Das Blut an meinen Händen

Der Moment als wir uns berührten, ich spüre ihn mit jeder Faser meines Körpers. Ich strich mit meinen Fingern durch deine Haare, dann machte ich, zu meiner großen Überraschung, dein rechtes Ohr frei und beknabberte es mit meinem Mund. Mich durchzuckte es am ganzen Körper, du zittertest und ließt einen unkontrollierten Schrei von dir. Meine Leitungen von und zu meinem Herz waren offen, deine Leitungen von und zu deinem Herz waren offen. Alles strömte von dir zu mir und von mir zu dir.

Ich war tief beeindruckt. Gleichzeitig war ich tief erschrocken. Ich wankte durch meine starken Gefühle, die dieser Moment in mir geweckt hatte. Um mein Wanken, das sich bedrohlich anfühlte, kontrollieren zu können, redete ich mir ein, dass du genauso tief beeindruckt sein musst, wenn nicht sogar tiefer. Gleichzeitig redete ich mir ein, dass du genauso tief erschrocken sein musst wie ich, wenn nicht sogar tiefer. Dass du deshalb dein Herz verschließt, um zukünftige Momente zwischen uns beiden zu verhindern.

Ich selbst kam dabei ins seichte Wasser. Jegliche Tiefe des Moments ging verloren. Ich kontrollierte meine Gefühle, verschloss dabei aber, ohne es zu bemerken, mein Herz. Mein verschlossenes Herz wurde traurig und tat mir weh, doch um den Schmerz zu betäuben wurde ich zornig, ich glaubte, das Recht zu haben, auf dich zornig zu sein: DU hast dein Herz verschlossen, DU verhinderst das Fließen der Liebe zwischen uns.

In einem Moment des Jähzorns ging ich auf dich los und stach tief in dein Herz. Das Blut an meinen Händen, es war von dir. Ich habe es nicht selbst vergossen, ich war zu feige, zu verdrossen, ich brauchte dich dafür:

Der Moment als wir uns berührten, ich spüre in mit jeder Faser meines Körpers. Ich kann mir mein Leben nicht mehr vorstellen ohne diesen Moment. Ich fabulierte viele Worte, um diesen Moment festzuhalten, bis ich spürte, dass ich mich an die vielen Worte klammere, weil ich zu gierig und feige bin um loszulassen.

Das ist deine Geschichte, die ich niemals schreiben kann. Alles was ich weiß, weiß ich von dir. Gestern träumte ich, dass wir fliegen, durch den weiten Himmel. Ich glaube unsere Herzen waren offen.

Leidenskultur

Unsere Kultur leidet gerne, sagt Vorderbrandner, Leben muss Leiden sein, Leiden ist erträglicher als Selbsterkennen. Jean-Luc Godard war ein genialer Leidender, ein genialer Bewahrer unserer Kultur:

Krank in Kallstadt

Vorderbrandner, dessen Aufenthaltsort mir seit einiger Zeit unbekannt gewesen war, hat mir vor einigen Tagen eine Nachricht übermittelt, in der er schreibt, er sei im Exil, er schreibt, er sei ein heterosexueller weißer Mann und fühle sich unwohl in seiner bleichen Haut, er fühle sich einer Minderheit angehörig, die von der Gesellschaft nicht mehr akzeptiert werde, einer Minderheit, die über die Jahrhunderte großen Schaden angerichtet habe und die für diesen Schaden, den sie angerichtet hat, nun büßen muss.

Außerdem stellt er in seinem Exil gerade fest, dass er sich zum Weiblichen extrem hingezogen fühle, nicht weil er ein schlechter Mann sein wolle, sondern weil er das Weibliche verehre, er sei eben ein heterosexueller Mann, und durch sein Testosteron könne er das Weibliche von Weitem riechen, er müsse ihm nachgehen, davon halte ihn auch das Exil nicht ab, das Exil, für das er die Pfalz gewählt habe, er wisse nicht warum, er sei einfach in die Pfalz gefahren und halte sich im Moment in der Nähe von Bad Dürkheim auf, in einer Ortschaft namens Kallstadt, und erst als er in Kallstadt angekommen sei habe er von einer lokal ansässigen Frau, die er erspürt habe, erfahren, dass hier der Großvater und die Großmutter von Donald Trump geboren seien, von Donald Trump, der auch meiner Spezies angehört, der Spezies des weißen heterosexuellen Mannes, die großen Schaden angerichtet habe, ich weiß nicht wieso ich genau in Kallstadt gelandet bin, aber ich bin nun mal in Kallstadt und werde hier bis auf Weiteres bleiben, schreibt Vorderbrandner, ich habe ein Lied gefunden, das zu meiner Situation passt, schreibt er weiter, und ich tanze ekstatisch zu seinem Rhythmus, bis ich mich selbst wieder gefunden habe, ich mich nicht mehr krank fühle und meine Existenz soweit akzeptieren kann, dass ich mich als Minderheit in die Gesellschaft da draußen wieder eingliedern kann:

