Ein Tankwart namens Dankwart

Es überraschte mich, als mich an der Tankstelle ein Mensch fragte, ob er mein Auto betanken könne. Denn heutzutage trifft man selbst an Kassen immer seltener Menschen, die einen fragen, ob sie Geld kassieren können. Man kommuniziert und handelt mehr und mehr mit elektronischen Maschinen.

Es war also eine Begegnung mit Seltenheitswert, als mich der Mensch an der Tankstelle fragte, ob er mein Auto betanken könne. Ich bejahte, und während er den Stutzen in die Tanköffnung beförderte und der Diesel zu fließen begann, sagte ich zu ihm:

Sie sind also Tankwart?

Ja ich bin Tankwart wie Theodor und heiße Dankwart wie Dora.

Ich hatte es mit einem auskunftsfreudigen Tankwart zu tun, der mir, ohne gefragt zu werden, seinen Vornamen nannte. Seinen Vornamen, der natürlich originell war, denn als Tankwart Dankwart zu heißen – das ist etwas, was mich aufmerksam machte.

Dankwart, der Tankwart, bemerkte meine Aufmerksamkeit und referierte weiter:

Ich heiße Dankwart Dobler, obwohl mein Vater wollte, dass ich Dankwart Danninger heiße.

Wieso wollte ihr Vater, dass sie Dankwart Danninger heißen?

Er hätte mich dann nach meinen Initialen DaDa genannt. Mein Vater ist großer Anhänger des Dadaismus.

Und wieso heißen Sie dann nicht Dankwart Danninger?

Weil meine Mutter es nicht wollte. Meine Mutter, Dorothea Dobler, geborene Danninger, ist Traditionalist und kann mit dem Dadaismus meines Vaters nichts anfangen. Sie wollte, dass mein Vater, Dagobert Dobler, und sie heiraten, und sie – ganz klassisch – den Namen meines Vaters annimmt. Mein Vater stimmte einer Heirat – ganz undadaistisch – zu, wollte aber den Namen meiner Mutter annehmen, um Dagobert Danninger zu heißen und sich DaDa nennen zu können. Das war für meine Mutter aber außerhalb ihres Möglichkeitsraums. So gab mein Vater nach und meine Eltern heißen Dagobert und Dorothea Dobler.

Ich war verwirrt von DaDa, DaDo und DoDa. Als ich wieder klarer wurde, dachte ich mir, dass sich Dorothea Dobler DoDo nennen könnte. Aber wenn Dago Dobler seine Doro Dodo nennen würde, wäre das sicher eine große Belastung für ihre Ehe. Und außerdem: Wer will sich schon nach einem ausgestorbenen Vogel benennen oder benannt werden, dem seine Dummheit sein Leben kostete. Da wäre es schon besser, wenn Dagobert Dobler Dagobert Danninger hieße und sich DaDa nennen könnte.

Der Tank war längst gefüllt, als Dankwart Dobler, vaterlicherseits gewollter Danninger, der Tankwart, mich fragte:

Und wer sind Sie?

Ich? Ich heiße Emil. Emil Hinterstoisser.

Emil Hinterstoisser? Der berühmte Schriftsteller?

Ich? Berühmt?

Natürlich! Könnten Sie mir ein paar Zeilen aufschreiben?

Dankwart Dobler gab mir einen kleinen Zettel, auf den ich ganz schlicht schrieb:

ein Tankwart namens Dankwart
hat mein Auto betankt
und ich habe mich
bei Dankwart dem Tankwart
dafür bedankt

Ich war schon in den Wagen gestiegen, als mir Dankwart nachrief:
Mein Schwester hat einen Doppelnamen – sie heißt Dolores-Daisy Dobler. Vielleicht können Sie das nächste Mal ein paar Zeilen für sie schreiben!

Die Welt ist femininer geworden

Uteto Fritz, einst als Sprachenergetiker tätig und nun als ein der Sprache Abgewandter lebend, sagt: Die Welt ist femininer geworden, denn heutzutage labern Männer mindestens genau so viel wie das traditionellerweise Frauen tun.

Das Weibliche strebt tendenziell nach Fülle, während das Männliche tendenziell nach Leere strebt. Durch die Überbetonung des Verbalen in unserer Kultur suchen wir im vielen Labern nach Fülle. Männer, die viel labern, sind also feminine Männer, die im Labern nach Fülle suchen, referierte Uteto Fritz, ungewohnt gesprächig.

