Altjahrestag

Altjahrestag nannte mein Vater den 31. Dezember. Am Altjahrestag des Jahres 1984 – ich war sieben Jahre alt – streifte er mit mir durch die weiße Natur. Die ganze Landschaft war unter einer tiefen Schneedecke begraben. Wir stapften durch Wälder und über Wiesen. Der Schnee knirschte unter unseren Tritten. Sonst war es still. Alles schien zu ruhen. Später dann, zuhause, war es warm und gemütlich. Das Holz im Ofen knisterte. Es gab Warmes zu essen und zu trinken. Meine Mutter brachte mich ins Bett, und als sie mir den Gute-Nacht-Kuss gegeben hatte, fragte ich die eine, in der Folge alles bestimmende Frage: „Wird jetzt nie mehr 1984 sein?“

Mutter dachte an George Orwell. Es lag ihr auf den Lippen zu sagen: 1984 fängt gerade erst an, und wer weiß, ob es jemals enden wird! Aber weil sie wusste, dass ich nicht an George Orwell denke, sagte sie: „Nein, denn morgen wird 1985 sein.“ Ich war zufrieden mit dieser Antwort. Ich spürte, dass ich das Jahr 1984 gut beendet hatte und schlief zufrieden ein. Seitdem ist es mir wichtig, Dinge gut zu beenden. Nicht nur ein Jahr. Sondern auch – einen Tag, zum Beispiel.

Einen Tag beende ich gerne mit der Wettervorhersage in den Tagesthemen. Am liebsten, wenn Sven Plöger sie moderiert. Nachdem er gesprochen und die Wetterkarten erläutert hat, gehe ich beruhigt ins Bett. Ich stelle mir vor, wie die Sterne über mir wachen und über allen die mir nahe sind und schlafe zufrieden ein.

Heute ist wieder Altjahrestag. Dieses Jahr will ich etwas Besonderes machen: Ich will das Jahr mit seinen Tagen beenden. Ich habe mir zu diesem Zweck alle Wettervorhersagen der Tagesthemen vom 1. Januar bis zum 30. Dezember besorgt. Folgende Rechnung wird meinen Tag bestimmen: Eine Vorhersage dauert ungefähr zwei Minuten. Es dauert folglich 364 mal zwei Minuten, um alle bisherigen Vorhersagen des Jahres anzusehen, also zwölf Stunden und acht Minuten.

Ich bin früh aufgestanden und setze mich um acht Uhr früh vor den Bildschirm, um die Videos der Wettervorhersagen anzusehen, Tag für Tag. So habe ich genügend Zeit, tagsüber ein paar Pausen zu machen. Krönender Abschluss soll am Abend die aktuelle Vorhersage des 31. Dezember sein.

Der Januar ist kein Problem. Schon im Februar aber fällt mir auf, dass es nicht dasselbe ist, eine alte Wettervorhersage anzusehen statt der tagesaktuellen. Die Dringlichkeit ist weg. Im März bemerke ich, dass Sven Plöger in Dauerschleife etwas nervig wird. Trotzdem halte ich tapfer durch. Ab April werden meine Pausen häufiger, immerhin habe ich schon über drei Stunden auf dem Buckel, und ich sehne die Mittagspause herbei, die ich mir nach dem Mai gönnen will.

Mitte April beschließe ich, die Mittagspause vorzuverlegen. Nach etwa einer Stunde steige ich wieder ein, bis ich Mitte Juni, während der Vorhersage für den 14. des Monats, beschließe, das Experiment abzubrechen. Es wird zu anstrengend. Ein Jahr lässt sich nicht zum Tag machen.

Was nun? Draußen wird es noch etwa eine Stunde hell sein. Ich ziehe mich warm an und gehe nach draußen. Dort angelangt, bemerke ich zu meiner Freude, dass der Boden und die Bäume mit Schnee bedeckt sind, wie einst am Altjahrestag 1984, als ich sieben Jahre alt war. Ich stapfe zufrieden durch die weiße Natur. Der Schnee knirscht unter meinen Tritten. Sonst ist es still. Alles scheint zu ruhen. Als es zu dämmern beginnt, summe ich das Wiegenlied von Brahms, zu dem ich als kleiner Junge, daran erinnere ich mich jetzt, gerne eingeschlafen bin. Ich mache mich auf den Heimweg und sage zum alten Jahr: Gute Nacht, altes Jahr, es war sehr schön mit dir!

