Jacques, ich habe alles erreicht!

ein Gastbeitrag von Georg Stürzer

Damals, im beschaulichen Alpenvorland an der Salzach Anfang der 1990er-Jahre, war das Fernsehen mein einziges Tor zur großen Welt. Ich sah ihn, wie er als fescher Fiesling allen zeigte, dass ihm alles egal ist. Ich sah ihn in einer Welt, von der ich glaubte, sie niemals erreichen zu können.

Vielleicht kam ich auch wegen ihm 2005 nach München, um der Welt näher zu sein, von der ich immer geträumt hatte. 2019, ich hatte ihn und meine jugendliche Schwärmerei für ihn fast schon vergessen, führte uns das Leben zusammen. Ich wurde für eine Bühnenadaption von George Orwells 1984 engagiert, in dem er die Hauptrolle spielen sollte.

Vor der ersten Probe stand ich mit der Kollegin und den Kollegen vor dem Proberaum. Wir warteten auf ihn. Gleich würde er um die Ecke biegen. Ich konnte es nicht fassen, ihn nun leibhaftig kennenzulernen. Ich konnte nicht glauben, dass ich nicht träümte.

Müde und ermattet schlich er daher, er kam direkt aus Hamburg vom En-Suite-Spielen. Aber in seinen Augen glänzte noch der jugendliche Schalk, wie damals Anfang der 1990er-Jahre. Die Proben gestalteten sich schwierig. Er brach auf der Probebühne leibhaftig zusammen, und ich war nahe dem nervlichen Zusammenbruch, weil ich als Spätberufener noch ein Anfänger war. Dann aber, in einem wahren Kraftakt, riss er das Stück an sich, und er riss mich mit. Er spielte den kränklichen Winston Smith, der nicht glauben kann, was um ihn geschieht, mit einer Brillanz, die Magie auf die Bühne brachte.

Einmal, während unserer Reisen durch Deutschland, Österreich und die Schweiz, fragte er mich:
Georg, was hast du eigentlich für Ziele?
Ich habe keine Ziele mehr, Jacques. Ich stehe mit dir auf der Bühne. Ich habe alles erreicht.
Wir mussten beide lachen und weinen, weil es so wahr war.

Es war tatsächlich seine letzte Theaterproduktion. Für eine geplante zweite Tournee mit ihm reichte seine Kraft nicht mehr. Am 5. September ist Jacques Breuer, wie erst vor zwei Tagen öffentlich bekanntgegeben wurde, in München gestorben.

Genesung

Singen, sang, gesungen, sagte sie, nein, sie sagte es nicht, sie sang es, weil sie alles singt, sagt sie, und sie wolle ein Vorbild sein für mehr Gesang, jedenfalls bezeichnet sie die Laute, die aus ihrer Kehle kommen, als Gesang, und während sie ihre gesanglichen Laute in die Welt schmetterte, fragte ich mich, ob Sung ein Synonym für Gesang ist, außerdem fragte ich mich, ob man statt Singsang auch Singsung sagen kann, in meine Überlegungen hinein sagte sie, nein, sang sie, dass der Gesang in ihren Genen liegt, und sie sei froh darüber, denn die Welt könne am Gesang genesen, wenn die Welt mehr sänge. Bis dahin singe sie, sangsagte sie, und ich war froh, bei der nächsten Station auszusteigen, es lag mir auf den Lippen, ihr gute Genesung zu wünschen, doch ehe diese Worte meine Lippen verließen, wurde mir klar, dass es richtiger war, ihr guten Gene-Sung zu wünschen.

Sei ein Mensch!

München, Israelisches Konsulat, Barerstraße, kurz nach 9 Uhr heute Morgen: Der junge Mann läuft verwirrt umher und schießt ziellos umher.

Heute sehe ich ihn wieder: meinen Nazi-Großvater, wie er verwirrt umherläuft und ziellos umherschießt. Ziellos, weil er glaubt, wenn er andere trifft, trifft er sich selbst nicht. Die Vermeidung der Selbstbetroffenheit, denn die Wunde ist zu groß, um angeschaut zu werden. Deshalb klafft sie immer wieder auf.

Doch es muss doch das Ziel unseres Menschseins sein, diese Wunde anzuschauen und zu versorgen. Sei kein Islamist, sei kein Semitist, sei kein Germanist. Flüchte dich nicht, triff dich selbst.

Sei betroffen! SEI EIN MENSCH!