Schauerschaft

Man sagt, die sogenannte Leserschaft ist eine aussterbende Gruppe von Menschen. Man ist geneigt, in Zeiten der Instagramisierung des Lebens von der Seherschaft zu sprechen, eine Menschengruppe, die immer größer zu werden scheint. Seherschaft verbinde ich jedoch zu sehr mit dem klassischen Fernsehpublikum, deshalb spreche ich lieber von Schauerschaft.

Zu dieser Gruppe rechne ich mich durchaus auch, nur dass ich lieber in die Natur schaue als in das multimediale Gerät namens Smartphone. Ich schaue zum Beispiel gern das Wasser an, auch die Bäume, vor allem den Himmel. Um die Jahreszeit, wenn der Frühling sich ankündigt, bin ich besonders fasziniert von den Niederschlägen, die der Himmel von sich lässt, und ich werde dann zum Schnee-, Hagel-, Graupel- und Regenschauer.

Regenschauer (Foto: Stephanie Eder)

Wie stehe ich nun zur Leserschaft? Bekenne ich mich zu dieser aussterbenden Gruppe, trotz allem eigenen Schauens? Nun, ich liebe die Buchstaben, diese abstrakten Zeichen, am liebsten in der Schriftart Courier New, deshalb hängt dieses Bild über meinem Schreibtisch, damit ich es immer anschauen kann:

Buchstaben und ihre kunstvolle Aneinanderreihung zu Wörtern und Geschichten erzeugen in mir Bilder, die anders sind als die einer Kamera. Persönlicher. Intimer. Ich kann mir ein Leben ohne Buchstaben nicht vorstellen, denn sie veranschaulichen mir mein Leben auf eine einzigartige Weise.

 

Von Brüsten, Gelen, Meisen und Unterorten (aus dem Leben des Max Klopfer) – Teil 2

Fortsetzung von Teil 1

…Ich war bewusstlos gewesen, hat man mir später erzählt.“
Max kaute an einem seiner Fingernägel, sah mich kurz an und erzählte weiter: „Barbara hat mich im Krankenhaus besucht und gemeint, dass es besser ist, wenn wir uns nicht mehr sehen. Sie stand an meinem Krankenbett, genauso überwältigt wie ich von unserem ersten Mal. Diese Nähe hatte uns aufgewühlt. Sie war total schockiert von meinem Sturz. Sie wusste, wie viel mir das Schispringen bedeutet und fühlte sich schuldig. Und ich? – Ich hatte das Vertrauen verloren. Ich verurteilte mich dafür, dass ich von Schanzen gesprungen bin, dass ich mich verantwortungslos den Kräften der Luft ausgeliefert hatte. Aber nicht nur für das Schispringen, für mein ganzes Leben hatte ich das Vertrauen verloren. Alle Frauen nach Barbara habe ich total kontrolliert, bis mich eine jede wegen meiner Eifersucht verließ. Keine Lust mehr auf Brüste, ohne dass ich mich zwanghaft an sie klammere. Ich kann nicht loslassen. Als hätte sich mein ganzes Leben damals in der Anfahrt auf der Kälberschanze vor mir gezeigt. Ich kenne das Gefühl nicht mehr, das ich hatte, als ich von den Schanzen gesprungen bin: totales Vertrauen, in die Luft eintauchen, sich tragen lassen. Zuversicht, dass das, was passiert, gut ist.“
„Und jetzt?“
„Was jetzt?“
„Was machst du jetzt?“
„Jetzt? Sitze ich vor dem Computer, um Geld zu verdienen. Abends spiele ich in der Band. Die Musik gibt mir ein bißchen Freiheit. Nicht so wie damals auf den Schanzen, aber wenigstens ein bißchen.“

In meiner Euphorie über unser Wiedersehen hatte ich die Idee, mit Max gemeinsam einen Abend zu gestalten. Max: Musik. Ich: Texte.
„Kennst du das Bürgerhaus in Unter…?“
„Kenn ich!“ unterbrach mich Max.
„Dann lass uns dort auftreten! Ich kenn den Leiter.“
„Ich auch.“