 

Krieg und Saufen III

Als ich erwachsen wurde, merkte mein Vater, dass er mich nicht weiter würde beschützen können vor den Schlägen dieser Welt, dass er mich entlassen muss ins Leben, auf die Gefahr hin, dass ich Schläge abbekomme. Die Angst, dass sein Sohn Schläge abbekommen könnte, solche Schläge abbekommen könnte wie er, diese Angst hat er nicht ertragen. Auch das Trinken half nicht mehr: Diese Angst wurde zu groß. Mein Vater hat nie gelernt, Dinge auszusprechen. Deshalb blieb er allein in seiner Angst. Deshalb hat er es nicht mehr ausgehalten. Deshalb hat er beschlossen, zu gehen, leise, ohne etwas zu sagen. Wurde einfach krank, todkrank, starb und verstummte endgültig.

Viktor Frankl sagt, es gibt keine Täter und keine Opfer. Es gibt nur Menschen, die sich zu Tätern machen und andere zu Opfern und Menschen, die sich zu Opfern machen und andere zu Tätern. Aber sie bleiben immer Menschen. War mein Großvater also ein Mensch, der sich zum Täter gemacht hat und andere zu Opfern und mein Vater einer, der sich zum Opfer gemacht hat und andere zu Tätern? Oder sollte ich endlich aufhören, in Täter- und Opferkategorien zu denken?

Das Zimmer meines Therapeuten, in dem die Blätter auf dem Boden liegen, verwandelt sich in eine Lichtung, die vom Vollmond beschienen wird. Die Bäume stehen wie stumme Wächter ringsherum. Da erscheint mein Großvater auf der Lichtung. Er ist nicht so, wie sie mir von ihm erzählt haben, nämlich besoffen und schlagfertig, sondern klar und ruhig. Mein Großvater sagt: Natürlich bin ich gegen den Krieg, natürlich. Doch ich bin nicht Herr geworden über den Krieg, über den Krieg in mir. Stattdessen haben andere ihn abgekriegt: die Juden. Dein Vater. Dann geht er fort, über die in mondblau getränkte Lichtung hinweg, auf der ich jetzt meinen Vater stehen sehe. Mein Großvater nimmt meinen Vater in den Arm, als wäre der Krieg nie ein Thema gewesen, sondern nur die Liebe, die Liebe, die Liebe. Ich blicke zur Erde: Ich rieche und spüre sie in ihrer nächtlichen Feuchte und Kühle. Ich denke an die Juden, auf die mit dem Finger gezeigt wurde, auf die die Waffen gerichtet wurden, die getötet wurden. Ich denke an die Friedfertigkeit predigende Christenheit, die seit Jahrhunderten an das Morden gewöhnt ist.

Und nun zum dritten Zettel, sagt der Therapeut und holt mich von der Lichtung ins Zimmer zurück: zu dir! Entsetzt blicke ich auf den Zettel, also auf mich. Was soll ich denn nun machen in diesem emotionalen Chaos, in diesem Jammertal der Ahnen? In diesem verworrenen Krieg mit meinen Vätern? Die Wut hat mich müde gemacht, sage ich. Ich habe keine Kraft mehr, auf meinen Vater und meinen Großvater wütend zu sein. Ich finde keine Kraft bei meinen Vätern, bei diesen Verlierern! Wie soll ich Kraft haben für mein eigenes Leben? Verzweifelt werfe ich mich auf den Boden und weine, weine, weine. Dann richte ich mich auf und schreie, schreie, schreie. Meine Fassade der Friedfertigkeit zerbröselt. Der Krieg ist endgültig ausgebrochen in mir und überwältigt mich. Alle Versuche aber, die Angriffe gegen meinen Großvater fortzusetzen, laufen ins Leere. Ich bin zurückgeworfen auf mich selbst. Ich kehre zurück zur mondblauen Lichtung, auf der ich eben meinen Großvater getroffen habe. Ich sehe ihn am anderen Ende stehen, am Waldrand, bei den schwarzen Bäumen der Nacht, mit meinem Vater. Dort sind sie also stehen geblieben. Warten sie auf mich? Ich denke mir: Ihr könnt mich doch jetzt nicht alleine lassen! Ich brauche euch! Verschwindet nicht im Wald, wartet! Ich stehe auf und laufe, so schnell ich kann. Ich laufe auf die beiden zu und habe das Gefühl, gleich erbarmungslos in sie hineinzustoßen, mit einem heftigen Aufprall, doch plötzlich heben sie mich mit einer eleganten, kraftvollen Bewegung auf ihre Schultern und laufen mit mir weiter.

