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Treppe
Rilke ist als Dramatiker gescheitert. Warum? Die Antwort hat er sich selbst gegeben:
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
(Rainer Maria Rilke aus: Mir zur Feier)
Hört auf das Wesen der Erscheinungen, anstatt sie mit Worten festzunageln, sprach er, und nagelte sein eigenes Leben mit Worten fest. Ist das ideale Rilke-Stück eine Choreographie des Schweigens?
Zunächst weiß ich nicht, ob ich an dich oder über dich schreiben soll. Es ist beides falsch und beides richtig. Vielleicht schreibe ich immer nur an mich und über mich. Ich an diesem sonnigen Freitag im Herbst, an dem ich dich vermisse. An diesem Freitag, der ein Feiertag ist, ein Volk feiert seine Einheit und ist in Liebe. Oder nicht? Dich sehe ich nicht heute, an diesem Feiertags-Freitag.
Siehst du mich, wenn wir uns sehen? Oder siehst du an mir vorbei, an eine Stelle, die ich nicht kenne? Ich glaube jedenfalls dich zu sehen, von Montag bis Freitag, wenn ich vorbeigehe an deiner Tür und blicke, manchmal blickst du zurück, aber heute nicht, heute ist Freitag der Feiertag, ein besonderer Freitag, ein Volk tümelt sich, wir sehen uns nicht, mir bleibt zu schreiben: Ich vermisse dich.
An einem Freitag an dem ich dich sehe, an einem Nichtfeiertag-Freitag, freue ich mich, ich bin voll gespannter Erwartung ob morgen ein Samstag werden wird, an dem wir uns sehen, die gespannte Erwartung, das ahne ich am Freitag schon, wird am Samstag einer Desillusionierung weichen, einer Ernüchterung. Was ist es, dass ich dich sehen will und dabei sehe, dass du mich nicht sehen willst?
Meine Stimmung ist hoch, an diesem Freitag, der ein Feiertag ist. Ich sehe dich nicht, vielleicht träume ich dich und fühle mich dir nah obwohl ich dir nicht nah bin. Oder bin ich dir nah? Was kümmert mich gestern, was kümmert mich morgen, an diesem Freitag, an dem ich in Liebe bin.
Ich zwinge mich, gegen meine Müdigkeit anzukämpfen und ich schreibe, ich ordne abstrakte Zeichen aneinander, die Buchstaben genannt werden, immerhin, hundertsiebzehn dieser abstrakten Zeichen habe ich schon geschrieben, Bedeutendes soll mein Schreiben darstellen, einen hohen Sinn ergeben, immerhin, trotz meiner Müdigkeit habe ich nun schon zweihunderdreiundvierzig dieser abstraken Zeichen, die Buchstaben genannt werden, geschrieben, nun zwingt mich meine Müdigkeit, mit dem Zählen aufzuhören, was auch wieder eine sehr abstrakte Tätigkeit ist, das Zählen, wie das Schreiben, ich frage mich, ob meinem Organismus, mit dem ich hier auf dieser Welt bin, zumindest erlebe ich mich so, ich bedeute mich als Organismus, falls das Sinn ergibt, ich frage mich, ob meinem Organismus das fortschreitende Schreiben gut tut, ob er nicht viel lieber einfach seine Sinne benutzen würde, um am Leben zu sein, anstatt seine Sinne zu unterdrücken, um einer fortschreitenden Vergeistigung entgegenzuschreiben, die Müdigkeit übermannt mich, ich kann nicht mehr zählen, nein ich kann nicht mehr schreiben, ich werde müder und müder…
Etwas gibt es noch zu schreiben, mit letzter Kraft: Sie ruft am häufigsten tetetet, im Frühjahr einen hellklingenden absinkenden Triller zizizirr, bei Erschrecken zerretett! Eine Blaumeise möchte ich sein und mich so sinnlich bedeuten:
tetetet
zizizirr
zerretett!