Josefine – ich hatte ihr geschrieben wo ich war – platzte in unsere Unterhaltung. Josefine zu treffen ist jedesmal ein neues Erlebnis. Ihre Neugier auf das Leben steckt mich an. Ihre Zufriedenheit mit ihrem Frausein gibt mir Zufriedenheit mit meinem Mannsein. Lächelnd grüßte sie Max und gab mir einen Kuss. Max musterte Josefine und fixierte anschließend seinen Blick auf ihre Brüste, obwohl es bei Josefine von der Größe her da gar nicht so viel zu sehen gibt.
„Alles in Ordnung, Max?“ fragte Josefine.
Max blickte verwirrt.
„Ich glaube, er findet dich schön“, sagte ich und dachte mir: Tiran mas dos tetas que dos carretas.

Am nächsten Tag rief ich im Bürgerhaus an. Wir konnten tatsächlich an unserem Wunschtermin auftreten. Ich informierte Max, er meinte, er hätte auch angerufen, aber niemand hatte etwas zu ihm gesagt von einem bereits gebuchten Termin. Wir machten uns deswegen aber keine weiteren Gedanken.

Unsere Proben für den Abend waren mühsam. Max moserte ständig rum, war nie zufrieden. Er probierte an seiner Musik, um schließlich alles Erarbeitete über den Haufen zu werfen. Meine Texte fand er unpassend. Einmal kommentierte er: Das ist so schlecht, das kannst du nicht bringen. Wir kamen nicht voran. Ich wollte hinschmeissen, das Ganze absagen. Aber ich tat es nicht. Ich glaube, Max tat mir leid. Oder war ich nur zu feige?

Der Tag unseres gemeinsamen Auftritts war ein lauer Frühlingstag. Um sechs Uhr abends verließ ich widerwillig Josefine und Clarissa, die bei mir waren, und radelte nach Unterschleißheim, zum Bürgerhaus. Zorn kam hoch in mir, Zorn auf Max und seine Unzufriedenheit. Zorn auf mich selbst, mich auf diesen Abend eingelassen zu haben. Erst im aufblühenden Frühlingswald vor Unterschleißheim beruhigte ich mich. Meine Gedanken blühten auf. Es waren faunische Gedanken: Die Sprache teilt Tiere in unlogische Kategorien ein, zum Beispiel die Gattung der Gele in die Untergattungen Igel und Vogel. Oder die Gattung der Meisen, ihrerseits eine Untergattung der Vögel, in Ameise und Kohlmeise. Was haben Igel und Vogel oder Ameise und Kohlmeise gemeinsam? Da haben doch Igel und Ameise mehr gemeinsam: Ihren Obergattungsnamen Gel und Meise werden lediglich die Vokale I und A vorangestellt. I und A, das ließ mich an den Ruf des Esels denken, und ich stellte mir Esel, Igel und Ameise als Unterschleißheimer Stadtmusikanten vor. Mit diesem Gedanken kam ich beim Bürgerhaus an.

Wieder kam Zorn in mir hoch. Max war noch nicht da. Was ich gut fand und ich ihm zugleich vorwarf. Wo war dieser verpeilte Arsch nur? Eine halbe Stunde vor Beginn – der Saal begann sich langsam zu füllen – war er immer noch nicht da. Ich rief ihn nicht an. Soll er bleiben, wo der Pfeffer wächst! Meine Aufmerksamkeit begann sich auf den anstehenden Soloabend zu richten, mein Groll wandelte sich in unbändige Kraft. Ich fühlte mich frei, wie ein Schispringer, in die Luft geschleudert und ihr vollkommen ausgeliefert. Ich lieferte mich meinen Texten aus, tauchte in sie ein, erzählte zwischendurch von Gelen, von Meisen und von den Unterschleißheimer Stadtmusikanten und am Ende fühlte es sich an wie eine blitzsaubere Telemarklandung.