So reite ich auf den Schultern meines Vaters und meines Großvaters durch die mondblaue Nacht. Es ist wie ein Traum, aber es ist wahr: Ich reite auf den Schultern meines Vaters und meines Großvaters durch die Nacht. Ich spüre ihre Kraft unter mir. Sie tragen mich. Es tut gut, die Dinge etwas erhöht zu sehen. Es tut gut, nicht im Sumpf der Trauer zu kriechen, sondern die Luft der Höhe zu atmen.

Wieder im Zimmer meines Therapeuten angekommen, fällt mir als erstes auf, wie die Sonne durch das Fenster scheint. Der Krieg in mir scheint aufgelöst. Und wenn nicht, herrscht zumindest ein Waffenstillstand, den ich in dieser Qualität noch nicht kenne. Der Kriegsschauplatz meiner Beziehung zu Josefine? Den gilt es schnellstens zu befrieden, und ich glaube, es liegt in meiner Hand. Ich hoffe nur, dass die Fronten zwischen ihr und mir mittlerweile nicht zu verhärtet sind, jetzt, wo sich die Fronten in mir endlich gelockert haben und der Krieg dem Frieden eine Chance zu geben scheint.

* ENDE *

Krieg und Saufen II

Was berechtigt mich, meinen Großvater anzuklagen? Was weiß ich über meinen Großvater? Er war Nationalsozialist, von Anfang an. Das wurde immer wieder erzählt, denn sie brauchten einen, an dem sie sich reinwaschen konnten, um zu vergessen, dass sie selber Nazis waren. Also war mein Großvater der böse Nazi in der Familie. Also war mein Großvater der böse Nazi im Dorf. Es ist immer gut, einen zu haben, dem man Unangenehmes zuschieben kann, um es bei sich selbst nicht sehen zu müssen. Ich zeige mit dem Finger auf meinen Großvater.

Ich sehe meinen Großvater, wie er nachhause kommt vom Wirtshaus, stockbesoffen. Er hat zugeschlagen, der böse Nazi, hat seine Frau und seine Söhne geschlagen, unerbittlich und unversöhnlich. Ein böser Nazi schlägt zu, was denn sonst? Ich sehe meinen Vater, wie er sich duckt vor den Schlägen. Ich sehe, wie mein Großvater endlich von den Schlägen ablässt und erschöpft ins Bett fällt und eine quälende Ruhe einkehrt. Die Nacht vergeht ohne Schlaf, und im Morgengrauen möchte jeder glauben, dass nicht geschehen ist, was geschehen ist. An den Tagen klebte ein Geruch wie verschüttetes Bier. Auf diesen Geruch wurde neues Bier geschüttet.

Die Zettel meiner Väter auf dem Boden, und ich beginne zum ersten Mal, an meiner Friedfertigkeit zu zweifeln. Denn die Zettel auf dem Boden machen mich wütend. Aber ich bin nicht bereit, meine Friedfertigkeit aufzugeben. Sie ist mein Markenzeichen. Ich bin der nette Emil, der der Welt nichts Böses tut. Und Krieg – Krieg ist ganz weit weg von mir. Der Therapeut zeigt unterdessen auf den anderen Zettel am Boden und fragt, was es denn mit diesem Zettel auf sich habe? Das ist mein Vater, sage ich, aber das interessiert mich nicht. Mein Vater hat hier nichts zu sagen, denn mein Vater hat sowieso sein ganzes Leben lang seine Fresse gehalten, hat zu allem geschwiegen. Das habe ich nie verstanden, sage ich, dass mein Vater sein ganzes Leben lang seine Fresse gehalten hat, dass er geschwiegen hat, mehr noch, ich habe mich maßlos darüber geärgert. Ich merke, wie ich schon wieder wütend werde. Da fällt mir eine kleine Episode ein, die durch meine Wut hochkommt: Als Pubertierender habe ich meinen Vater mal so lange genervt, bis ihm die Hand auskam und er mir eine gescheuert hat. Das war einer der schönsten und intensivsten Momente mit meinem Vater. Ich habe ihn gespürt. Ich habe ihn erlebt als einen Mann der Tat. Sonst war er wie ein lebloses Opfer. Warum war er sonst so leblos? Haben ihn die Schläge meines Großvaters so leblos gemacht? Ich koche vor Ärger und Wut über die Leblosigkeit meines Vaters und sehe meine Friedfertigkeit davonschwimmen. Ist der Krieg in mir, und ich kann gar nicht gegen ihn sein, weil er ein Teil von mir ist? Sollte ich vorher den Krieg mit mir beenden, bevor ich den Krieg von anderen anklage?

