Lass mich mein grausames Schicksal beweinen…

So ist es eben: Kaum bin ich mit einem Text fertig, renne ich in die Natur oder ins Theater. Im Sommer normalerweise in die Natur, aber heute mache ich eine Ausnahme: Ich gehe ins Theater. Sie spielen eine Komödie über geldgierige Gesellen, die von Volpone, dem schlauen Fuchs, um ihr Geld gebracht werden. Eine willkommene Abwechslung für mich, der zur Tragödie neigt. Doch dann erwischen sie mich komplett am falschen Fuß. Sie treiben mir das Schwert in mein tiefstes Inneres. Sie eröffnen den Abend mit der Arie Lascia ch’io pianga aus Händels Oper Rinaldo:

Lascia ch'io pianga mia cruda sorte
e che sospiri la libertà.
Il duolo infranga queste ritorte
dei miei martiri, sol per pietà.

Lass mich mein grausames Schicksal beweinen
und beseufzen die verlorene Freiheit.
Das Leid zerbreche diese Ketten
meiner Qualen, allein aus Erbarmen.

Würdiger, ergreifender und genüsslicher als mit dieser Melodie ist niemals getrauert worden. Ein Fest des Selbstmitleids. Ein Schauspieler mimt auf der Bühne zur Toneinspielung den Sänger. Ein Drama, das mich völlig übermannt. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Es ist, als würden mir Fesseln angelegt. Mein Atem stockt. Mein Herz bleibt stehen. Die Bilder, sie kommen mit aller Gewalt, mit mir als zweijährigen Jungen: Das Krankenhaus, in dem ich wegen eines schweren Infekts in Quarantäne gehalten werde. Durch dickes Glas kann ich sie schemenhaft erkennen. Aber ich kann nicht zu ihnen, zu meinen geliebten Eltern. Ich stecke fest, festgeschnallt. Angst und Schrecken. Hoffnungslosigkeit. Hilflosigkeit. Es wird dunkel. Totaler Zusammenbruch. Totale Selbstaufgabe. Sterbe ich jetzt?

Ich versuche zu leben. Oder erwache ich gerade? Die Übelkeit im Magen. Meine angespannten Muskeln. Meine Tränen in den Augen. So schön können Tränen sein. Ich lebe. Ich lebe! Der Boden unter meinen Füßen. Der Sitz unter meinem Hintern. Die Lehne hinter meinem Rücken. Die Luft um meinen Kopf. Die Schauspieler auf der Bühne mit ihren Körpern voller Leben. Ich sehe sie. Ich freue mich, sie zu sehen. Voller Neugier beobachte ich, wo der Abend sie hinträgt.

Meine Hände klatschen. Ja, sie klatschen! Keine Fesseln mehr! Ich stehe auf. Ich bin frei, zu gehen! Ich renne aus dem Theater. Ich renne und renne so schnell ich kann und spüre meine Beine, wie sie mich tragen. Ich lache wie ein Schelm. Ich renne in die Natur, wo im Lindenwipfel des Mondes weiße Barke ruht.

So ist es eben: Kaum bin ich mit einem Text fertig, renne ich ins Theater oder in die Natur. Aber dass ich mit diesem Text fertig bin, erfüllt mich mit einer bisher nicht gekannten Zufriedenheit.

Volpone am Volkstheater München

Pasolini und der frühe Tod

Ich bin in den Siebzigerjahren geboren, sagt Vorderbrandner, in jenem Jahrzehnt, in dem die Menschheit ihre Freiheit entdeckte, von der sie heute weitgehend wieder abgerückt ist.

Gelebt aber habe ich davor schon, sagt Vorderbrandner, und ich weiß, dass ich mittendrin war in diesem Aufbruch in die Freiheit. Ich war in Italien und sah den Film Teorema – Geometrie der Liebe, den Pasolini gerade herausgebracht hatte:

Nach dem Kino traf ich mich mit Pasolini und sagte zu ihm: „Pier Paolo, was für ein wunderbarer Film, den du da gemacht hast! Ein Film wie ein Gemälde! Mit einer Symbolik, die keiner Worte bedarf! Außerdem trifft er das Bürgertum ins Mark, zeigt ihm seine Befangen- und Gefangenheit!“
„Ich hasse das Bürgertum!“ sagte Pasolini, nein, er schrie es mehr: „Ich hätte diesen Film nicht machen sollen! So viel Aufmerksamkeit für solche Idioten!“
„Er trifft die Kirche ins Mark“, meinte ich weiter, „indem du einen modernen Jesus schickst, der den Leuten ihre Freiheit zeigt!“
„Ich hasse die Kirche und ihre verlogene Moral! Nein, ich hätte diesen Film nicht machen sollen!“ entgegnete Pasolini mit starrem Blick. Ich sah so etwas wie Traurigkeit in seinem Gesicht und hatte den Eindruck, als wolle er nur weg, weg, weg. Aber wohin?