Zurück in der Garderobe, erschöpft und glücklich, rief ich Max an:
„Wo bist du?“
„Am Fröttmaninger Berg.“
„Was machst du am Fröttmaninger Berg?“
Max hatte aufgelegt. Ich schwang mich auf mein Fahrrad und trat heftig in die Pedale. Ich fuhr zum Fröttmaninger Berg. Dort fand ich Max unter dem Windrad, ans Geländer gelehnt, den Kopf gesenkt.
„Wo warst du?“
„In Föhring. Und du?“
„In Schleißheim.“
Wir hatten das kunstvolle Missverständnis produziert, dass Max im Bürgerhaus Unterföhring aufgetreten war und ich im Bürgerhaus Unterschleißheim.
„Wie war dein Auftritt?“
„Ich habe meine Gitarre zertrümmert und das Publikum beschimpft. Dann bin ich hierher gefahren.“
Wir schwiegen und sahen auf die Lichter der Stadt unter uns. Nach einer Weile sagte Max mit tränenerdrückter Stimme: „Ich hätte nicht aufhören sollen. Das Schispringen war doch alles für mich. Ich elender Feigling!“

Wir hörten hinter uns Geräusche und drehten uns um. Josefine und Clarissa stellten ihre Fahrräder ab. Max Augen zeigten großes Erschrecken beim Anblick der beiden. Er rannte weg und verschwand in der Dunkelheit.

Orte des Geschehens

Kleine Skisprungkunde mit Toni Innauer

Von Brüsten, Gelen, Meisen und Unterorten (aus dem Leben des Max Klopfer) – Teil 1

Max Klopfer und ich haben als Kinder viel Zeit miteinander verbracht. Besonders an unsere gemeinsam verbrachten Winter erinnere ich mich. Sobald genug Schnee lag, stapften wir mit unseren Schiern von unserer Siedlung zur nahegelegenen Leiten und fuhren sie runter, gingen sie rauf, fuhren sie runter, stundenlang. Eine besondere Leidenschaft entwickelten wir beim Bau von Schanzen, über die wir dann sprangen. Immer größer und tollkühner wurden unsere Schanzen. Wir übertrieben es: Einmal stürzte Max, holte sich unzählige blaue Flecken und brach sich einen Finger. Zwei Tage später aber war er schon wieder am Hang, mit einer Schiene an der Hand. Sein Vater war mitgekommen und belehrte uns:
„Jungs, ihr müsst eure Schanzen mehr in den Hang bauen, nicht so weit unten wo es schon flach wird.“
„Aber dann ist der Anlauf zu kurz!“ monierte Max.
„Der ist schon noch lang genug! Oder willst du dir Arme und Beine auch noch brechen!“
Max war ruhig.
„Außerdem“, meinte sein Vater weiter, „müsst ihr den Tisch der Schanze flacher und nach unten bauen. Dann katapultiert es euch nicht mehr so hoch in die Luft und ihr landet weicher.“
„Aber das ist doch langweilig!“ monierte Max.
„Nein, ihr springt dann flüssiger und weiter.“
Max Vater baute mit uns eine neue Schanze, die wir natürlich sofort nach Fertigstellung besprangen. Wir sprangen weiter und flüssiger, mit weniger Anlauf.
„Toll!“ sagte ich zu Max, als sein Vater gegangen war: „Woher weiß er das alles?“
„Das hat ihm sein Onkel Heini gezeigt.“

Max Leidenschaft für das Schispringen wurde so groß, dass unsere Leiten dafür zu klein wurde. Sein Vater fuhr mit ihm zu den Schanzen am Kälberstein, wo er immer weiter springen konnte. Schließlich ging er ins Sportgymnasium, weil er Schispringer werden wollte. Ich sah Max jahrelang nicht mehr, hörte nur über ihn und von seinem großen Talent fürs Schispringen. Jahre später, bei der deutschen Juniorenmeisterschaft auf der großen Kälbersteinschanze, habe ich zugeschaut. Max war einer der Favoriten auf den Sieg. Doch im ersten Durchgang stürzte er schwer. Seinen Sprung habe ich als sehr merkwürdig in Erinnerung: Völlig unkoordiniert und irgendwie leblos fiel er den Hang entlang, krachte hart und früh im Steilen auf und rutschte mit hoher Geschwindigkeit ins Flache. Unter den Zuschauern war große Unruhe, viele kannten ihn ja. Von ihm sah ich nichts im Getümmel, nur noch die blauen Lichter des Rettungswagens, der ihn abtransportierte.