Es wäre einfach, zu einfach, die folgende Geschichte dem Wortspieler Günter Nehm anzudichten. Doch soviel man weiß, hatte er keine Tochter die an Anämie litt und wie ein blasser Engel erschien, auch Albert Nehm hatte keine solche Tochter, und bei Albert Nehm, so viel kann man sagen ohne sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen, wäre es noch unwahrscheinlicher, dass er die Krankheit seiner Tochter mit einem unangebrachten Wortspiel ausgedrückt hätte. Bliebe noch Eduard Nehm, doch auch bei ihm weiß man nichts von einer blassen Tochter, sondern nur von einem Sohn, dessen Blässe oder Nichtblässe hier nicht näher ausgeführt werden soll, und doch hält sich hartnäckig das Gerücht, dass ein gewisser Nehm seine Tochter, die an Anämie litt und ihm wie ein blasser Engel erschien, dass dieser Nehm seine Tochter Unange nannte. War dieser Nehm ein frankophiler Mensch, der seine an Anämie leidende Tochter aufgrund ihrer Blässe Un Ange (einen Engel) nannte, oder war ihm die Blässe seiner Tochter lediglich unangenehm, und er nannte sie deshalb Unange, weil ihr voller Name dann das Adjektiv unangenehm ergab, was die Gefühle ausdrückte, die er gegenüber seiner Tochter empfand?
So viel ist sicher: Dieser Nehm lebt nicht mehr, und auch von seiner Tochter, deren Existenz sich hartnäckig als Gerücht hält, ist nichts bekannt. Ist sie vielleicht nach Frankreich gezogen, um dort als blasser Engel ein ruhiges Leben zu führen, anstatt in Deutschland ein unangenehmes?
Wir werden die Wahrheit nie erfahren, und vielleicht wollen wir das gar nicht.
Es stehen aufgereiht der Sohn und der Vater, was ungewöhnlich ist, denn normalerweise würde geschrieben: Es stehen aufgereiht der Vater und der Sohn, aber der Sohn steht vor dem Vater, und es kann doch nicht verlangt werden, dass der Sohn nicht vor sondern nach dem Vater steht, nur damit geschrieben werden kann, was normalerweise geschrieben wird: dass der Vater vor dem Sohn steht.
Demgegenüber ist einzuwenden, dass der Sohn der Nachkomme des Vaters ist, und deshalb nach dem Vater zu stehen hat. Woraus geschlossen werden kann, dass der Vater der Vorkomme des Sohnes ist und vor dem Sohn zu stehen hat. Der Vater soll also vor den Sohn kommen, damit die Dinge so sind, wie sie geschrieben werden sollen.
Nun wenden manche ein, dass die Einführung des Substantivs Komme in diesem Kontext irreführend sei, sei es als Vor- oder Nachkomme. Was ist denn ein Komme? Einer der kommt. Einer der Anwesenden versteht irrtümlich: Einer der kämmt, holt daraufhin reflexartig seinen Kamm aus der Tasche und beginnt sich zu kämmen, was irritiert, aber von der Diskussion nicht in dem Maß ablenkt, dass sie nicht fortgesetzt werden kann.
Das Substantiv Komme kommt also vom Verb kommen, und einer meint, dass kommen nicht stehen bedeute, er erntet mit dieser Aussage sowohl Zustimmung als auch fragende Blicke, weshalb er weiter ausführt, dass es egal sei, ob der Vorkomme vor oder nach dem Nachkommen stehe und umgekehrt, denn ein Komme, so er als solcher bezeichnet wird, kann nicht stehen, sondern nur kommen. Kann also ein Vorkomme nur vorkommen und keinesfalls nachkommen und ein Nachkomme nur nachkommen und keinesfalls vorkommen? lautet die Anschlussfrage des Vortragenden, die er sich selbst bejaht und daraufhin konkludiert: Der von uns verlangte Vorgang, dass der Vater als Vorkomme vorkommt, ist ein zwingender Vorgang, damit der Vater als Vorkomme bezeichnet werden kann.
Es setzt zustimmendes Geraune ein, aus dem eine leichte Genervtheit herauszuhören ist, doch der Vortragende, der seine Stimme zum Vortrag erhoben hat, senkt sie nicht, sondern lässt sie oben und fragt: Sollte der Vater als Vorkomme nicht vorkommen sondern nach dem nachkommenden Sohn bleiben – ist das ein besonderes Vorkommnis? Oder ist ein Vorkommnis immer besonders und es gibt keine normalen Vorkommnisse?
