Weltschmerz auf der Spätsommerwiese

Lilith tanzt zwischen den Schafen auf der Spätsommerwiese. Ein Gefühl der Leichtigkeit liegt in der flirrenden Luft.

Das war vor einigen Wochen, als ich noch glaubte, dass der Sommer nie zu Ende geht. Nun ist er zu Ende gegangen. Ich ertappe mich dabei, dass ich – es fällt mir schwer, das zuzugeben – You’re beautiful von James Blunt höre. Bei diesem Hören denke ich an den Moment auf der Spätsommerwiese, und mich beschleicht ein sanfter Schmerz. Ich recherchiere über diesen Schmerz und stelle fest: Es ist ein „Schmerz über die Vergänglichkeit irdischer Herrlichkeit“, den ich fühle, ein Schmerz, den Heinrich Heine als Weltschmerz bezeichnet, und von dem die Brüder Grimm sagen, er sei eine „tiefe Traurigkeit über die Unzulänglichkeit der Welt“.

You’re beautiful ist mein aktueller Soundtrack zum Weltschmerz. Die Handlung des Songs: Ein Mann sieht eine Frau in einer Menschenmenge und ist von ihrer Schönheit überwältigt. Sie ist in Begleitung eines anderen Mannes. Er verherrlicht den Moment der flüchtigen Begegnung mit ihr, stellt aber gleichzeitig fest, dass dieser Moment unwiederbringlich verloren ist und sie sich nie wieder nahe sein werden. James Blunts leidender Gesang lässt die unerfüllte Sehnsucht spüren. Vom Rolling Stones Musikmagazin wird You’re beautiful als einer der nervigsten Songs der Popgeschichte bezeichnet.  Gleichzeitig ist er ein Welterfolg. Ein nerviger Welterfolg. Ein Welterfolg wie der Weltschmerz.

Weltschmerz, ein naher Verwandter der Melancholie, fasziniert seit Jahrhunderten. Dürer hat einen Holzschnitt gemacht darüber, Cranach, Munch, Picasso und andere Bilder gemalt, Keller ein Gedicht geschrieben, Lars von Trier einen Film gedreht, Blunt ein Lied geschrieben. Der Weltschmerz lädt mich ein, sich in ihm einzunisten. Ich höre You’re beautiful und betäube mich. Ich trage den Schmerz dieser Welt. Ich bleibe hängen in ihm. Ich bin auf der Spätsommerwiese hängen geblieben. Ich klammere mich an diesen Moment auf der Spätsommerwiese, als hänge mein Leben an ihm, als gäbe es kein Leben mehr ohne ihn.

Weltschmerz auf der Spätsommerwiese

Ich fühle mich armselig. Ich will raus aus dem Weltschmerz. Ich habe Durst. Wahnsinnigen Durst. Das habe ich vor lauter Weltschmerz gar nicht bemerkt. Ich trinke Wasser und spüre die Erleichterung. Ich atme und giere nach Luft. Ich will raus aus dem Weltschmerz und rein in die Welt. An die frische Luft, um nach ihr zu schnappen. Ich setze einen Schritt vor den anderen, und mit den Schritten kommen folgende Gedanken:

Mann und Frau treffen sich. Der Plot jeder guten Geschichte. Der Moment der Momente. Singt nicht James Blunt über diesen Moment der Momente? Über das Wahrhaftigste des Wahrhaftigen? Ja, das tut er! Schön! – Er bleibt aber hängen in diesem Moment. Er versinkt im Weltschmerz. Nervig! Ich weiß nicht, was ich tun soll, singt er. Nicht denken. Einfach leben und handeln. Idiot! will ich ihm zurufen. Oder rufe ich mir das selbst zu?

Ich wandle vorbei an Bäumen im Herbstgewand. Die tiefe Sonne versinkt hinter ihnen. In diesem geheimnisvollen Licht geht eine Frau den Weg entlang. Ihr Kopf steckt unter einer Kapuze. Trotzdem erkenne ich sie. Ich rufe und laufe zu ihr. Es ist Lilith, tatsächlich! Wir umarmen uns, blicken uns in die Augen, und meine Blicke sagen zu ihr: Du bist schön, Lilith, es ist wahr! So einfach ist das: Mann trifft Frau, und die Welt ist schön. Ein Gefühl der Leichtigkeit. Das ist jetzt die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, sagt der Weltschmerz, aber ich höre ihn nicht.