Nun muss ich den Übergang zur näheren Vergangenheit herstellen. Diese nähere Vergangenheit ist einige Monate her, und sie gestaltete sich so, dass Max und ich uns über den Weg liefen. Nicht bei einem Heimatbesuch an der Leiten, wie zwei Nostalgiker, die auf ihr bisheriges Leben zurückblicken, sondern an einer Kreuzung, als wir mit unseren Fahrrädern auf das Grün der Ampel warteten. Genau genommen liefen wir uns nicht, sondern fuhren wir uns über den Weg. Nach über zwanzig Jahren fuhr ich meinem Kindheitsfreund Max Klopfer über den Weg. Max hatte einen Koffer auf seinen Rücken geschnallt, in dem eine Gitarre steckte. „Komme von der Probe“, sagte er. „Ich auch“, sagte ich. Anschließend gingen wir gemeinsam in eine Kneipe.

Als wir saßen, sagte ich: „Das letzte Mal habe ich dich gesehen bei deinem Sturz am Kälberstein.“
Max wurde nachdenklich: „Mein Sturz am Kälberstein…“, wiederholte er und blickte innerlich zurück, „der war ein Einschnitt in meinem Leben. Ich bin danach nie mehr von einer Schanze gesprungen.“
„Waren deine Verletzungen so schwer?“
„Nein, nein, das wäre schon wieder gegangen: Gehirnerschütterung, schwere Prellungen, aber sonst nichts. Ich hab mich wacker geschlagen. Nein, nein: Ich hatte kein Vertrauen mehr.
Ich hab mich damals, in den Wochen vor dem Springen, mit Barbara getroffen, meiner ersten Freundin. Und genau am Abend vor dem Springen haben wir zum ersten Mal so was wie Sex gehabt, naja…, wir kamen uns sehr nahe, es war das ungelenke und ängstliche Tun zweier Teenager, aber sehr schön. Sehr schön. Es hat mich total überwältigt. Ich hab bei ihr geweint, so überwältigt war ich. Jemandem so nahe zu sein, das hat mich umgehauen.
Am nächsten Tag auf der Schanze war es komisch. Ich hatte kaum geschlafen, musste mich aufrappeln. Ich hatte keine Lust auf das Springen. Das kannte ich nicht. Bis dahin war ich immer der erste an der Schanze gewesen. Der Probesprung ging in die Hose: Mit zitternden Beinen fuhr ich den Anlauf hinunter, erwischte den Absprung nicht gut, sprang kurz und landete wackelig. Im ersten Wertungsdurchgang saß ich auf dem Balken und fühlte mich völlig abwesend. Ich stieß mich ab mit einer Art ferngesteuerter Routine, und als ich den Anlauf hinunterfuhr, geschah etwas, das mich hinterrücks überraschte: Ich dachte plötzlich nur noch an Barbaras Brüste. Ich fand Barbara wunderschön, aber ihre Brüste hatten es mir besonders angetan, diese weichen zarten Äpfelchen. Ich dachte nur noch an ihre Brüste, ich bekam Panik, plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich das überhaupt nicht kann, mich mit Schiern an den Füßen in die Luft zu katapultieren und den Hang hinunterzugleiten. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz, wollte bei Barbara sein, da schleuderte es mich in die Luft, ich wusste nicht was ich tun soll, der Hang kam näher und dann war plötzlich alles dunkel…

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Unnutzenschema nach Hinterstoisser

Die Wirtschaftswissenschaft ist eine putzige Wissenschaft: Menschliche Phänomene, denen nach menschlichen Maßstäben eine Komplexität innewohnt, versucht sie in simple, triviale Formeln zu packen. Sie bedient sich dabei willkürlich und nach Lust und Laune der Psychologie und der Mathematik. In der komplexen Praxis greifen diese simplen, trivialen Formeln viel zu kurz. Sie sind viel zu kurz gedacht. Aber Langdenken geht in der Wirtschaftswissenschaft nicht, sie ist eine anwendungsorientierte Wissenschaft. Alles muss von Nutzen sein. Der Nutzen von Kurzdenken ist höher als der Nutzen von Langdenken, so die innewohnende Logik, denn Denken an sich bringt keinen Nutzen. Vielleicht ist das schon zu lang gedacht.

