 2019, 87 Jahre, zwei Wochen und einen Tag alt geworden wäre. Das könnte man. Als François Truffaut starb, sagt Vorderbrandner, war er sieben Jahre alt, also ich, sagt Vorderbrandner, nicht François Truffaut. Am 21. Oktober 1984, einem Sonntag, sagt Vorderbrandner, kletterte ich auf einen Apfelbaum im Chiemgau. Als ich ziemlich weit oben war, schaute ich nach unten und bekam Angst. Ich klammerte mich fest an den Stamm. Ich war wie erstarrt, aus Angst, hinunterzufallen. Sein Vater, sagt Vorderbrandner, sah ihn, seinen Sohn, auf dem Apfelbaum, und kam langsam und zögernd näher. Er stand unten am Stamm, und die Blicke von Sohn und Vater trafen sich, der ängstliche Blick des Sohns nach unten und der ängstliche Blick des Vaters nach oben. Dann kletterte sein Vater nach oben zu ihm, und als er ihn erreicht hatte, kletterten sie gemeinsam, mit langsamen und vorsichtigen Bewegungen wieder nach unten. Ich atmete erleichtert auf, als meine Füße den Erdboden berührten, sagt Vorderbrandner, und es interessierte mich einen Scheißdreck, dass an diesem Tag François Truffaut in Neuilly-sur-Seine starb, genauso wenig wie es mich heute interessiert, Filme von François Truffaut zu analysieren, ich will sie einfach nur sehen, und manchmal will ich nicht einmal das, manchmal ist es mir sogar schon passiert, dass ich wütend auf die Fernbedienung gedrückt habe, um das Sehen eines Truffaut-Films abrupt abzubrechen, weil mich dieses Sehen so wütend gemacht hat, dass ich diese Wut nicht mehr ertragen wollte. Warum er so wütend geworden sei, beim Sehen eines Truffaut-Films? frage ich Vorderbrandner. Das wisse er nicht, sagt er, genauso wenig wie er wisse, warum ihn seine Gefühle so dermaßen überwältigen, jetzt, wo er wisse, dass er Vater wird. Vielleicht wäre das das Thema dieses Aufsatzes: Meine Wut auf François Truffaut. Es sei aber nicht nur Wut, sagt Vorderbrandner, die ihn überkomme, wenn er an François Truffaut denkt, es sei auch Trauer, eine intensive Wut und Trauer, die zeigten, wie sehr ihn die Filme von François Truffaut berührten.

Ich weiß nichts von François Truffaut, sagt Vorderbrandner, ich weiß nur, dass ich mich ängstlich an den Stamm des Apfelbaums krallte, als er starb. Ich fühlte mich oft allein als Kind, ich fühlte mich verloren, und das, obwohl ich eine liebevolle Mutter, einen liebenswürdigen Vater und sorgende Großeltern hatte, und eine ältere Schwester, die ihren kleinen Bruder liebte. Aber auch sie waren so verloren, so allein. Jeder war für sich allein. Da konnte keiner eine Verbindung zum anderen herstellen, nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte. Vielleicht habe ich deswegen später die Filme von François Truffaut entdeckt, weil in ihnen die Protagonisten oft so allein, so verloren sind. Weil sie nicht geliebt werden. Ja, jetzt fällt es mir ein, weil sie nicht geliebt werden, das ist es, oder, um noch grausamer zu sein oder einfach nur, um zum Kern der Sache vorzudringen: weil sie nicht geliebt werden wollen. Weil sie vor der Liebe davonlaufen. Das macht mich so wütend und so traurig beim Sehen eines Truffaut-Films: das Davonlaufen vor der Liebe. Weil ich es selbst so gut kenne. Und jetzt weiß ich, was mich dermaßen überwältigt an der Tatsache, dass ich Vater werde: Ich habe Angst, dass es bei meinem eigenen Kind weitergeht, dieses Davonlaufen vor der Liebe, dass ich mein Kind nicht lieben kann, wie es verdient, geliebt zu werden.

