Ode an Josefine

Josefine kommt zur Tür herein und sieht mich lächelnd und zufrieden im Sessel sitzen.

„Was strahlst du so?“ fragt sie mich.

„Ich habe herausgefunden, warum die naturwissenschaftlichen Fächer in der Schule so eine Qual für mich waren.“

„Und das versetzt dich in so gute Laune?“

„Ich will es dir erklären. Ich versuche es. Die Verdunstung, zum Beispiel. Da steht: Bei einer Verdunstung geht ein Stoff vom flüssigen in den gasförmigen Zustand über, ohne dabei die Siedetemperatur zu erreichen. Ist das nicht ein Wunder, dass Wasser an der Luft verdunstet? Ich habe weitergelesen über Verdunstung, aber schon bald gab ich auf. Ich bin steckengeblieben bei diesem Wunder, so als würde ich voller Erstaunen beobachten, wie das Wasser aus frisch gewaschener Wäsche an der Leine verdunstet. Und so bin ich immer in den Physik- und Chemiebüchern steckengeblieben, weil ich aus dem Staunen nicht herauskam.“

Ich möchte Josefine noch von der Quelle erzählen, von dem Ort, an dem dauerhaft oder zeitweise Grundwasser auf natürliche Weise an der Geländeoberfläche austritt, und was für ein Wunder das ist, und wie schön es ist, sich am Quellwasser zu waschen und zu erfrischen, doch da geschieht schon das nächste Wunder: Josefine küsst mich leidenschaftlich.

Ich sollte dieses Wunder geschehen lassen, doch bei diesem Kuss, bei diesem oralen Körperkontakt, erwacht der Naturwissenschaftler in mir. Ich sollte in diesem speziellen Fall spezifizieren: der Philematologe.

Wie fühlt sich der Kuss an? Die Grenzen verschwimmen. Wo fange ich an, wo höre ich auf? Wer bin ich überhaupt? Ich weiß es nicht. Ich fühle es. Jeden Tag ist es ein neues Wunder, mich zu erleben, ohne zu wissen, wer ich bin. Ein Herantasten an das Leben, das ist jeder Tag. Dein Betasten meiner Lippen, meiner Haut, meines Körpers, mein Betasten deiner Lippen, deiner Haut, deines Körpers. Ist das nicht ein Wunder?

Ich wollte nichts über Wunder schreiben, weil ich es tunlichst vermeide, über Wunder zu schreiben. Wunder geschehen. Dennoch kann ich es nicht lassen, mit dem Schreiben. Ich weiß einen Ausweg: Ich lasse Musik sprechen. Vielleicht kann sie Wunder besser beschreiben: Ode an Josefine!