Ich wollte einmal eine Geschichte schreiben mit dem Titel Der Nutzen des Apfelbutzen, es wurde nur ein unnützes Gedicht daraus: Die Würmer krochen hinein, zersetzten ihn gar fein. Aber was interessiert Apple der Apfelbutzen: Es geht nicht um Würmer, sondern um schnieke Geräte, von denen Menschen abhängig gemacht werden, damit sie glauben, sie zu brauchen, oder, um es wirtschaftswissenschaftlich simpel und trivial auszudrücken: dem stofflich-technischen Grundnutzen wird ein geistig-seelischer Zusatznutzen aufgepfropft. Dies geht aus dem sogenannten Nutzenschema der Nürnberger Schule nach Vershofen hervor, das die Wirtschaftswissenschaft in jenen Bereichen zur Wahrheitsfindung heranzieht, in denen sie es als nützlich erachtet. Wahr ist, was nützlich ist, lautet der Leitsatz der Erkenntnis, kurz gedacht und wahr gemacht.

Als Freund der Dualität der Dinge leitete ich aus dieser Erkenntnis den Satz Unwahr ist, was unnütz ist ab und wollte daraus in einem ersten Schritt ein Unnutzenschema entwickeln, an dem sich die Menschen orientieren, die im Unnutzen mehr Unwahrheit sehen als im Nutzen Wahrheit. Ich kam jedoch bei meiner Arbeit, die ich zunächst am Schreibtisch verrichtete, nicht voran, ich sah keinen Nutzen in ihr und auch keinen Unnutzen, und so beschloss ich, einen physischen Schritt zu tun, einen unnützen, dem keine simple, triviale Formel zugrundelag. Ich ließ dem ersten unnützen Schritt weitere unnütze Schritte folgen, die mich zu meinem Fahrrad führten. Dann fuhr ich mit meinem Fahrrad in die Unnützstraße, eine unnütze Aktion, könnte man sagen, doch ich erhoffte mir dort neue Erkenntnisse, und tatsächlich: In der Unnützstraße hing die Sonne unnütz auf kahlen Bäumen rum:

Agnieszka, die Trampolin

Die Vorteile der U-Bahn weiß ich als Großstadtbewohner durchaus zu schätzen. Mit rasender Geschwindigkeit und ohne Hindernisse im Untergrund von A nach B zu gelangen, wie ein Hochgeschwindigkeitsmaulwurf: Es gibt kein schnelleres innerstädtisches Verkehrsmittel. Dennoch bewege ich mich lieber auf der Oberfläche, mit dem Fahrrad, oder, wenn ich Zeit habe, zu Fuß. Ich bin halt doch ein Mensch und kein Maulwurf.

Vor zwei Wochen, als ich Zeit hatte und es mir zu kalt und zu weit war, um zu Fuß zu gehen, nahm ich die Tram. Im winterlichen Sonnenschein stieg ich am Stachus ein. Ich war glücklich, mich fortzubewegen, dabei etwas zu sehen und mich nicht auf den Verkehr konzentrieren zu müssen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Umgebung, die an mir vorbeizog. Auf die Häuserfassaden in der Sonne und im Schatten und auf die Leute davor auf den Gehsteigen. Auf die kahlen Äste der Laubbäume im flachen Licht und den blauen Himmel dahinter. Die Tram selbst war locker gefüllt, und bei meinem Blick durch den Waggon fiel mir eine Frau auf: Dunkelblond, wohl zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt, hübsch, anmutig. Aber das ist nebensächlich, denn was mich vor allem faszinierte, war ihr Blick. Ein stolzer Blick, der die tiefe Sehnsucht hinter diesem Blick nicht verbergen konnte. Eine zarte Traurigkeit schimmerte durch. Kurz schauten wir uns in die Augen, aber ihr Stolz ließ sie sofort wieder wegschauen. Nach zwei oder drei Fahrminuten ertappte ich sie dabei, wie sie noch einmal zu mir schaute. Sofort schaute sie wieder weg. Für die Gewissheit meiner Bewunderung hätte sie fast ihren Stolz geopfert. Ich fühlte mich stark, begehrt, ich spürte die Liebe. Zufrieden stieg ich an der Schellingstraße aus und ging pfeifend am Gehsteig entlang zu mir nachhause.