Liebeserklärung an François Truffaut

Valentinstag (ist vorbei)

Ich wusste, es war Valentinstag, aber ich hatte keine Lust auf rote Rosen, wahrscheinlich, weil ich sie niemandem schenken wollte. Ich wollte ins Musäum des Karl Valentin gehen, was ich dann aber auch nicht tat, denn am Valentinstag ins Valentin-Musäum gehen fand ich doof, fantasie- und humorlos, sodass ich nicht ins Valentin-Musäum ging. Stattdessen hörte ich das Lied Valentinstag ist vorbei, was mir passend erschien, denn wieso sollte ich mich genau am Valentinstag mit dem Valentinstag beschäftigen? Ich hörte zehn Mal das Lied Valentinstag ist vorbei, vielleicht sogar elf Mal, ich begann zu hören um 18:45 Uhr und hörte auf zu hören um 19:29 Uhr, also müsste ich das Lied zwölf Mal gehört haben, ich glaube aber, ich habe es nur elf Mal gehört, weil ich zwischen dem Hören in die Küche gegangen war, um ein Glas Wasser zu trinken, wo ich aus dem Fenster sah und eine Amsel vor jenigem sitzen sah und sie eine zeitlang betrachtete, also kann ich, bei eingehender Betrachung nicht nur der Amsel, sondern der Gesamtsituation im Hinblick auf den zeitlichen Aspekt, das Lied nur elf Mal und nicht zwölf Mal gehört haben, vielleicht habe ich es sogar nur zehn Mal gehört, je nachdem, wie lange ich die Amsel vor dem Fenster betrachtet habe, was ich mir jedoch nicht notiert, geschweige denn gemerkt habe.

Um 19:29 Uhr machte ich jedenfalls einen Schnitt und hörte auf, das Lied Valentinstag ist vorbei zu hören, und dann, nachdem ich zu hören aufgehört hatte und Stille im Raum war, kam mir die Idee, etwas über Leute zu schreiben, die 1929 geboren sind und überlegte, welche Leute ich kenne, die 1929 geboren sind, und mir fielen keine solchen Leute ein. Es könnte sein, dass ich solche Leute mal gekannt habe, dass sie aber mittlerweile gestorben sind, ja, das ist eine sehr wahrscheinliche Tatsache, und Tote, kennt man die noch, oder sind sie nicht nur aus dem Leben, sondern auch aus der Kenntnis entschwunden?

Mitten in diese Überlegungen hinein erinnerte ich mich, dass einst – damals zu meiner völligen Überraschung – Milan Kundera und Max von Sydow durch den Ort im Alpenvorland spazierten, in dem ich aufgewachsen bin. Es war noch Winter, als ich sie dahinspazieren sah am Fluss, aber der Frühling schien nahe, und Max sagte zu Milan: „Es ist schön hier, am Fluss mit dem Blick auf die Berge, im Licht der stärker werdenden Sonne. Da will ich gar nicht an den Tod denken, obwohl ich schon Schach mit ihm spielte.“ „Ja“, sagte Milan daraufhin, „der Spaziergang hier am Fluss entlang lässt mich die Schwere vergessen, die das Leben haben kann, und ich will dieses Gefühl Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins nennen.“ Milan Kundera und Max von Sydow sind 1929 geboren, also kenne ich zumindest zwei Menschen, die 1929 geboren sind, und nicht irgendwelche Menschen, sondern Milan Kundera und Max von Sydow! Mehr Worte will ich über diese Begegnung gar nicht verlieren, denn es ist nicht originell, über Personen zu schreiben in dem Jahr, in dem sie neunzig Jahre alt werden, genauso wie es nicht originell ist, am Valentinstag über Karl Valentin oder rote Rosen zu schreiben.

