Unrat vor Naturdenkmal

Ich stand vor dem Stapel Holz mit dem Schild dahinter und las:

Naturdenkmal – Unrat ablagern verboten

Diese Anordnung stürzte mich in große Verwirrung. Ist das Holz Naturdenkmal oder Unrat? Wenn das Holz Unrat ist, wo ist das Naturdenkmal? Oder steht das Schild für die Natur als Denkmal? Die Natur als ein riesiges Gesamtdenkmal? Ein kleines Schild für die große Natur? Der Holzstapel ein Teil der Natur, ein Teil des Denkmals? Oder doch nur achtlos hingeworfener Unrat vor ein bedeutungsloses Schild?

Ich rief Hubert an, der seine Nummer auf dem Holz hinterlassen hatte. Hubert meldete sich. Ich fragte ihn all meine Fragen. Hubert sagte, sein Kunstwerk solle Fragen aufwerfen, und deshalb freue er sich über meine Fragen. Ich solle doch bitte diese Fragen auf seine Social-Media-Accounts posten, darüber würde er sich noch mehr freuen. Dann legte er auf, ohne meine Fragen zu beantworten.

Die Tochter meiner Frau

Jakob ist mein zwölf Jahre alter Sohn. Jedes zweite Wochenende verbringen wir beide schöne Stunden, wie ich es nenne. Gerade neigen sich diese schönen Stunden wieder einmal dem Ende zu. Wir sind unterwegs zu Jakobs Mutter Paula. Paula war vier Jahre lang meine Lebensgefährtin. Als Jakob zwei war, trennten wir uns. Paula hatte gemeint, wir sollten uns trennen, weil sie meine Passivität nicht mehr aushält. Sie will einen Mann, keinen Waschlappen, sagte sie. Ich habe das widerstandslos hingenommen, weil mich Paulas Temperament ohnehin überforderte.

Als wir ankommen, öffnet uns Paula mit feuchten Augen die Tür. Jakob verdrückt sich gleich in sein Zimmer. Es schmerzt mich jedesmal, mich von ihm zu verabschieden. Es schmerzt mich immer mehr, weil ich weiß, dass er immer größer wird, und in nicht allzu ferner Zukunft ist er kein Kind mehr, sondern ein Pubertierender. Ich stehe etwas ratlos in der Tür und sehe in Paulas feuchte Augen.

„Guck nicht so!“ sagt sie: „Ja, ich habe gerade geweint. Stell dir vor!“
„Was ist denn los?“ frage ich unbeholfen.
„Lilly hat sich gerade mal wieder wutentbrannt aus dem Staub gemacht. Sie redet nicht mehr mit mir; will zu ihrem Vater ziehen; aber der will keinen Kontakt zu ihr. Ist ihm zuviel. Sagt er.“

Lilly ist die siebzehnjährige Tochter Paulas aus ihrer Beziehung vor mir.

Ich stehe weiter ratlos in der Tür und mache ein betroffenes Gesicht.
„Mach nicht so ein betroffenes Gesicht!“ sagt Paula. „Ich weiß, dass du nichts tun kannst und nichts tun willst. Genauso wie damals, als wir zusammen waren. Der große Schweiger und alle Last auf mir!“

Paula macht eine Pause, um sich zu sammeln und durchzuschnaufen. Dann fragt sie: „Wie ging’s Jakob die zwei Tage mit dir?“
„Gut.“
„Gut? Gut! Natürlich! Habt ihr eure schönen Stunden verbracht, und jetzt bringst du ihn mir wieder, damit ich den Alltagsdreck erledige.“
Ich stehe in der Tür und fühle mich wehrlos gegenüber dem, was von Paula auf mich einprasselt.
Paula fährt fort: „Ich habe das Gefühl, er zieht sich allmählich genauso von mir zurück wie Lilly. Beide wollen sie zu ihren Vätern, aber die Väter sind nicht da, wenn man sie braucht.“
Ich mache einen unbeholfenen Versuch, Paula zu umarmen, den sie sofort abwehrt: „Geh! Geh einfach! Geh zurück in dein Schneckenhaus und lass mich in Ruhe!“

Ich blicke an Paula vorbei den Gang entlang in die Richtung von Jakobs Zimmertür und hoffe, dass er nochmal rauskommt, um sich von mir zu verabschieden. Aber er kommt nicht. Unsicher und halbherzig will ich mich umdrehen, um zu gehen.

Plötzlich sagt Paula, scheinbar gefasst und sehr bestimmt: „Ich bin so froh, dass ich sie abtreiben habe lassen! Noch ein Kind, für das nur ich zuständig gewesen wäre – das hätte ich nicht ausgehalten!“
Ich bleibe in halber Drehung stehen.
„Unsere Tochter! Sie wollte kommen. Ich habe es gespürt damals!“ sagt Paula. „Ich wollte sie, aber die Vernunft sagte mir, dass es nicht geht. Vielleicht war ich zu vernünftig, aber ich habe es getan. Und dir war doch sowieso alles egal.“
Zögerlich drehe ich mich wieder um zu ihr.
„Nein, nichts mehr! Geh jetzt! Geh!“ schreit sie mir ins Gesicht.