Ich habe mit Miriam viel gelabert, sagt Uteto Fritz, weil ich unsere Beziehung damit füllen wollte. Ich traute mich nicht mehr in die Leere, obwohl es mich zur Leere hinzog. Ich hatte Angst, durch die Leere Miriam zu verlieren. Ich glaubte, durch das Labern die Liebe wecken zu können. Doch nach dem Labern hatte ich das Gefühl, dass ich einen Haufen Unsinn von mir gegeben hatte und überhaupt nicht bei mir selbst geblieben war. Ich warf mir jedesmal vor, dass ich Miriam bei meinem Gelaber kaum in die Augen geschaut habe. Dabei sagen Augen viel mehr als Münder.

Ich besann mich meiner Männlichkeit und ging tief in den Wald, um die Leere zu suchen. Die Schritte fielen mir anfangs schwer, denn jeder Schritt tiefer in den Wald kam mir vor wie ein Schritt weg von Miriam. Miriam ist sicher in der Stadt und vergnügt sich in der Fülle, dachte ich mir, während ich in der Leere herumirre. Ich ging auf verschlungenen Pfaden die Anhöhe hoch, von wo ich auf den See blickte, dessen Wasser in der Sonne glänzte. Tief entleert fuhr ich in die Stadt zurück, beseelt vom Gedanken, wieder nahe bei Miriam zu sein. Doch der Abend war ein leerer, als wäre ich im Wald geblieben.

Am nächsten Tag trafen wir uns, und Miriam erzählte aufgeregt, dass sie gestern am See gewesen war, am See, dessen Ufer von hügeligen Wäldern umrahmt sind und dessen Oberfläche in der Sonne glänzte. Ihre Augen glänzten, während sie das sagte. Ich wollte meinen Mund halten, konnte es aber nicht und fragte:
An welchem See warst du? Am Zeller See?
Ja, so heißt er: Zeller See. Genau. Woher weißt du das?
Ich war auch dort. Ich war auf der Anhöhe über den hügeligen Wäldern und sah auf das Wasser, das in der Sonne glänzte.
Miriam öffnete leicht ihren Mund, als wollte sie etwas sagen, aber sie konnte ihn halten. Wir sahen uns in die Augen, und ich glaube, wir haben uns noch nie so viel gesagt wie in diesem Moment. Ich dachte daran, dass ich oben auf der Anhöhe glaubte, weit weg zu sein von Miriam. Dabei war sie ganz nahe unten am See gewesen. Ich spürte Tränen in meinen Augen.

Unsere Augenblicke verlangten nach Nähe. Doch dann sagte Miriam etwas Belangloses, dass ich schon wieder vergessen habe. Ich merkte, wie wir in leeres Gelaber verfielen. War uns die Nähe der Augenblicke zu tief, sodass wir ins Seichte flüchten mussten? Ich ging und wollte zurück in den Wald, obwohl jeder Schritt schwer fiel nach der Fülle, die ich gerade erlebt hatte.

Abends vor dem Schlafengehen

Manchmal, abends vor dem Schlafengehen, wenn die Sehnsucht nach dir unerträglich scheint, traue ich mich nicht, die Augen zu schließen, aus Angst, dich dadurch zu verlieren.

Ich öffne das Fenster und sehe hinauf zu den fernen Sternen. Dann spüre ich, dass wir uns nahe sind.

Ein sanftes Lied wiegt mein Herz in den Schlaf, weil es bei dir ist.

 

Ttiche

Schon die Gattung der Gele sorgt für Verwirrung, werden doch in ihr unterschiedlichste Arten der Fauna wie Egel, Igel und Vogel zusammengefasst. Doch bei der Gattung der Tiche ist die Verwirrung noch größer, denn hier werden Arten aus Fauna und Flora unter einen Hut gebracht, Arten wie Sittich, Lattich und Rettich.