Chaosmose

Am hellen Tag fiel ich in tiefen Schlaf, die Sonne schien auf mein Gesicht und erhellte meine Welt, eine andere Welt als die die ich bisher kannte, ich erfand mich neu ohne dass ich es wollte, etwas befreite mich von dem was ich sein zu müssen glaubte, es war, als ob ich mir selbst entkam um neu geboren zu werden:

Wenn am sprudelnden Wasser des Borns…

Ohne zu recherchieren wo ich hinfahre, fuhr ich nach Borna. Während der Fahrt hatte ich viel Zeit, mir Gedanken zu machen, und so machte ich mir den Gedanken, dass Borna die weibliche Form von Born ist, wobei Born, das habe ich gerade eben recherchiert, die historisierend-poetische Bezeichnung für einen Brunnen ist, wonach eine Borna ein weiblicher Born wäre, eine Brunnena. Zugleich fiel mir jedoch in den Gedanken, den ich mir gemacht hatte, ein anderer Gedanke, nämlich dass es einen professionellen Fußballspieler gibt, der Borna Sosa heißt. Borna ist also kein weiblicher Brunnen, sondern ein männlicher Vorname.

Borna erreichte ich über die Autobahn bei strömendem Regen, ich fuhr ins dortige Krankenhaus, um meinen Wagen einem Arzt zu übergeben, ich fragte den Arzt, ob ich selbst mich ihm auch übergeben kann, ich erläuterte ihm, wie mich die Gedanken, die ich mir mache, quälen, er sagte, er sei kein Gedanken-Arzt, und außerdem hatte er nicht erwartet, mich zu übernehmen, sondern nur den Wagen. So ging ich bei strömendem Regen vom Krankenhaus zum Bahnhof, ein Marsch von fast drei Kilometern, der Zug kam pünktlich, es hielt mich nicht in Borna, ich hoffte, meine Gedanken dortzulassen, doch in Leipzig angekommen, wo ich die Bahn am Wilhelm-Leuschner-Platz am südlichen Ende der Altstadt verließ, um die selbige bis zum Hauptbahnhof an ihrem nördlichen Ende gehend zu durchqueren, machte ich mir neue Gedanken, ich fragte mich, wo ich bin, ja, Leipzig ist mir ein Begriff, aber mehr nicht, ich ging wie ein Fremder, fast wie ein Außerirdischer durch die Stadt und beschloss, nicht zu bleiben, ein Begriff, dachte ich, die Gesamtheit wesentlicher Merkmale in einer gedanklichen Einheit, der geistige, abstrakte Gehalt von etwas, während der Zug aus dem Leipziger Hauptbahnhof ausrollte, in Erfurt stieg ich wieder aus, wieder stapfte ich durch die Stadt, über die Gera bis zum Dom und zurück, wieder war ich ein Fremder, es regnete übrigens wie in Strömen wie in Borna, während der Regen in Leipzig Pause gemacht hatte, wie ein Ferngesteuerter betrat ich den Bahnsteig, bestieg den Zug, der Zug rauschte mit fast dreihundert Kilometern pro Stunde durch etliche Tunnels durch den Thüringer Wald, ist das der moderne Mensch, der durch die Gegend rauscht um niemals anzukommen, und wenn er ankommt, ist er ein Fremder, fast wäre ich in Nürnberg, dem nächsten Halt, ausgestiegen, um wieder ein Fremder zu sein, aber ich ließ es sein, ich blieb im Zug und fuhr weiter nach München, in der Hoffnung, dort kein Fremder zu sein, aber auch hier war ich ein Fremder, diesen Gedanken machte ich mir zumindest, ich war müde und erschöpft und hatte keine Lust mehr, mir Gedanken zu machen, aber ich machte sie mir, da kam ich an einem sprudelnden Born vorbei, ich wusch mir das Gesicht und fühlte mich zuhause, ich merke jetzt, wo ich das schreibe und mir wieder Gedanken mache, dass zuhause der falsche Begriff ist, ein abstrakter geistiger Gehalt, der an meinem Leben vorbeigeht.

Ohne zu recherchieren wo ich hinfahre, fuhr ich nach Borna…

Welt Wer Worte