Refugees welcome! Dieser Spruch regt mich auf. Hier ist gar niemand welcome, denn hier ist Krieg. Ich gehe die Straße entlang und sehe in die Gesichter, die mir entgegenkommen. Die meisten sind angespannt als befänden sie sich mitten im Krieg, sodass ich annehmen muss, dass sie sich im Krieg befinden. Doch welcher Krieg wird hier ausgefochten? Woher diese Abwehrhaltung? Refugees are not welcome, natürlich nicht. Scheiß Islamisten, kommt bloß nicht hierher, sondern bleibt dort, wo ihr herkommt! Wenn ihr hier seid, zeigt ihr uns nämlich, dass wir Scheiß Christen sind. Das halten wir nicht aus. Mit Kriegen kennen wir uns aus in Europa, können eine jahrhundertelange Erfahrung vorweisen. Aber wir wollen diese Erfahrung vergessen, leugnen, und jetzt kommt ihr daher und zeigt uns gnadenlos, wie kriegserfahren wir sind. Warum wir so kriegserfahren sind? Weil wir geil sind auf Krieg. Krieg bedeutet, jemand anderen zu finden, auf den ich meine Waffen richten kann, auf den ich mit dem Finger zeigen kann. Ablenkung von mir selbst, das ist die oberste Maxime, auch wenn andere dabei krepieren. Und wenn das nicht hilft, dann hilft nur: Saufen, saufen, saufen, bis ich nichts mehr spüre.

Mein Vater hat nicht schlimm gesoffen. Er hat diskret gesoffen, meist im Keller. Er schämte sich, dass die Bierflasche sein Rettungsanker war, aber er konnte nicht von ihr lassen. Er hat auch nicht geschlagen im Suff, nie. Lieber trank er noch ein Bier, klammerte sich noch fester an die Flasche, bevor er auf die Idee kam zu schlagen. Er hatte Angst vor Schlägen, davor, welche abzubekommen und davor, selbst zu schlagen. Er wollte mich beschützen vor allen Schlägen dieser Welt. Er hatte panische Angst vor den Schlägen dieser Welt, solche Angst, dass er Angst hatte vor dem Leben als ganzes. Als Dreijähriger die Bomben zu sehen, die die Stadt zerstören, und die Angst, der eigene Vater könnte es sein, den sie getroffen haben; danach den Vater wiederzusehen, aber seinen Schlägen ausgesetzt zu sein, das war zu viel, das hat er sein Leben lang nicht verkraftet. Das hat ihn stumm gemacht. Das hat ihn an die Bierflasche geklammert. Es ist leicht, sich dem Alkohol hinzugeben, sich dem Alkohol hinzugeben und nicht anderen Drogen. Denn Alkohol ist eine legale Droge, im Gegensatz zu anderen Drogen. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, und keiner sagt etwas. Die Gesellschaft gibt ihren Segen dazu. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, um die Schläge zu vergessen. Aber die Schläge gehen weiter, im Kopf, gnadenlos, trotz Betäubung.

Fortsetzung folgt…

Krieg und Saufen I

Der Kriegsschauplatz meiner Beziehung zu Josefine hat mich zu meinem Therapeuten geführt. Alles tobt zwischen ihr und mir, dabei bin ich doch der friedfertigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Ich würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Warum tut Josefine mir das an? Womit habe ich das verdient?

