Irritation in der Erzählwerkstatt

„Gestern werde ich nicht gewesen sein“, murmelte Vorderbrandner neben mir, aber trotzdem so laut, dass ich es hörte. Er bemerkte meinen irritierten Blick. Wollte er, dass ich ihn höre, um darüber zu reden? In jedem Fall schien er sich rechtfertigen zu wollen: „Wir sind hier in einer Erzählwerkstatt. Ich experimentiere mit den Erzählebenen.“

„Es ist in der Tat ein gewagtes Experiment. Wie kann man gestern nicht gewesen sein werden?“

„Indem ich heute schon weiß, dass ich morgen wissen werde, dass ich gestern nicht gewesen bin.“

„Und wie manifestiert sich dieses Wissen?“

„Wissen ist nur Glaube, und wieso soll ich nicht glauben, dass ich morgen glauben werde, dass ich gestern nicht gewesen bin?“

„Weil es mir schwerfällt zu glauben, dass ich gestern nicht gewesen sein werde, weil ich glaube, dass ich immer bin, seit ich denken kann.“

„Glaub daran, wenn es dir weiterhilft. Ich mag gerade daran glauben, dass ich gestern nicht gewesen sein werde. Denn wenn ich gestern nicht gewesen sein werde, tun sich unglaubliche Möglichkeiten für dieses Gestern auf: Ich kann es neu befüllen, mit neuen Gedanken und Interpretationen, obwohl ich es heute noch nicht weiß. Außerdem glaube ich, dass viele, die heute davon reden, was sie gestern gewesen sind, schon morgen behaupten werden, dass sie gestern nicht gewesen sind, was sie heute behauptet haben. Max Frisch sagte: Ich weiß nie, wie es war. Ich weiß es anders. Ist das nicht eine andere Art zu sagen: Gestern werde ich nicht gewesen sein?“

„Du verwirrst mich, Vorderbrandner, und ich könnte glatt zu zweifeln beginnen, ob ich überhaupt bin.“

„Sein ist ohnehin langweilig, zumindest als Erzähler. Da passiert so wenig und so viel, dass ich es nicht erzählen kann, weil es einfach ist. Ich umschiffe die Gegenwart wie ein gefährliches Minenfeld, um mich in den ungewissen Meeren der Vergangenheit und Zukunft zu tummeln.“

„Und du glaubst nicht, dass du dabei dein eigenes Leben umschiffst?“

Alter Mann am kleinen Fluss

Irgendwo zwischen München und Passau

Der kleine Fluss mäandert durch die feuchten Wiesen. Der kleine Fluss beherrscht diese Landschaft, sagt der alte Mann, der längst gestorben ist. Gleichmäßiger Wasserstand sei wichtig, sagt der alte Mann, für seine Mühle am Fluss, damit sie mahlt. Die feuchten Wiesen speichern das Wasser und geben es gleichmäßig ab an den Fluss, damit seine Mühle mahlt. Grobkörniges Mehl mahle sie, sagt der alte Mann, seine Mühle, nicht so feines wie aus dem Supermarkt. Er ist zufrieden damit, denn er glaubt, dass es gesünder sei als das feine aus dem Supermarkt.

Der Sohn des alten Mannes hat die feuchten Wiesen drainagiert und trockengelegt, um dort Getreide anzubauen. Der kleine Fluss ist dann oft ausgetrocknet in regenarmen Zeiten, weil die feuchten Wiesen kein Wasser mehr speicherten, dass sie abgeben konnten. Das Wasser war durch die Drainagerohre längst unterwegs zum Schwarzen Meer. Die kleine Mühle stand still. Lastwägen kamen, um das Getreide in eine große Mühle zu transportieren; in eine große Mühle, wo das feine Mehl für den Supermarkt gemahlen wird.

Die Autobahn führt jetzt durch das Tal des kleinen Flusses. Um das Getreide schneller zur großen Mühle zu bringen. Das Wasser fließt im Drainagerohr, der Verkehr auf der Autobahn. Es fließt geradlinig und schnell, nicht mäandernd und trödelnd. Vielleicht ist das der unabwendbare Fortschritt der Menschheit. Immer schneller, größer, weiter – alternativlos. Alternativlos? Wieviel Geschwindigkeit verträgt der Mensch?

Ich gehe am Ufer des kleinen Flusses entlang, unter den Betonpfeilern der Autobahn. Ich suche die Mühle. Stattdessen treffe ich den alten Mann, der doch längst gestorben ist. Er sagt: Der Fluss beherrschte diese Landschaft. Alles drehte sich um ihn. 43 Mühlen gab es hier. Eine Gerberei. Wir haben ihn benutzt, wir haben ihn verschmutzt. Wir haben ihn auch geachtet und beobachtet. Wir haben mit ihm gelebt. Es gab nur ihn. Er lehnt sich an den Betonpfeiler der Autobahn und erzählt weiter: Wir lebten mit der Feuchtigkeit. Mit diesen Betonpfeilern ziehen sie das letzte Wasser aus dem Boden. Wer braucht denn hier noch Wasser? Der Fluss ist eine große Rinne, die das Wasser bei starkem Regen möglichst schnell abtransportieren soll. Wer braucht denn hier noch Wasser? Die Autobahn beherrscht jetzt unsere Landschaft. Sie transportiert den Verkehr schnell von Stadt zu Stadt. Er sieht mich an und sagt: Fahr jetzt zurück in die Stadt. Da gehörst du hin.