Ich gehe zur Straße. Auf dem Gehweg sinke ich zu Boden. Ich weine und sehe meine Tränen auf den trockenen Asphalt fallen. Das ungeborne Kind. Jakob! Paula! Helft mir doch!

Weltschmerz auf der Spätsommerwiese

Lilith tanzt zwischen den Schafen auf der Spätsommerwiese. Ein Gefühl der Leichtigkeit liegt in der flirrenden Luft.

Das war vor einigen Wochen, als ich noch glaubte, dass der Sommer nie zu Ende geht. Nun ist er zu Ende gegangen. Ich ertappe mich dabei, dass ich – es fällt mir schwer, das zuzugeben – You’re beautiful von James Blunt höre. Bei diesem Hören denke ich an den Moment auf der Spätsommerwiese, und mich beschleicht ein sanfter Schmerz. Ich recherchiere über diesen Schmerz und stelle fest: Es ist ein „Schmerz über die Vergänglichkeit irdischer Herrlichkeit“, den ich fühle, ein Schmerz, den Heinrich Heine als Weltschmerz bezeichnet, und von dem die Brüder Grimm sagen, er sei eine „tiefe Traurigkeit über die Unzulänglichkeit der Welt“.

You’re beautiful ist mein aktueller Soundtrack zum Weltschmerz. Die Handlung des Songs: Ein Mann sieht eine Frau in einer Menschenmenge und ist von ihrer Schönheit überwältigt. Sie ist in Begleitung eines anderen Mannes. Er verherrlicht den Moment der flüchtigen Begegnung mit ihr, stellt aber gleichzeitig fest, dass dieser Moment unwiederbringlich verloren ist und sie sich nie wieder nahe sein werden. James Blunts leidender Gesang lässt die unerfüllte Sehnsucht spüren. Vom Rolling Stones Musikmagazin wird You’re beautiful als einer der nervigsten Songs der Popgeschichte bezeichnet.  Gleichzeitig ist er ein Welterfolg. Ein nerviger Welterfolg. Ein Welterfolg wie der Weltschmerz.

Weltschmerz, ein naher Verwandter der Melancholie, fasziniert seit Jahrhunderten. Dürer hat einen Holzschnitt gemacht darüber, Cranach, Munch, Picasso und andere Bilder gemalt, Keller ein Gedicht geschrieben, Lars von Trier einen Film gedreht, Blunt ein Lied geschrieben. Der Weltschmerz lädt mich ein, sich in ihm einzunisten. Ich höre You’re beautiful und betäube mich. Ich trage den Schmerz dieser Welt. Ich bleibe hängen in ihm. Ich bin auf der Spätsommerwiese hängen geblieben. Ich klammere mich an diesen Moment auf der Spätsommerwiese, als hänge mein Leben an ihm, als gäbe es kein Leben mehr ohne ihn.

Weltschmerz auf der Spätsommerwiese

Ich fühle mich armselig. Ich will raus aus dem Weltschmerz. Ich habe Durst. Wahnsinnigen Durst. Das habe ich vor lauter Weltschmerz gar nicht bemerkt. Ich trinke Wasser und spüre die Erleichterung. Ich atme und giere nach Luft. Ich will raus aus dem Weltschmerz und rein in die Welt. An die frische Luft, um nach ihr zu schnappen. Ich setze einen Schritt vor den anderen, und mit den Schritten kommen folgende Gedanken:

Mann und Frau treffen sich. Der Plot jeder guten Geschichte. Der Moment der Momente. Singt nicht James Blunt über diesen Moment der Momente? Über das Wahrhaftigste des Wahrhaftigen? Ja, das tut er! Schön! – Er bleibt aber hängen in diesem Moment. Er versinkt im Weltschmerz. Nervig! Ich weiß nicht, was ich tun soll, singt er. Nicht denken. Einfach leben und handeln. Idiot! will ich ihm zurufen. Oder rufe ich mir das selbst zu?

Ich wandle vorbei an Bäumen im Herbstgewand. Die tiefe Sonne versinkt hinter ihnen. In diesem geheimnisvollen Licht geht eine Frau den Weg entlang. Ihr Kopf steckt unter einer Kapuze. Trotzdem erkenne ich sie. Ich rufe und laufe zu ihr. Es ist Lilith, tatsächlich! Wir umarmen uns, blicken uns in die Augen, und meine Blicke sagen zu ihr: Du bist schön, Lilith, es ist wahr! So einfach ist das: Mann trifft Frau, und die Welt ist schön. Ein Gefühl der Leichtigkeit. Das ist jetzt die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, sagt der Weltschmerz, aber ich höre ihn nicht.