Krieg? Natürlich bin ich gegen den Krieg, schon immer. Manchmal werde ich wütend wegen der Kriege, wegen dem Krieg, der noch immer in den deutschen Köpfen ist. In meiner Wut bekomme ich einen Hass auf die Juden. Die Juden sind die Provokateure der Weltgeschichte. Erlöstes Volk – das ich nicht lache! Sie sind Menschen wie du und ich, die sich zu Opfern hochstilisieren. Ihr Opfer, ihr! Manchmal regt sich in mir eine gewisse Empathie für den Bastard Hitler. Hat er nicht getan, was unausweichlich war? Die deutsche Geschichte – eine Erfolgsgeschichte, wäre da nicht Hitler gewesen! Was für eine Lüge! Die deutsche Geschichte – eine Erfolgsgeschichte, weil da Hitler gewesen ist! Schon besser! Hitler als Stellvertreter der Deutschen, ein Mann des Volkes, der seinen Kopf hingehalten hat für das Volk. Das Volk hat ihn bereitwillig unterstützt. Geh voran, Bastard, und tu endlich, was wir schon lange tun wollten! Ablenkung von der eigenen Not tut immer gut. Da kommt der Jude gerade recht. Da schauen wir lieber auf den Juden und zeigen mit dem Finger auf ihn, anstatt auf uns zu schauen. Wir Täter, wir!

Dachau? Lemberg? Stalingrad? Ich weiß nicht, wo er war. Ich weiß nicht, ob er Juden hasste oder Nazis liebte. Sie sagten und sagen es mir nicht. Er kam nachhause, mein Großvater, haben sie gesagt. Aber von wo er kam, haben sie nicht gesagt. Er war nicht geläutert, haben sie gesagt, er war und blieb der Nazi. Vielleicht wollten sie gar nicht, dass er nachhause kam, aber er kam nachhause. Kam nachhause und war nicht mehr derselbe. War verstört und hat sich dem Alkohol hingegeben. Es war leicht, sich dem Alkohol hinzugeben, sich dem Alkohol hinzugeben und nicht anderen Drogen. Denn Alkohol ist eine legale Droge, im Gegensatz zu anderen Drogen. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, und keiner sagt etwas. Die Gesellschaft gibt ihren Segen dazu. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit, um den Krieg zu vergessen. Aber der Krieg geht weiter, im Kopf, gnadenlos, trotz Betäubung.

Natürlich bin ich gegen den Krieg, schon immer. Ich bin der friedfertigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Doch etwas tobt in mir, beständig. Ich will es nicht Krieg nennen, doch nicht Krieg, nein, das ist ein zu krasses Wort, das ich ungern in den Mund nehme, eher innere Unruhe, die mich in meinem friedfertigen Dasein stört. So sage ich es dem Therapeuten. Ich sage, dass ich es nicht mehr aushalte, nicht nur mit Josefine, nein: dass ich insgeheim meine Mutter nicht mehr aushalte, dass ich sie hasse dafür, dass sie mich auf diese Welt gebracht hat, in der nur der Krieg tobt und ich als friedfertiger Mensch völlig fehl am Platz bin.

Ich habe den Eindruck, mein Therapeut will mich nicht hören. Er geht nicht ein auf meine Klagen über meine Mutter, sondern redet von meiner väterlichen Linie und davon, dass Hass auf die Frauen nur entsteht, wenn man sich als Mann selbst nicht liebt. Er legt drei Zettel auf den Boden und sagt: Ein Zettel bist du, einer ist dein Vater, einer ist dein Großvater.

Ich habe meinen Großvater nie gekannt. Er ist gestorben, als selbst mein Vater noch ein Kind war. Er war 45 Jahre alt, als er gestorben ist. Da war der Krieg seit zehn Jahren vorbei. Zehn Jahre hat er den Krieg überlebt, an dem er, wie ich vermute, gestorben ist. Zehn Jahre hat er seinen Leib noch weiter geschleppt durchs Leben, obwohl er innerlich bereits gestorben war. In der Familie wurde nicht darüber gesprochen, warum er so früh gestorben ist, aber ich glaube es zu wissen: Er hat sich zu Tode gesoffen. Nach zehn Jahren hatte er es endlich geschafft: Genug gesoffen, um zu sterben. Der Zettel, der da als mein Großvater auf dem Boden liegt, wird lebendig, und ich werde wütend. Es ist Krieg im Raum. Ich bin im Krieg mit meinem Großvater. Ich fühle mich bedroht in meiner Friedfertigkeit. Mein Großvater bedroht diese Friedfertigkeit. Ich zeige mit dem Finger auf ihn.

Fortsetzung folgt…