Strenggenommen handelt es sich hierbei nicht um die Gattung der Tiche, sondern der Ttiche. Die Schreibweise mit tt am Wortanfang ist hierbei zwar eine ungewöhnliche, aber die korrekte. Nachdem wir also die Semantik der Gattung an sich geklärt haben, können wir uns nun den einzelnen Arten zuwenden: dem Sittich, dem Lattich und dem Rettich. Hier fällt sofort auf, dass die Vorsilben si, la und re wie Ausschnitte aus der solmisatorischen Tonleiter do re mi fa so la ti do erscheinen. Und in der Tat sind die Ttiche in dieser solmisatorischen Ordnung klassifiziert. Der Sittich ist in dieser Ordnung eine artfremde Art, doch dem Lattich und dem Rettich sind noch die Arten Dottich, Mittich, Fattich, Sottich und Tittich hinzuzufügen.

Womit wir zu der Herkunft der einzelnen Ttich-Arten kommen, die sich aus den bisherigen Überlegungen leicht feststellen lässt: Der Dottich kommt aus Dortmund, der Rettich aus Recklinghausen, der Mittich aus Minden, der Sottich aus Soest und der Lattich aus Landshut. Es fällt auf, dass eine große Konzentration der Ttiche im Nordrhein-Westfälischen herrscht, einzig der Lattich kommt aus dem bayrischen Landshut. Eine große Ausnahme bildet der Fattich, der nicht aus Deutschland, sondern aus der Türkei kommt, wo er unter der Schreibweise Fatih bekannt ist.

Übersichtstabelle
Herkunft der Ttiche

DO  Dortmund        Dottich
RE  Recklinghausen  Rettich
MI  Minden          Mittich
SO  Soest           Sottich
LA  Landshut        Lattich

FA  Türkei          Fatih

Die Herkunft des Tittich hingegen ist nicht geklärt und muss noch erforscht werden. Viele Ttichologen schlagen deshalb vor, den Tittich als artfremde Art zu klassifizieren und das solmisatorische Klassifizierungssystem von do re mi fa so la ti do zu do re mi fa so la si do zu ändern, womit der Sittich zu einer originären Art der Ttiche hochklassifiziert werden würde. Der Sittich, der im übrigen aus Siegen kommt, einer Stadt, die ebenfalls in Nordrhein-Westfalen liegt.

Sehr kontrovers ist die Diskussion über eine weitere artfremde Art der Ttiche, über den aus Bochum kommenden Bottich, da er als Ding weder der Fauna noch der Flora zugerechnet werden kann, was unter Ttichologen zu hitzigen Debatten führte, ob er unter der Gattung der Ttiche geführt werden kann.

Ein Hund namens Doki

Ich mag Hunde mehr als Menschen, weil Hunde ein Gespür für sich selbst haben und Menschen ihr Gespür für sich selbst wegquatschen.

Ich bin im Stadtwald und gehe den Pfad entlang. Ich höre quatschende Menschen auf mich zukommen. Als sie sichtbar werden, erkenne ich zwei Frauen, die miteinander quatschen, und einen Mann, der mit seinem Handy quatscht. Flankiert werden sie von zwei Hunden. Kurz bevor wir aufeinandertreffen, ruft eine der Frauen mit hoher Stimme: Dooooki!
Nach ein paar Sekunden ruft der Mann, ohne von seinem Handy aufzusehen: Dooki!
Kurz darauf wiederholt sich das Schauspiel. Die Frau ruft Dooooki! und der Mann ein paar Sekunden später Dooki! (Ohne von seinem Handy aufzusehen)
Ich begreife: Doki ist der dritte Hund im Bund. Doch Doki kommt nicht.

Wir gehen aneinander vorbei, ohne dass ich von meinen Mitmenschen beachtet werde. Bemerken sie mich überhaupt? Sie rufen weiter Dooooki! und Dooki! Ich drehe mich um und sehe wie die Frau zwischen ihren Rufen mit der anderen Frau weiterquatscht und der Mann mit seinem Handy. Doch Doki kommt nicht. Ich verstehe Doki, dass er nicht kommt. Die Rufe gehen nicht an ihn. Sie gehen unter im Gequatsche. Sie sagen zu Doki: Komm doch her, damit wir in Ruhe weiterquatschen können und uns nicht mit dir beschäftigen müssen.

Doch Doki kommt nicht. Ihn nervt das Gequatsche genauso wie mich. Es hält ihn nur davon ab, seinem Gespür nachzugehen. Ich spüre Doki, wie er riechend die Welt erforscht, und ich liebe ihn dafür, dass er seinem Gespür nachgeht und nicht dem Gequatsche.