Geborgte Familie

Renate sagt mir, sie will die Scheidung. Es trifft mich sehr. Ich bin mit Renate seit dreißig Jahren verheiratet. Seit fünfundzwanzig Jahren habe ich eine Beziehung mit Sophie. Ich lebe mit Sophie zusammen und bin mit Renate verheiratet. Das kann man komisch finden. Das haben die verschiedensten Leute immer wieder gesagt, dass sie das komisch finden, und manchmal fand ich es selber komisch. Aber meistens fand ich es gut, und ich finde es auch jetzt noch gut. Ich finanziere Renates Leben, und nicht zu knapp. Sie hat das Haus. Sie hat einen teuren Wagen. Sie bekommt eine Menge Geld von mir, jeden Monat. Ich halte sie aus. Sie lässt sich aushalten. Eine stillschweigende Vereinbarung. Bis jetzt. Und jetzt sagt sie mir, in Anwesenheit unserer beiden Kinder, dass sie die Scheidung will. Die Kinder sind erwachsen. Aber sie sind immer unsere Kinder. Maximilian schaut apathisch ins Leere, während Katharinas Gesicht rot anläuft vor Zorn. Alle drei warten sie auf eine Reaktion von mir: Renate, meine Frau, Maximilian und Katharina, meine Kinder. Doch ich bin geschockt von Renates Ansage, dass sie die Scheidung will. Ich fühle mich vollkommen hilflos und schweige.

Ich bin ins Nachkriegsdeutschland geboren worden, mitten in die noch immer zerstörte Stadt. Ich wurde gezeugt in einem Drecksloch, von meiner Mutter und einem Mann, der später nie mein Vater sein wollte. Ich wuchs auf in einem Drecksloch, allein mit meiner Mutter, die sich nie mehr leisten konnte als dieses Drecksloch, und schließlich gab sie mich weg, weil sie sich auch mich nicht mehr leisten wollte. Ich bin ein verwahrlostes Kind der Stadt, das sich durchgekämpft hat. Ich lernte Renate kennen, und mit ihr eine ganz neue Welt. Renate ist auf dem Land aufgewachsen, am See bei den Bergen, mit sechs Geschwistern, mit Mutter und mit Vater. Ich war fasziniert von der Geborgenheit in dieser Familie, die ich nie hatte. Ich wollte das nicht mehr hergeben. Renate und ich heirateten, und bald kam Maximilian auf die Welt. Ich erinnere mich an den Tag, an dem er geboren wurde: Ich war bei Renate und dem kleinen Baby im Krankenhaus. Als ich aus dem Krankenhaus ging, war ich sehr betrübt. Ich fuhr nachhause, wo ich alleine war, und besoff mich hemmungslos. Irgendetwas gefiel mir nicht an meiner Vaterschaft. Ich wollte keine Familie. Renates Familie, das war schön. Aber eine eigene Familie? Ich stürzte mich in der Folgezeit in meine Arbeit. Ich kämpfte mich nach oben und verdiente gutes Geld. Geld ist gut. Geld ist Macht. Mit der Freude am Geld vergaß ich meine Zweifel über mein Vaterdasein. Drei Jahre später kam Katharina zur Welt. Am Tag ihrer Geburt saß ich mit dem dreijährigen Maximilian zuhause, und sie kamen wieder, die Zweifel, mit aller Macht. Es waren keine Zweifel, es waren klare Gedanken: Ich will keine Familie! Ich fuhr mit Renate und den Kindern zu ihrer Familie, immer wieder, immer öfter, um mich abzulenken. Renate fragte mich, wieso ich denn dauernd bei ihrer Familie abhängen will, wo wir doch mit den Kindern eine eigene Familie hätten. Zuhause aber hielt ich es immer weniger aus. Die geborgte Familie war mir lieber als die eigene.

Dann wurde Sophie meine Sekretärin. Es wurde leidenschaftlich. Ich kam abends nicht vom Büro nachhause. Renate nahm es stillschweigend hin, bis es irgendwann klar war, dass ich mit Sophie zusammen bin. Ich zog mit Sophie in eine gemeinsame Wohnung. Aber mit Renate war ich verheiratet. Und mit Renate bin ich verheiratet, und wenn Renate jetzt sagt, sie will die Scheidung, dann trifft mich das unvorbereitet, denn ich will die Scheidung nicht. Renate ist meine Familie, auch wenn ich nie etwas getan habe für diese Familie. Ich habe nur das Geld gegeben und geglaubt, damit die Macht darüber zu haben, dass Renate sich nie von mir scheiden lässt. Renate sagt, dass sie nun endlich ihr eigenes Leben möchte und dass sie es nicht mehr erträgt, die Frau eines Mannes zu sein, der nie für sie da ist, der sich nur ihre Familie von ihr geborgt hat, der ihr zwei Kinder angedreht hat, die er nie haben wollte.

Ich sehe das Erschrecken in Maximilians Gesicht, der selbst gerade, nach langem Hin und Her mit seiner Partnerin, Vater geworden ist. Ich sehe Katharinas Verbitterung und Zorn in ihrem roten Gesicht. Ihre Blicke wollen mich zum Teufel wünschen. Ich fange an zu weinen wie der kleine Junge im Drecksloch, verlassen von seinem Vater, verlassen von seiner Mutter und verlassen von der Welt.