Gegen Ende seines Lebens war Rilke des Deutschen überdrüssig und wollte Französisch zu seiner Sprache machen. Kann das gelingen, von einer Sprache in die andere zu flüchten?
Ich kenne das Gefühl, dass Worte hart, trocken und spröde werden, jetzt zum Beispiel habe ich dieses Gefühl, dass alle Worte zu wenig sind, dass jedes Wort zuviel ist, ich weiß nicht, warum ich schreibe, um zu sagen, dass Schreiben für mich keinen Sinn ergibt.
Musik, Musik! Kann sie mich retten in meinem Zwang mich auszudrücken, ohne es zu können? Oh Sprache, hör auf, mir hart und trocken und spröde zu erscheinen! Fließe dahin mit den Tönen und nimm mich mit!
Kommt Haft von haften? Oder ist es das Wort für substanzungebundene, personengebundene Sucht?
Als Mittelfeldmotor bezeichnet man im Fußball einen Spieler, der aus der Mitte des Feldes das Spiel nach vorne treibt, die Laufwege seiner Mitspieler erkennt und sie mit Pässen versorgt, die für Torgefahr sorgen. Im modernen Fußball, der von Trainern wie Pep Guardiola geprägt wurde, besteht eine Mannschaft aus elf Motoren, die von überall auf dem Feld das Spiel antreiben, den Ball in Zirkulation halten und so den Gegner unwichtig machen, denn wenn der Gegner den Ball nicht hat, kann er dem dynamischen Treiben nur hechelnd zuschauen.
Er, von dem nun zu reden sein wird, ist kein Motor, kein Mittelfeld- und auch kein Verteidigungs- oder Angriffsmotor, er ist eher ein Randrotor, der vom Rand des Spielfelds das Spiel entzündet, wenn es in seiner Schönheit zu ersticken droht. Er springt dann von der Ersatzbank auf, wild gestikulierend, wie ein Rotor, der Energie erzeugen will. Er ruft Schlachtrufe zu den Spielern, wenn sie ihm zu viel spielen, denn sie sollen kämpfen, Taktik ist für ihn überflüssiges Geplänkel, das Spiel darf nicht gespielt, sondern muss gekämpft werden. Wenn seine Schlachtrufe dem Spiel nicht weiterhelfen, entschließt sich der Trainer oft dazu, ihn in das Spiel einzuwechseln, er gibt also das Spiel auf, um es durch ihn zu einem Kampf zu machen.
Ist er dann auf dem Spielfeld, hetzt er den Gegnern hinterher, der Ball ist ihm dabei nicht so wichtig, weil er ihn oft gar nicht trifft, er meint dazu, im Zweifel sei es ihm wichtiger, den Gegner als den Ball zu treffen, sei es mit physischen oder auch mit psychischen Mitteln. Aufgrund dieser Spiel-, nun ja, eher aufgrund dieser Kampfweise, hat er sich den Ruf des Notors erworben, weil er den Gegnern notorisch hinterherjagt, auf eine nie ermüdende Weise, notorisch eben, die diese ermüdet, aber auch weil er, fällt der Ball ihm mal in der Nähe des Tores vor die Füße, er noch nie in dieses getroffen hat. Ein No-Tor-Kämpfer, der durch seine Notorik es anderen ermöglichen soll, ein Tor zu erzielen.
Vor kurzem war er wieder in ein Spiel eingewechselt worden, weil das Spiel zu einem Kampf ausgeartet war. Die gegnerische Mannschaft bestand aus elf Notoren, sodass sich der Trainer gezwungen sah, ihn zu bringen, um dagegenzuhalten. Sofort warf er sich ins Getümmel: Bei einem Gestocher vor dem Tor des Gegners flipperte der Ball hin und her, bis er ihm, dem eingewechselten Notor, auf den Po prallte und von dort ins Tor trudelte. Der Notor hatte sein erstes Tor erzielt: Es war ein Potor.