Apropos Gequatsche: Ich halte es nicht mehr aus. Es zerstört die Ruhe, die über dem schneebedeckten Winternachmittag liegt. Ohne weiter zu überlegen, meinem Gespür nachgehend, schreie ich mit lautem, strengem, bestimmtem Ton: DOKI!
Die quatschende Menschenbande verstummt, und für einen Moment habe ich Sorge, dass sie mich gleich als einen Irren beschimpft. Da biegt ein Hund in vollem Lauf aus dem Gebüsch.
Die Frau sagt: Komisch. Jetzt kommt er.

Wieso berührt mich der Tod von Franz Beckenbauer?

9. Januar 2024: Die tiefe Wintersonne scheint auf den Alten Peter vor mir, als ich über den Viktualienmarkt gehe. München hat mich gerettet. Diese Stadt ist das große Glück in meinem Leben.

Aus meiner Geburtsstadt Salzburg bin ich nach München geflüchtet. Ich brauche München, um ich zu sein.

Am Sonntag, den 7. Januar, ist Franz Beckenbauer in Salzburg gestorben. Am Montag, also gestern, kamen die Meldungen raus. Beckenbauer, die Medienfigur, vor seiner letzten großen Inszenierung: seinem Tod.

Ich dachte, der Tod Franz Beckenbauers würde mich nicht berühren. Aber er berührt mich. Sehr. Im Sommer 1974 hatte Beckenbauer als Anführer des FC Bayern München und der deutschen Fußball-Nationalmannschaft mit diesen beiden Mannschaften alles gewonnen, was man im Fußball gewinnen kann. Mit einer Leichtfüßigkeit, die ihn über allem schweben ließ. Neun Monate später wurde ich geboren. Und mit mir der Mythos Beckenbauer, der Mythos des Kaiser Franz. Mein Vater vermittelte mir, das alles Gute dieser Welt nicht an Franz Beckenbauer vorbeiführt. Alle, die das rote Trikot des FC Bayern überstreifen, spielen im Andenken an Franz Beckenbauer: Paul Breitner, Karl-Heinz Rummenigge, Klaus Augenthaler, die Idole meiner Kindheit – alles Mini-Beckenbauers. Natürlich wollte ich auch ein Mini-Beckenbauer werden, wie Thomas Müller es jetzt ist. Und natürlich wollte ich nach München.

Beckenbauer, der Giesinger Bua, war kurz nach meiner Geburt aus München nach New York geflüchtet. Als er nach einigen Jahren zurückkam, wohnte er nicht mehr in München, sondern bei Kitzbühel. Schließlich verschlug es ihn mit dritter Ehefrau und neuen Kindern nach Salzburg. In Salzburg wurde der Medienstar zum zurückgezogenen, alten, gebrechlichen Mann.

Damals, als ich nach München kam (Beckenbauer war gerade nach Salzburg gezogen), hatte ich Angst. Angst, dass sich der Mythos dieser Stadt als leere Hülle, als Franzelei, entlarven und ich daran zerbrechen würde. Schließlich hatte Beckenbauer seit meiner Geburt nie mehr in München gewohnt. Eine Stadt ohne ihren Star.

Stattdessen emanzipierte ich mich vom Mythos. Es half, das der Leibhaftige nicht da war. Ich durchschritt meine Täler, um zu mir selbst zu kommen. Ich will kein Mini-Beckenbauer mehr sein. Ich bin mir selbst genug. In München beendete ich meine Flucht vor mir selbst. Heute holt mich der Mythos noch einmal ein. Schließlich hat er mich nach München geholt, in die Stadt, die ich so sehr liebe. Weil sie mir so viel gibt. Und ich bereit bin, es zu nehmen.

Am Marienplatz liegt das Rathaus im gleißenden Sonnenschein. Dort, wo der FC Franz Beckenbauer seine Erfolge zelebriert. Das Licht blendet mich. Ich flüchte in die Katakomben der U-Bahn. Nach so viel Licht brauche ich Schatten. Der Kaiser, die Lichtgestalt, Mythos und mutmaßlicher Begründer meines Lebens, ist im Schatten der Salzburger Berge gestorben.

Welt Wer Worte