Ein Hund namens Doki

Ich mag Hunde mehr als Menschen, weil Hunde ein Gespür für sich selbst haben und Menschen ihr Gespür für sich selbst wegquatschen.

Ich bin im Stadtwald und gehe den Pfad entlang. Ich höre quatschende Menschen auf mich zukommen. Als sie sichtbar werden, erkenne ich zwei Frauen, die miteinander quatschen, und einen Mann, der mit seinem Handy quatscht. Flankiert werden sie von zwei Hunden. Kurz bevor wir aufeinandertreffen, ruft eine der Frauen mit hoher Stimme: Dooooki!
Nach ein paar Sekunden ruft der Mann, ohne von seinem Handy aufzusehen: Dooki!
Kurz darauf wiederholt sich das Schauspiel. Die Frau ruft Dooooki! und der Mann ein paar Sekunden später Dooki! (Ohne von seinem Handy aufzusehen)
Ich begreife: Doki ist der dritte Hund im Bund. Doch Doki kommt nicht.

Wir gehen aneinander vorbei, ohne dass ich von meinen Mitmenschen beachtet werde. Bemerken sie mich überhaupt? Sie rufen weiter Dooooki! und Dooki! Ich drehe mich um und sehe wie die Frau zwischen ihren Rufen mit der anderen Frau weiterquatscht und der Mann mit seinem Handy. Doch Doki kommt nicht. Ich verstehe Doki, dass er nicht kommt. Die Rufe gehen nicht an ihn. Sie gehen unter im Gequatsche. Sie sagen zu Doki: Komm doch her, damit wir in Ruhe weiterquatschen können und uns nicht mit dir beschäftigen müssen.

Doch Doki kommt nicht. Ihn nervt das Gequatsche genauso wie mich. Es hält ihn nur davon ab, seinem Gespür nachzugehen. Ich spüre Doki, wie er riechend die Welt erforscht, und ich liebe ihn dafür, dass er seinem Gespür nachgeht und nicht dem Gequatsche.

Apropos Gequatsche: Ich halte es nicht mehr aus. Es zerstört die Ruhe, die über dem schneebedeckten Winternachmittag liegt. Ohne weiter zu überlegen, meinem Gespür nachgehend, schreie ich mit lautem, strengem, bestimmtem Ton: DOKI!
Die quatschende Menschenbande verstummt, und für einen Moment habe ich Sorge, dass sie mich gleich als einen Irren beschimpft. Da biegt ein Hund in vollem Lauf aus dem Gebüsch.
Die Frau sagt: Komisch. Jetzt kommt er.

Wieso berührt mich der Tod von Franz Beckenbauer?

9. Januar 2024: Die tiefe Wintersonne scheint auf den Alten Peter vor mir, als ich über den Viktualienmarkt gehe. München hat mich gerettet. Diese Stadt ist das große Glück in meinem Leben.

Aus meiner Geburtsstadt Salzburg bin ich nach München geflüchtet. Ich brauche München, um ich zu sein.

Am Sonntag, den 7. Januar, ist Franz Beckenbauer in Salzburg gestorben. Am Montag, also gestern, kamen die Meldungen raus. Beckenbauer, die Medienfigur, vor seiner letzten großen Inszenierung: seinem Tod.

Ich dachte, der Tod Franz Beckenbauers würde mich nicht berühren. Aber er berührt mich. Sehr. Im Sommer 1974 hatte Beckenbauer als Anführer des FC Bayern München und der deutschen Fußball-Nationalmannschaft mit diesen beiden Mannschaften alles gewonnen, was man im Fußball gewinnen kann. Mit einer Leichtfüßigkeit, die ihn über allem schweben ließ. Neun Monate später wurde ich geboren. Und mit mir der Mythos Beckenbauer, der Mythos des Kaiser Franz. Mein Vater vermittelte mir, das alles Gute dieser Welt nicht an Franz Beckenbauer vorbeiführt. Alle, die das rote Trikot des FC Bayern überstreifen, spielen im Andenken an Franz Beckenbauer: Paul Breitner, Karl-Heinz Rummenigge, Klaus Augenthaler, die Idole meiner Kindheit – alles Mini-Beckenbauers. Natürlich wollte ich auch ein Mini-Beckenbauer werden, wie Thomas Müller es jetzt ist. Und natürlich wollte ich nach München.

Beckenbauer, der Giesinger Bua, war kurz nach meiner Geburt aus München nach New York geflüchtet. Als er nach einigen Jahren zurückkam, wohnte er nicht mehr in München, sondern bei Kitzbühel. Schließlich verschlug es ihn mit dritter Ehefrau und neuen Kindern nach Salzburg. In Salzburg wurde der Medienstar zum zurückgezogenen, alten, gebrechlichen Mann.