Ich lief damals aufgeregt nachhause, um meinen Eltern von meiner Begegnung mit Milan Kundera und Max von Sydow zu erzählen, denn es war eine wichtige Begegnung für mich, weil ich nach dieser Begegnung beschloss, entweder Schriftsteller oder Schauspieler oder beides zu werden. Als ich nachhause kam, stand mein Vater mit roten Rosen vor meiner Mutter. Meine Mutter kokettierte damit, sie entgegenzunehmen und sagte zu meinem Vater: „Gestern habe ich dich mit einer anderen gesehen. Wer war denn das?“ „Das war meine ehemalige Zukünftige“, sagte mein Vater, und ich glaube, diese Worte hatte ihm der Valentin in den Mund gelegt.

Valentinstag ist vorbei (10x hören oder öfter)
Milan Kundera
Max von Sydow

Professor Bernd Dachluke, die Rage, die Rasche und die Frankophilie

Professor Dr. Bernd Dachluke, nach dem die heute bei Dachausbauten so beliebte Dachluke benannt ist, war zu seinen Lebzeiten ein bedeutender Architekt. Außerdem war er ein Förderer der deutschen Kultur und der deutschen Sprache.

Bernd Dachluke

In den Tagen, in denen unsere Geschichte spielt, war Professor Dachlukes Frau Beatrix hochschwanger. Er dozierte gerade an der Universität und hielt einen Vortrag über das Hochhausprojekt, an dem er arbeitete. Er sagte, das geplante Hochhaus werde eine Rage von über hundert Metern haben. Da unterbrach ihn ein Student und stellte ihm zwei Fragen:

„Herr Professor: Haben Hochhäuser Emotionen, sodass sie in Rage kommen können? Wenn ja, kann man diese Emotionen tatsächlich in Metern ausdrücken, wie in ihrem Fall, eine Rage von über hundert Metern?“

„Ich spreche nicht von der Rage, Sie frankophiler Mensch! Die schreibt man zwar gleich, spricht sie aber anders aus“, antwortete der Professor, „nein, ich spreche vom architektonischen Begriff Rage, mit der das Hochhaus von der Erde in den Himmel ragen wird. Es wird der überragende Baukörper in dieser Stadt werden! Ach, was sage ich in dieser Stadt: in diesem Gau, in diesem Land!“

In diesem Moment betrat eine Sekretärin den Vortragssaal und bedeutete dem Professor mit ihren Blicken, dass er sofort kommen solle. Professor Dachluke wusste augenblicklich, was das zu bedeuten hatte, und es platzte aus ihm heraus: „Oh, zu meiner Beatrix kommt der Storch! Ich bin in Rasche!“

Da meldete sich der Student von eben wieder und sagte: „Herr Professor, ich bin verwirrt: Zuerst das emotionale Hochhaus, dem Sie seine Rage nicht zugestehen – und nun sind Sie selbst in Rage.“

Ach, hören Sie auf mit Ihren Wortklaubereien, junger Mann. Sie sind wohl ein Franzose, dem man das Deutschsein noch beibringen muss. Ich bin in Rasche! Es eilt! Ich muss sofort ins Krankenhaus!“ Und mit diesen Worten stürmte Professor Dachluke aus dem Saal.

Auf dem Weg ins Krankenhaus dachte er:
Also – wenn meine Frau Beatrix dieses Kind auf die Welt bringt, wird es sehr deutsch erzogen! Denn die deutsche Kultur muss gepflegt werden! Das habe ich gerade an meinen Studenten festgestellt, die zu stark den frankophilen Einflüssen unterliegen. Das soll bei meinem Kind nicht passieren!
Wie ich diese deutsche Erziehung am besten bewerkstellige, das werde ich mir in aller Ruhe beim Angeln überlegen: Petri Heil!

Künstlerische Reaktion auf Bernd Dachlukes Hochhaus, das tatsächlich gebaut wurde: