König Arthurs Leben in Liedern

Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, denn da alles mit allem zusammenhängt, ist es nicht leicht, einen Anfang zu finden. Ich weiß nicht einmal, ob es irgendetwas zu erklären gibt. Ich kann nur soviel sagen: Musik gefiel ihm. Musik gefiel ihm sehr. Mit Liedern wandelte er durchs Leben. Und er hieß Arthur, das weiß ich auch, und da er Arthur hieß, hielt er sich für einen König.

Seine bevorzugten Launen waren Größenwahn und Melancholie. Es ist nirgends festgehalten, dass es so war, es ist eine Vermutung, die auf Erzählungen beruht und mittlerweile vielleicht zu einem Mythos verklärt wurde, vor allem von mir, von seinem Sohn.

Je nach Laune hielt er sich unterschiedliche Ritter in seiner Tafelrunde. In seinem Größenwahn war Marc Bolan sein Lancelot, in seiner Melancholie war es Nick Drake. Später, als ihm seine Launenhaftigkeit zu anstrengend wurde, fand er in Bryan Ferry einen Kompromiss-Lancelot an seiner Seite, der für ihn glaubhaft sowohl Größenwahn als auch Melancholie verkörperte.

Doch dann war er nicht mehr da, mein König Arthur. Ich vermisste die Musik, die er mir vorgespielt hatte. Es war einsam zuhause, auf Camelot, wie ich es nannte. Als mich meine Mutter eines Abends ins Bett brachte, fragte ich, ob Vater jetzt auf Avalon sei. Gut möglich, sagte sie und machte ein trauriges Gesicht.

Sie sagte, dass er dort wahrscheinlich das Superweib suche, dass es aber schwierig sein könnte für ihn, ein solches zu finden, denn er sei nicht Supermann, und wie soll jemand ein Superweib finden, wenn er nicht Supermann ist. Ich las große Enttäuschung im Gesicht meiner Mutter. Ich verstand die Geschichte von Superweib und Supermann nicht. Ich verstand nur eines: Mein Vater würde immer König Arthur für mich bleiben, mit all den Musikern in seiner Tafelrunde.

In der darauffolgenden Nacht träumte ich von Avalon, und wie mein Vater sich dort mit seinem Superweib herumtreibt. Das Superweib sah meiner Mutter erstaunlich ähnlich.

Bilder meines Traums

Camelot - Hof des König Arthur
Avalon - mystischer Aufenthaltsort von König Arthur
Marc Bolan
Nick Drake
Bryan Ferry

 

Geleitwort zur Ausstellung „Das Fernsehzimmer im 20. Jahrhundert“

Werte Damen und Herren,

ich habe gerade das große Glück, temporär Räumlichkeiten für künstlerische Zwecke zur Verfügung zu stellen, solange, bis diese Räumlichkeiten wieder helfen werden, die Wohnungsnot in unserer Stadt zu lindern.

Als mein Freund und Kollege Valentin Vorderbrandner auf mich zukam mit dem Anliegen, die Räumlichkeiten für eine Ausstellung zu nutzen, habe ich sofort zugesagt und mich auch bereit erklärt, als Kurator zu fungieren.

Vorderbrandner gestaltete den ihm zur Verfügung stehenden Raum auf eine Weise, die dem Besucher erlaubt, eine Reise in das bürgerliche Leben des 20. Jahrhunderts zu unternehmen. Durch die geschickten Arrangements des Künstlers kann man die Atmosphäre im Raum mehr als spüren, man kann förmlich in sie eintauchen.

Hier vorab eine Impression von der Ausstellung:

Die Ausstellung läuft voraussichtlich bis 10. August 2017. Anmeldung erbeten!

Herzlichst ergeben, das Leben aufs Höchste huldigend!

Ihr Emil Hinterstoisser

Lostopfavorit

„Bitte keine Wortwiederholungen im Text!“ predigte der Deutschlehrer im Unterricht.

Felix begann daraufhin seinen Text vorzulesen: Aus dem Lostopf wurde der Gefäßavorit gezogen…

„Stopp Felix!“ rief der Lehrer: „Was ist denn ein Gefäßavorit?“

„Weiß ich nicht.“

„Wieso verwendest du dieses Wort dann in deinem Text?“

„Weil Sie gesagt haben, wir sollen Wortwiederholungen vermeiden.“

„Was hat denn das damit zu tun?“

„Ich wollte nicht zweimal Topf schreiben. Aber wenn Ihnen das lieber ist, bitte schön!“ Felix begann erneut, seinen Text vorzulesen: Aus dem Lostopf wurde der Topfavorit gezogen…

Alarm auf dem Land

Mein Körper ist der Spiegel meiner Seele. Da sich mein Körper sehr müde anfühlte, sagte ihm meine Seele, er solle sich aufs Land bewegen, damit sie sich beide dort erholen können. Mein Körper bewegte sich also aufs Land, blieb aber bei seinen Bewegungen auf dem Land sehr wachsam. Diese Wachsamkeit hatte er sich durch sein Leben in der Stadt angewöhnt. Er sah sich sogleich bestätigt in seinem Verhalten, als er ein Verkehrsschild erblickte, dass vor Fuhrwerken warnt:

Höchst alarmiert rechnete er hinter jeder Kurve mit einem herandonnernden Fuhrwerk, vor dem er sich eventuell nur mit einem waghalsigen Sprung in den Straßengraben retten konnte. Meine Seele kam in dieser hektischen Atmosphäre nicht zur Ruhe, sodass sie anfragte, ob man nicht in die Stadt zurückkehren könne. Noch ehe sich mein Körper mit dieser Anfrage beschäftigen konnte, kam plötzlich ohrenbetäubender Lärm am Himmel auf. Mein Körper hielt sich die Ohren mit seinen Händen zu und rannte schutzsuchend in eine Scheune, wo er einen Mann antraf. Dieser Mann erklärte ihm, dass die Alarmrotte des taktischen Luftwaffengeschwaders 71 aus Wittmund in Ostfriesland soeben seine Scheune überflogen habe, was er jedoch nicht verstehe, denn für die Überwachung des süddeutschen Luftraums sei doch die Alarmrotte des taktischen Luftwaffengeschwaders 74 aus Neuburg an der Donau zuständig.

Meine Seele äußerte indessen den Wunsch, sich auf das Stroh in der Scheune zu legen, um etwas auszuruhen. Ehe mein Körper sich mit diesem Wunsch befassen konnte, sagte der Mann in der Scheune, dass sein Sohn im Fliegerhorst Lechfeld beschäftigt gewesen sei, bis er vor einigen Jahren ins nationale Lage- und Führungszentrum für Sicherheit im Luftraum nach Uedem am Niederrhein berufen worden sei.

Der Mann betrachtete nachdenklich einige Landmaschinen und -geräte, die vor ihm in der Scheune herumstanden und -lagen. Da kam ihm ein neuer Gedanke. Er sagte nämlich, jetzt fiele ihm ein, dass sein Sohn es sein könnte, der die Alarmrotte aus Wittmund geschickt hat, da er seinem Sohn vor einigen Tagen gesagt habe, er brauche dringend Ersatzteile für seinen alten Hanomag-Traktor, die jedoch nur in Norddeutschland zu bekommen wären.

Meine Seele meldete erneut den Wunsch an, sich ins Stroh zu legen, als es draußen wieder sehr laut wurde. Der Mann in der Scheune blickte mich mit großen Augen an und zeigte mit dem Finger nach oben, was nur bedeuten konnte, dass die Alarmrotte des taktischen Luftwaffengeschwaders 71 aus Wittmund in Ostfriesland wieder im Anflug war, weil sein Sohn sie geschickt hatte. Plötzlich machte es in dem ohnehin schon kaum auszuhaltenden Lärm einen lauten Knall. Einige Metallteile landeten daraufhin im Stroh neben uns. Meine Augen blickten nach oben und sahen ein Loch im Dach der Scheune. Durch einen Fluchtreflex lief mein Körper mitsamt meiner Seele ins Freie. Meine Seele erlitt einen Schock, war sie doch beim Aufprall der Metallteile im Stroh gelegen. Gottseidank ist sie unsterblich.

Der Mann kam fluchend aus der Scheune. Er schimpfte über das kaputte Dach, anstatt sich über die Ersatzteile für seinen alten Hanomag-Traktor zu freuen, die ihm sein Sohn via Alarmrotte, quasi per Expresslieferung, zugeschickt hatte. Meine Seele wollte dem Mann danken, dass er meinen Körper davon abgehalten hatte, sich ins Stroh zu legen, doch mein Körper unterließ diese Geste des Dankes. Er hörte mit seinen Ohren das Donnern der sich entfernenden Kampfjets der Alarmrotte, und nach den bisherigen Erlebnissen konnte man davon ausgehen, dass die Alarmrotte, nach der erfolgten Lieferung der Ersatzteile für den alten Hanomag-Traktor, einem Fuhrwerk hinterherjagte, das von Terroristen gekapert worden war.

Bilder vom Start der Alarmrotte in Wittmund zur Lieferung der Hanomag-Ersatzteile

Kommst du mit in den Alltag?

Auf einmal hat sie gesagt: Ich verlasse diese Stadt. Dieser Satz überschritt meinen Möglichkeitsraum. Ich bin daraufhin auf mein Fahrrad gesprungen und kreuz und quer durch die Stadt gefahren. Diese Stadt verlassen? Ich habe bitterlich geweint auf meinem Fahrrad, weil ich mir das nicht vorstellen konnte. Verlassen! Verlassen! Das war alles, was ich dachte. Ich bin immer kräftiger in die Pedale getreten. Ich spürte Nässe, ja natürlich, ich erinnere mich, es begann zu regnen. Ich bin weitergefahren, immer schneller, durch die Nässe. Muss ich diese Stadt jetzt auch verlassen wollen, um nicht von ihr verlassen zu werden? Ich will diese Stadt nicht verlassen!

Weißt du noch, rief ich, als wir auf der Wiese unter der alten Linde saßen, am anderen Ende die weidenden Schafe. Der Wind bewegte die grünen Blätter an den Bäumen und die weißen Wolken am Himmel. Im Hintergrund war das Brummen der Stadt zu hören. Weißt du das noch? rief ich durch den Regen.

Erschöpft kam ich in der Straße an und sah ihr Fahrrad im Regen stehen. Ich stellte mir vor, wie sie zufrieden mit ihrem Fahrrad durch diese Stadt fährt, durch unsere Stadt. Hier im Regen, bei ihrem Fahrrad, hier spielen also meine Träume. Wo ihre spielen weiß ich nicht. Haben wir zuviel geträumt? Morgen wird ein neuer Tag sein, die Sonne wird aufgehen, das Wunder wird von neuem beginnen, wie immer, ganz banal, ohne Träumerei.

Ich hörte die Musik nach draußen dringen. Ich ging hinein. Es war angenehm, im Trockenen zu sein, nach all dem Regen. Zu meinem Erstaunen viele Leute um mich. Zu meinem Erstaunen mein Blick zielsicher in die Ecke streifend, in der sie stand. Ich ging zu ihr und wir sahen uns tief in die Augen. Weißt du noch, wollte ich sagen, als wir auf der Wiese… – aber ich sagte nichts. Wir gehören doch zusammen! dachte ich sehr laut und ungestüm, aber auch das sagte ich nicht.

Sie sagte auch nichts, und sagte mir damit: Meine Träume sind woanders, wo auch immer, aber nicht hier. Sie schob mich beiseite und ging. Ich sank zu Boden, bis ich ausgestreckt auf dem Boden lag. Stille. Dann stimmten die Musiker auf der Bühne ein neues Lied an. Ich spürte plötzlich Hände an mir, Hände, die mich in die Höhe hoben. Ich wogte auf den Händen durch den Raum, im Rhythmus der Musik, und träumte von einem Alltag mit ihr.

Ist das alles was das Leben fragt: Kommst du mit in den Alltag?

Das Erzeugen des Erzengel Eugen

Michael, Gabriel und Raphael hatten sich längere Zeit nicht gesehen. Es war so ungewohnt für sie, sich wieder zu sehen, dass sie nicht wussten, was sie sagen sollten und schweigend am Tisch saßen.

Michael dachte an Erzengel. Er sprach diesen Gedanken aus und unterbrach damit das Schweigen.

„Wieso denkst du an Erzengel?“ fragte Gabriel.

„Weiß nicht… Ich glaube, die sind auch zu dritt – wie wir.“

„Stimmt!“ sagte Gabriel: „Michael, Gabriel und Raphael – die heißen auch noch wie wir!“

„Falsch: Es sind vier!“ sagte Raphael. „Ihr habt Uriel vergessen!“

„Moment!“, sagte Michael: „Ich habe ganz falsch gedacht. Es gibt nicht nur drei oder vier Erzengel. Es gibt noch mehr Erzengel als Michael, Gabriel, Raphael und Uriel. Jetzt erinnere ich mich, dass ich mal gelesen habe, dass es zwölf Erzengel gibt!“

„Schade, nur zwölf. Gibt es nicht noch einen? Meine Lieblingszahl ist nämlich die Dreizehn!“ meinte Raphael.

„Wir können einfach noch einen erzeugen“, schlug Gabriel vor, „und nennen ihn den Erzengel Eugen.“

So hatte sich aus dem anfänglichen Schweigen bei ihrem Wiedersehen eine muntere Konversation zwischen Michael, Gabriel und Raphael entwickelt, die einen ersten Höhepunkt mit dem Erzeugen des Erzengel Eugen erlebte.

Endgültige, fundierte Klärung der Anzahl der Erzengel

Von Hunden, Besitzern und Bedürfnissen

Manchmal habe ich das Gefühl, Vorderbrandner besser zu kennen als mich selbst. Das kommt wahrscheinlich daher, dass ich durch Vorderbrandner mich selbst besser kennen lerne. Vorderbrandner trägt eine Art heiligen Zorn in sich, der sich von Zeit zu Zeit in Provokationen gegenüber Menschen entlädt, die gerade in seiner Nähe sind.

Wir waren im Park. Ich erzählte Vorderbrandner von meinem Entschluss, künftig keine Sonnencremes unter Lichtschutzfaktor 30 mehr zu verwenden. Vermutlich langweilten Vorderbrandner meine Ausführungen, denn ich spürte, wie ich seine Aufmerksamkeit verlor. Jedenfalls sprach Vorderbrandner unvermittelt einen uns entgegenkommenden Hundebesitzer an und fragte ihn, ob er Kotbeutel für seinen Hund dabei hat und ob er ihm einen abgeben könne. Der Hundebesitzer bejahte, gab Vorderbrandner einen Beutel und wollte weitergehen.

„Nein, warten Sie!“ sagte Vorderbrandner. „Ich werde gleich kacken und Ihnen den gefüllten Beutel wieder mitgeben!“ Der Hundebesitzer blickte irritiert, während Vorderbrandner seine Hosen runterzog und sich in Hockstellung begab.

„Sie werden doch nicht allen Ernstes hier hinmachen!“ rief der Hundebesitzer empört.

„Wieso denn nicht? Ihr Hund macht das doch auch! Seien Sie unbesorgt. Ich habe ausgewogen gegessen und fühle mich gut. Es wird keine Durchfallsauerei geben!“ Vorderbrandner drückte eine Wurst von mittelfester Konsistenz aus seinem Darm, die ins Gras fiel. Ein Stuhl, den jeder Arzt wohlwollend betrachten würde, weil er von gutem Stoffwechsel und Gesundheit zeugt.

Der Hundebesitzer wandte sich ab, rief seinen Hund und wollte weitergehen. Doch sein Hund kam nicht, was ihn zum Verweilen zwang. Auf der Wiese neben uns scheuchte ein großer Afghanischer Windhund in flottem Tempo Krähen aus dem Gras. An der Gestik des Hundebesitzers konnte ich erkennen, dass es sein Hund war.

Afghane beim Krähenscheuchen

Als der Windhund endlich auf die Rufe seines Besitzers hörte und zu diesem kam, hatte Vorderbrandner sein produziertes Häufchen in den Beutel eingetütet, das Taschentuch, mit dem er sich abgewischt hatte, dazugeworfen, und den Beutel mit einem Knoten verschlossen. Der Hundebesitzer hatte sich bereits einige Schritte entfernt. Vorderbrandner lief ihm nach und wollte ihm den Beutel überreichen. Der Hundebesitzer ignorierte Vorderbrandner, doch Vorderbrandner ließ nicht locker, sodass der Hundebesitzer schließlich entnervt stehenblieb, sich zu ihm wandte und sagte: „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich Ihre Scheiße entsorge!“

„Doch, das glaube ich! Sie entsorgen doch die Scheiße Ihres Hundes auch. So groß wie der ist, glaube ich nicht, dass seine Scheiße leichter und weniger geruchsintensiv ist als meine.“

„Lassen Sie mich in Frieden!“ rief der Hundebesitzer, während sein Afghane schon wieder in vollem Tempo die Krähen im Gras scheuchte. In diesem Moment schlug Vorderbrandners Provokationslust in Zorn um, und er schrie erbost: „Du elender, hundebesitzender, tierquälender Stadtneurotiker, der seinen Hund mit seinen Neurosen zuscheißt und als Dank dessen Scheiße im Beutel herumträgt! Glaub ja nicht, dass ich dir jemals einen Beutel leihe, wenn du dringend kacken musst! Gib deinen entarteten, ungehaltenen, neurotisierten Köter sofort an die Leine, sonst ruf ich die Polizei!“

Während der Hundebesitzer unbeirrt, ohne sich noch einmal umzudrehen, sich von uns entfernte, sein Afghane es aufgab, die erbosten Krähen zu scheuchen und ihm nachlief, ritten in unserer Nähe zwei Polizisten auf Pferden vorbei. Vorderbrandner rief sie entgegen seiner Ankündigung nicht. Stattdessen ging er mit seinem Beutel in der Hand zum Bach, um sich dort zu waschen. Ich folgte ihm. Als ich ihn erreicht hatte, drehte er sich um und sagte: „Ich verwende gar keine Sonnencremes. Ich habe das Gefühl, dass ich mit diesem Zeug nur meine Haut malträtiere.“

João Baptista und der Krieg am See

Dass ich mir diesen Wunsch erfülle, wieder einmal an den See zu fahren, darüber bin ich glücklich. Ich gehe den Weg am Waldrand entlang, der mich zum See führen wird. Nach einer kleinen Biegung um Gesträuch herum blicke ich nach vorn – und sehe am Weg, ganz eindeutig: Henriette. Henriette! Dass ich bei meinem Ausflug an den See ausgerechnet Henriette treffe, darüber bin ich nicht so glücklich.

Ich sollte erklären, warum ich so gern an den See fahre: Ich fahre an den See, um meinen inneren Frieden zu finden, und hoffe, dabei auf Gleichgesinnte zu treffen. Henriette habe ich als eine Person in Erinnerung, die ihren inneren Krieg in die Welt projiziert und dieser Welt ihren Unmut darüber kundtut. Also als eine Andersgesinnte.

Sie gehen sehr langsam vor mir, Henriette und ihr dunkelhaariger Begleiter. Meine Schritte werden ebenfalls langsamer und ich überlege, ob ich umkehren soll; ob ich im Wald verschwinden soll. Ob ich irgendetwas tun soll, um ein Treffen zu vermeiden. In diesem Moment dreht sich Henriette um, unsere Blicke treffen sich. Zu spät für eine Flucht. Sie und ihr Begleiter bleiben stehen. Ich schreite dem Unentrinnbaren entgegen. Während mein Körper sehr steif wird und meine Beine sehr schwer, spüre ich, wie mein innerer Frieden in eine heftige Schieflage gerät, ja mehr noch, wie sich Krieg in mir ausbreitet.

„Emil, grüß dich!“ sagt Henriette. Ich kenne die Süße in dieser Stimme, die die darunterliegende Aggression verbergen soll, ohne es zu schaffen. Sie zeigt auf ihren Begleiter: „Das ist João Baptista, mein Freund“. João Baptista ist sehr muskulös, wirkt gleichzeitig aber sehr eingeschüchtert. Ohne nachzufragen und weiter darüber nachzudenken, ordne ich ihn als Brasilianer ein.

Ich gehe mit Henriette und João Baptista weiter den Waldpfad entlang zum See. Henriettes Erscheinung ist die einer militanten Grünen, die ihre Umwelt vergewaltigen will. Ihre sackigen Gewänder, mit denen sie sich kleidet, wirken wie eine Waffe, die jederzeit den Tod durch Ersticken herbeiführen kann. João Baptista scheint sich dieser Gewalt widerstandslos zu unterwerfen und sich devot seiner schleichenden Erstickung hinzugeben. Ich stelle mir seine Wirklichkeit so vor: Alle Frauen sind Huren, seine Mutter ist eine Heilige. Da seine Mutter weit weg in Brasilien ist, ist Henriette seine deutsche Ersatzmutter. Ich spüre, wie der Krieg in mir tobt. Dabei bin ich an den See gefahren, um meinen inneren Frieden zu finden.

An der Wiese am See angekommen, breitet Henriette eine Decke aus, auf die sie und ich mich setzen, während João Baptista neben uns im Gras stehen bleibt. Ich bin irritiert und frage Henriette, warum er stehenbleibt und sich nicht zu uns setzt.

„In Brasilien stehen die Männer am Strand immer. Sich zu setzen ist ein Zeichen von Schwäche, von Weichheit.“

„Erstens sind wir nicht in Brasilien, zweitens will ich nicht als Schwächling gelten, nur weil ich mich ins Gras setze!“ sage ich etwas ungehalten. Der Krieg in mir wird heftiger. Mir wird heiß. Ich ziehe mein Shirt aus und lege mich auf den Bauch, um mich zu beruhigen. Als ich auf dem Bauch liegend zu João Baptista aufschaue, bemerke ich Entsetzen in seinen Augen. Er geht hastig einige Meter weg von uns, bleibt dann wie angewurzelt stehen und blickt demonstrativ in die andere Richtung.

„Was hat er denn jetzt?“ frage ich genervt.

Henriette beugt sich zu mir: „Wenn sich in Brasilien ein Mann öffentlich auf den Bauch legt, ist das ein eindeutiges Zeichen, dass er schwul ist. Deshalb ist er irritiert.“

Ich spüre plötzlich eine starke Solidarität mit den Schwächlingen und Schwulen dieser Welt, obwohl ich bis eben noch nicht wusste, dass ich mich diesen Gruppen besonders zugeneigt fühle. Der Krieg ist jetzt endgültig in mir ausgebrochen und bahnt sich einen Weg nach draußen. Ich stehe auf, reisse mir die Hose vom Leib und renne zu João Baptista. Ich tanze nackt um ihn herum, mit heftigen Hüftbewegungen. Dazwischen werfe ich mich vor ihm auf den Boden. Ich strenge mich an bis aufs äußerste, um ihm ein schwuler Schwächling zu sein. João Bapista bleibt während meiner Performance wie angewurzelt stehen, mit starrem Blick. Schickt er Stoßgebete zu seiner Mama nach Brasilien, während die männliche Hure schlimmer als in seinen Albträumen um ihn tanzt?

Ich remple ihn an, rufe: „Sag was, du verklemmter Kraftprotz!“ Er bleibt stoisch stehen. Ich pralle an seinen Muskeln ab. Ich spüre, dass ich diesen Krieg nicht gewinnen kann. Es bedarf einer Abkühlung der Fronten. Ich laufe zur Decke, zu Henriette, sage: „Henriette, zieh dich aus, geh baden mit mir!“

„Aber doch nicht nackt!“

„Doch, nackt! Entblöße dich, zeige dich der Welt, und die Welt wird sich dir zeigen, schöner als du es dir jemals vorstellen konntest!“ Ich laufe mit Freudengeschrei zum Wasser und tauche ein ins kühle Nass. Ich stelle mir vor, wie Henriette ihr sackiges Kriegsgewand über ihren Kopf stülpt und mir nachläuft.

Beim Auftauchen rufe ich: „Der Krieg ist aus, es lebe der Friede!“ und sehe, wie Henriette hastig die Decke zusammenfaltet, um mit João Baptista die Wiese zu verlassen.

Knatternde Ungeheuer in Fröttmaning

Nein, er sei kein Oköfritze, sagt er. Er habe auch nicht vor, die Nachfolge von Dieter Wieland anzutreten, wenngleich er Dieter Wieland sehr schätze. Alles, was er sagen wolle, würden die Bilder sagen, die gleich gemacht würden, wenn die Kamera angeht. Es sei im übrigen keine nette Geschichte, sondern eine Tatsache, dass sein Urgroßvater am 9. Juni 1927, einem Donnerstag, hier gestanden sei, genau hier, vor der Kirche, wo er jetzt steht. Das wisse er so genau, weil sein Vater es ihm erzählt habe, dem es wiederum sein Vater, also sein Großvater, erzählt habe, der als Bub daneben gestanden sei, neben seinem Vater, also seinem Urgroßvater. Denn es sei ihm wichtig zu betonen, dass er hier die Wahrheit erzähle und nicht irgendeine nette Geschichte!

Er fragt die Crew, ob die Kamera bereit sei und sie zu filmen beginnen könnten, aber die Kamera ist noch nicht bereit, und so fragt einer der Umstehenden, was denn sein Urgroßvater damals gemacht hätte, am 9. Juni 1927, einem Donnerstag, als er hier vor der Kirche stand.

Mein Urgroßvater wollte mit meinem Großvater von München nach Freising fahren, mit dem Fahrrad, sagt er, und dann habe er hier eine Pause gemacht, vor der Kirche. Plötzlich wurde es unglaublich laut. Ein Auto aus München näherte sich auf der holperigen Landstraße, umgeben von einer Staubwolke. Der Motor des Autos machte einen Höllenlärm. Die Explosionen im Zylinder des Motors waren so laut, dass mein Urgroßvater und mein Großvater dachten, der Motor müsse jeden Moment als ganzes explodieren. Aber die Explosionen blieben kontrolliert im Zylinder. Als der Wagen an ihnen vorbeifuhr, beschimpfte mein Urgroßvater den Fahrer desselben und rief, er solle sein knatterndes Ungeheuer doch gegen einen Baum fahren! Andernfalls würde die Menschheit an diesem Lärm bald zugrunde gehen.

„Wir wären soweit!“ ruft der Kameramann dazwischen. Die Umstehenden gehen aus dem Bild. Die Kamera geht an, auf ihn gerichtet, wie er vor der Kirche steht. Er sagt:

„Meine lieben Zuschauer, grüß Gott! Ich begrüße Sie heute von einem Ort, den es eigentlich gar nicht mehr gibt. Früher gab es ihn, aber dann wurde er zunächst zur Mülldeponie und stinkenden Kloake im Norden Münchens, und schließlich musste er den Autobahnen weichen, die sich heute genau an seinem früheren Platz kreuzen. Warum kennt man diesen Ort nun wieder, obwohl es ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gibt? Weil ihm gegenüber, auf der anderen Seite des… des Flusses wollte ich schon sagen – auf der anderen Seite der Autobahn, die mit ihrem dichten Verkehrsfluss aber mindestens genauso schwer querbar ist wie ein echter Fluss – seit nunmehr über zehn Jahren ein großes Fußballstadion steht, die Allianz-Arena. Jetzt wissen die meisten von Ihnen, wo ich stehe, und zwar in Fröttmaning, der Pilgerstätte der Fußballgläubigen, der Anhänger des allmächtigen FCB. Ich stehe aber nicht vor der Allianz-Arena, dem modernen Tempel, sondern vor der inmitten von Bäumen versteckten Heilig-Kreuz-Kirche, dem letzten verbliebenen Rest des ansonsten versunkenen Dorfes Fröttmaning.“

Blick vom Müllberg auf Fröttmaning: rechts die Heilig-Kreuz-Kirche, hinter den Bäumen die vorbeiführende Autobahn, dahinter die Allianz-Arena

„Danke, Schnitt! Wir drehen oben am Müllberg weiter. Das Licht ist dort optimal heute!“ ruft der Lichtmeister.

Er blickt kurz irritiert ob des unvorhergesehenen, abrupten Endes seines Vortrages, nutzt die Pause aber dann und geht unter einen der Bäume, die die Kirche mit ihrem kleinen Friedhof säumen. Einer der Umstehenden ist ihm wieder gefolgt und sagt, dass ihm die Geschichte mit dem Urgroßvater, der am 9. Juni 1927 hier vor der Kirche gestanden sei, nicht aus dem Kopf gehe.

„Was fasziniert Sie an der Geschichte? Dass mein Urgroßvater Autos knatternde Ungeheuer nannte und dachte, sie würden die Menschheit zugrunde richten? Lauschen Sie mal den Autos auf der Autobahn: Wieviele Explosionen finden da statt in den Motoren! Nicht mehr mit lautem Knall, sondern sehr kontrolliert, aber unüberhörbar. Eine Explosion nach der anderen. Und wir mittendrinnen! Deshalb bin ich so gerne hier, in dieser Oase der Ruhe, umgeben von all dem Lärm! Ein Auto war meinem Urgroßvater schon zuviel, und ich begebe mich freiwillig unter hunderte von ihnen, die in einem Affentempo an uns vorbeiknattern! Durch die Bäume betrachtet könnte man meinen, es seien lauter kleine Ungeheuer. Ist das nicht verrückt! Und dann der ganze Müll, der hier immer noch rund um uns deponiert wird! Ein irrer Ort! –

Entschuldigen Sie, ich halte Vorträge! Deshalb bin ich zum Fernsehen gegangen, um für mein Gerede bezahlt zu werden. Denn das ist das einzige, was ich kann.“

„Reden Sie weiter, bitte! Ich würde mir allerdings wünschen, dass Sie solche Dinge öfter vor der Kamera sagen! Wieso erzählen Sie die Geschichte ihres Urgroßvaters und den knatternden Ungeheuern eigentlich nur mir und nicht den Zuschauern im Fernsehen?“

„Zu unbedeutend. Zu banal. Interessiert keinen. Kommen Sie mit zu den Dreharbeiten oben am Berg! Dort reden wir weiter!“

Fröttmaning am Autobahnkreuz München-Nord

Welt Wer Worte