Er hat recht. Ich gehöre in die Stadt. Da sind die Menschen, die ich liebe. Da ist meine Arbeit. Da ist mein Leben. Für meine Rückfahrt nehme ich nicht die Autobahn, sondern mäandere mich die Landstraße entlang, um langsam aus dieser Entschleunigung wieder in mein gewohntes Leben zu gleiten. Ich höre ein Lied von Blumfeld und bekomme eine Zeile davon nicht aus dem Ohr: Ich kann im Fortschritt keinen Fortschritt sehen.

Die Isen

Nur Liebe

Sie lagen nebeneinander und spürten sich. „Liebst du mich?“ fragte sie ihn. „Ja, ich liebe dich!“ sagte er.

Was ist an diesem Dialog auszusetzen? Nichts. Er ist wunderschön. Der Haken ist: Sie dachte sich das Wort nur in diesen Dialog hinein. „Liebst du nur mich?“ – „Ja, ich liebe nur dich!“

Während er seine Antwort so dachte: „Ja, ich liebe dich! Weil ich mein Leben liebe, und du gibst meinem Leben Lebendigkeit.“

Durch ihr Nur war der Eifersucht Tür und Tor geöffnet. Ihre Beziehung entwickelte sich wie das Leben eines Vogels im Käfig, der seiner Kernfähigkeit, dem Fliegen, beraubt ist. Was ist eine Beziehung wert, die ihrer Kernfähigkeit, dem Lieben, beraubt ist?

Tyrann Otto

Nie mehr Herrschaft eines Tyrannen! Wir huldigen den Errungenschaften der Demokratie, die wir uns durch das Grundgesetz gegeben haben. (Manche bösen Geister behaupten, das Grundgesetz wurde uns von den Alliierten aufgezwungen.) Wieso betont man so oft, wie wertvoll eine Demokratie ist? Gibt es etwa viele, die das nicht so sehen?

Ich war am Wochenmarkt vor der Kirche, am Gemüsestand. Eine Frau, ich schätze ihr Alter auf vierzig bis fünfundvierzig Jahre, war vor mir an der Reihe. Sie kaufte soviel Gemüse, dass ich aus dem Staunen nicht herauskam. Sie kaufte Gemüse, das ich vorher noch nie wahrgenommen hatte, und deshalb fällt es mir jetzt schwer, es zu beschreiben. Plötzlich rief sie „Otto in meine Richtung. Da mir klar war, dass sie damit nicht mich meinen konnte, drehte ich mich um. Ich sah einen etwas dicklichen, kleinen Jungen, der vor nicht allzu langer Zeit wohl noch gekrabbelt ist anstatt auf zwei Beinen zu stehen. Otto hatte es zur Wurstbude verschlagen. Auf den zweiten Ruf seiner Mutter kam er angelaufen und machte sich am Gemüsestand zu schaffen. Er wackelte dermaßen an den Regalen, dass der Gemüsekäufer sich sorgte, sie würden zusammenbrechen. Otto schaffte das Künststück, Gemüse zu finden und aus den Regalen zu nehmen, das seine Mutter noch nicht in ihren randvollen Körben hatte.

Der Gemüseverkäufer wollte die Situation beruhigen und reichte Klein-Otto eine Karotte. Die Mutter bestätigte, dass Otto bereits Karotten esse (Subtext: Otto ist ein gutes Kind, das viel gesundes Gemüse ist, also auch Karotten!), jedoch bemerkte ich eine Unsicherheit in ihrer Stimme. So als traue sie ihrer eigenen Aussage nicht über den Weg. Otto bedachte daraufhin die Karotte mit einem verächtlichen Blick.

In diese Spannung, die in der Luft lag, kam plötzlich Otto-Vater angerauscht und orderte weiteres Gemüse. Er erweiterte den Korb um Grünes wie Petersilie und Schnittlauch, gab dem Ganzen also durch die Kräutergarnitur seinen patriarchalischen Segen. Der Gemüseverkäufer erfasste die Situation mit bestechendem Scharfsinn, denn er fragte nun die einzige sich daraus schließende logische Frage: „Bezahlt der Vater oder die Mutter?“ Es geht nicht um Mann und Frau, nein, es geht um Vater und Mutter, denn die Welt ist völlig auf Otto ausgerichtet; auf Otto, den Tyrann von Elterns Gnaden.

Während die Mutter, ohne auf die Frage des Verkäufers zu antworten, das Gemüse bezahlt, jagt Otto-Vater Otto hinterher, der sich wieder zur Wurstbude aufgemacht hat. Der Verkäufer nennt die Summe, die Otto-Mutter zu bezahlen hat. Die Höhe der Summe bringt mich wieder ins Staunen, sodass mir fast meine Tomaten, die ich schon lange in der Hand halte, auf den Boden fallen. Wieso soviel Gemüse, wo Otto doch keine Karotten mag? Was treibt Eltern an, einen Tyrannen zu züchten? Und wieso diese tyrannische Zucht unter einem Berg von Gemüse verstecken, anstatt sie an der Wurstbude aufrichtig zur Schau zu stellen? Mich schaudert vor dem Gedanken, dass nur Verlogenheit die Demokratie erhält, weil es viele sich bloß nicht trauen, zur Tyrannei zu stehen. Wird Otto seine Herrschaft auf seine Eltern beschränken, oder wird er eines Tages die Welt beherrschen wollen? Hat der Mensch mehr Hunger nach Macht als nach Gemüse, weil er es nicht anders kennt?