Ich sprach weiter und sagte: „Eines verwirrt mich: Warum ist dein moderner Jesus ein Mann? Hätte er nicht genauso gut eine Frau sein können? Außerdem werden die durch ihn befreiten Frauen ziemlich verrückt, während sich die befreiten Männer der Kunst und der Spiritualität zuwenden. Gestehst du den Frauen diese Freiheit nicht zu?“

Pasolini rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. Dann wurde er ruhig, so als hätte er sich gesammelt, und sagte mit nachdenklichem Blick: „Nur die Männer können die Erlöser sein. Die Frauen sind Gefangene. Gefangene dieser Gesellschaft.“

Ich erwiderte nichts. Ich sprang auf und rannte davon, so schnell ich konnte. Während des Rennens wurden meine Gedanken klar, und ich erkannte, was der Unterschied zwischen mir und Pasolini ist: Er sieht die Männer als Erlöser, ich die Frauen. Hätte ich damals nur gewusst, dass man nur sein eigener Erlöser sein kann! Ich rannte und rannte, bis ich schließlich an einen Strand gelangte. Dort sah ich über das Meer in die untergehende Sonne. Das Gespräch mit Pasolini hatte mich derart aufgewühlt, dass ich nicht mehr wusste wohin mit mir. Da kamen ein paar Leute und erlösten mich. Sie hatten Stoff dabei. In meiner Überdrehtheit und Euphorie nahm ich viel zu viel davon, und so endete mein Weg in die Freiheit frühzeitig.

Jahre später, sagt Vorderbrandner, wurde ich neu geboren, mit all der Verwirrtheit, die mir mein altes Leben hinterlassen hat.

Arm und reich und Claude Penet

In Zeiten des Raubtierkapitalismus, in denen immer weniger immer mehr haben, passieren einem seltsame Dinge. So sah ich kürzlich einen Reichen, der unter lauten Armen stand und sagte: Ich fühle mich umarmt.

Da dachte ich an Claude Penet, der sicher auch arm gewesen ist. Claude Penet hat nämlich sein Essen extrem rationiert. Er aß immer nur kleinste Portionen. Manche sagen, er war nicht arm, sondern er fühlte sich zu dick und hat sich deshalb nur kleinste Rationen gegönnt. Wie auch immer – seit Claude Penet sagt man, wenn man nur eine kleinste Portion von einem Gericht zu sich nehmen will: Ich hätte gerne eine Penetration.

Was mach ich bloß an dieser Stelle?

Wir stecken fest. Beide, glaube ich. Zumindest bei mir bin ich mir sicher. Wir reden Worte, die nichts bedeuten. Wir bemühen uns, durch Gerede voranzukommen, kommen aber nicht vom Fleck. Wie denn auch? Alles was da ist, sind Gefühle, und Gefühle in Worte zu kleiden hat noch nie funktioniert. Sonst wären sie ja Gedanken. Die Gefühle stecken in unseren Körpern fest. Unsere Körper, die uns vielleicht helfen könnten, sind eingefroren. Unfähig, ihre Gefühle auszudrücken, sich zu bewegen, sich aufeinander zuzubewegen.

Ich träume davon, wie unsere Gefühle losgelassen werden und unsere Körper sich umschlingen, wie wir nacheinander greifen, um uns selbst zu begreifen. Wie alles fließt und unsere Tränen der Erleichterung fließen, weil alle Gefühle losgelassen sind, die uns bisher gefangen genommen haben. Ich bin die Angst, die Angst vor mir, wenn du dich fürchtest, bin ich bei dir, sage ich zu dir im intensivsten Augenblick unseres Umschlungenseins, und ich weiß, dass ich damit Blumfeld zitiere, doch nie war ein Zitat so wahrhaftig wie dieses. Spürst du, dass ich bei dir sein will? Nein, ich will mich nicht vor meiner Angst verkriechen, wie ich das schon so oft getan habe, nein, ich will durch sie hindurchgehen und mich dir zeigen, ohne Angst zu haben, dass du erschrickst und davonläufst. Denn davor habe ich die größte Angst: dass du davonläufst, du, durch die ich endlich zu mir komme. Ich bin nicht die Angst, nein, ich bin der, den ich durch dich erkenne.

Was mach ich bloß an dieser Stelle, an der wir uns so nahe sind? Wo ich mich kreuz und quer zerstreue, und längst noch nicht zu mir gekommen bin?