Damals, als ich nach München kam (Beckenbauer war gerade nach Salzburg gezogen), hatte ich Angst. Angst, dass sich der Mythos dieser Stadt als leere Hülle, als Franzelei, entlarven und ich daran zerbrechen würde. Schließlich hatte Beckenbauer seit meiner Geburt nie mehr in München gewohnt. Eine Stadt ohne ihren Star.

Stattdessen emanzipierte ich mich vom Mythos. Es half, das der Leibhaftige nicht da war. Ich durchschritt meine Täler, um zu mir selbst zu kommen. Ich will kein Mini-Beckenbauer mehr sein. Ich bin mir selbst genug. In München beendete ich meine Flucht vor mir selbst. Heute holt mich der Mythos noch einmal ein. Schließlich hat er mich nach München geholt, in die Stadt, die ich so sehr liebe. Weil sie mir so viel gibt. Und ich bereit bin, es zu nehmen.

Am Marienplatz liegt das Rathaus im gleißenden Sonnenschein. Dort, wo der FC Franz Beckenbauer seine Erfolge zelebriert. Das Licht blendet mich. Ich flüchte in die Katakomben der U-Bahn. Nach so viel Licht brauche ich Schatten. Der Kaiser, die Lichtgestalt, Mythos und mutmaßlicher Begründer meines Lebens, ist im Schatten der Salzburger Berge gestorben.

Königliches Krippenspiel à la Bach

Dieses Jahr an Weihnachten hörte ich zum ersten Mal die zweite Orchestersuite von Johann Sebastian Bach in voller Länge. Nicht nur das berühmte Menuett und die berühmte Badinerie am Ende, sondern die Ouvertüre am Anfang, das Rondeau, die Sarabande, die Bourrée und die Polonaise zur Mitte und am Ende das Menuett und die Badinerie. Dabei wurde mir klar, dass ich einen Soundtrack für die Weihnachtszeit in meiner Kindheit gefunden hatte.

Als Kind war ich ein begeisterter Krippenspieler. Am ersten Sonntag des Advent stellte ich die Krippe auf. Am Rand des Brettes steckte ich Tannenzweige in vorgebohrte Löcher, um einen Tannenwald rund um die Krippe zu simulieren. Eine alpenländische Krippe. In den Stall stellte ich den Ochsen mit seiner Futterkrippe. Nach und nach kamen die HirtInnen mit ihren Schafen vorbei. Eine ordinäre Landszene, die sich über die ganze Adventszeit hinzog. Eine lange Ouvertüre, wie in Bachs Suite. Ich versuchte sie durch leichte Änderungen im Arrangement zu verkürzen.

Zwei oder drei Tage vor Weihnachten kreuzten dann Maria und Josef mit ihrem Esel auf, um das Lager für die Geburt ihres Sohnes zu beziehen. Jetzt wurde es gemütlich im Tannenhain. Die HirtInnen holten Holz und machten Feuer, während der Ochs, trotz Gesellschaft des Esels, seine Futterkrippe hergeben musste. Josef machte daraus ein Bettchen für das zu gebärende Kind. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass es woanders gemütlicher gewesen wäre für Maria, die Gebärende. Das Rondeau der Suite untermalt diese Gemütlichkeit.

Dann, endlich: Heiliger Abend, dessen feierlichen Charakter die edle und ernste Sarabande unterstreicht. Sie wiegt das Neugeborene in den Schlaf, während die hirtige Krippengesellschaft zu den Klängen der Bourrée aus dem Feiern nicht herauskommt. Zu Sylvester wird dann sogar mit einer Polonaise aufgewartet, und der eine Woche alte Jesus wackelt schon wacker mit. Man wollte nicht aufhören zu feiern, aber damit sich der Kleine beruhigt, wird er zum Menuett in den Schlaf gewiegt.

Inmitten all dieser Feierlichkeiten fragte ich mich spätestens im polonaisschen Sylvestertrubel: Wo sind die heiligen KönigInnen? Wieso brauchen sie bis zum sechsten Januar, um den Stern zu deuten? So weise können sie nicht sein, wenn sie die ganzen Feierlichkeiten verpassen. Da waren die HirtInnen schlauer. Das Menuett machte mich melancholisch. Aber es half nicht: Erst am sechsten Januar kamen sie daher mit ihrem Dromedar, um der ganzen Gesellschaft eine würdevolle Krone aufzusetzen, umtermalt mit der wirbelnden Badinerie. Es war wie eine letzte Ekstase. Denn kaum war der letzte Klang verklungen, sagten sie schon: Bald kommt Herodes, der Kindermörder, um die Ecke.