All das hätte ich wahrscheinlich schon vergessen und würde es nicht erzählen, wenn ich nicht vor einer Woche wieder mit der Tram gefahren wäre und genau diese Frau wieder getroffen hätte. Unsere Blicke trafen sich, ganz kurz, immer sofort unterbrochen von ihrem Stolz. Ich stieg nicht aus an der Schellingstraße. Am Elisabethmarkt stieg sie aus. Ich auch. Ich folgte ihr durch die Marktstände. Dann ging sie geradeaus weiter in die Agnesstraße. Ich folgte ihr nicht weiter, sondern bog nach links ab. Pfeifend ging ich den Gehsteig entlang und stellte mir vor, dass die Stolze aus der Tram eine Polin ist. Ihre dunkelblonden Haare und ihr blasses Gesicht mit seinen etwas kantigen Zügen machen sie zu einer slawischen Schönheit. Ihr Stolz ist auch slawisch, der Stolz, mit dem sie ihre Unsicherheit überspielen will, ihre große unerfüllte Sehnsucht. Ach, was schreibe ich da über slawische Schönheit! Sie ist eine Polin! Punkt. Weil es mir so gefällt! Weil ich mich durch diese Geschichte noch mehr in sie verliebe. Kurz überlegte ich, ob ich sie Elzbieta oder Agnieszka nenne, entschied mich für Agnieszka und stellte mir vor, wie Agnieszka die Agnesstraße entlanggeht und sich nach der Liebe sehnt.

All das würde ich nicht erzählen, hätte die Geschichte mit Agnieszka nicht gestern eine Fortsetzung gefunden: Ich war in der Sauna. Zwischen meinen Gängen nahm ich ein Fußbad und las in der Charakteranalyse von Reich. Als ich kurz aufblickte, sah ich am anderen Ende des Raumes Agnieszka. Ich sah sie von der Seite, sie trocknete sich ab. Ich fand sie wunderschön mit ihrem nackten Körper. Ich konnte meine Blicke nicht abwenden. Dann blickte auch sie zu mir, und ich bilde mir ein, ja, ich bin mir sicher: Sie hat mich sofort erkannt. Sie drehte sich in meine Richtung und streckte ihren Oberkörper, sodass ihre Brüste, ihr Bauch und ihre Beine voll zur Geltung kamen. Stolz präsentierte sie sich. Flammend spürte ich mein Begehren. Im nächsten Moment warf sie sich ein Handtuch um und mir einen stolzen Blick zu. Dann schaute sie in die Weite, vielleicht in ihre Sehnsucht, und ging an mir vorbei aus dem Raum, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Ich blieb sitzen, legte aber die Charakteranalyse zur Seite, in der ich nicht mehr gelesen, sondern mich nur daran festgehalten hatte. Agnieszka! Nur du! Jetzt! Ich fühlte mich sehr lebendig, vom Leben geküsst. Flammendes Begehren. Was jetzt? Ich nahm eine Dusche. Unter der Dusche sah ich die chaotischen Verstrickungen der Unliebe hinter Agnieszkas Stolz. Enttäuschte Liebe, von Kindheit an. Agnieszka ist verliebt in die Sehnsucht nach der Liebe und hat Angst vor der Liebe. Agnieszka? Wie komme ich überhaupt darauf, sie Agnieszka zu nennen? Was für eine lächerliche Geschichte! Ich gehe aus der Dusche und trockne mich ab. Ich beschließe, nicht weiter über Agnieszka nachzudenken. Ich beschließe, die kurzen liebevollen offenen Momente zwischen uns so zu belassen, wie sie sind, ohne weitere Kommentierung: Agnieszka, die schöne Polin aus der Tram, die ich in der Sauna getroffen habe.

Als ich das Handtuch zur Seite lege, sehe ich sie kommen.

Hundert, Menschert und der Baum der Selbstachtung

Hundert Hunde laufen durch den stadtnahen Wald, kurz gesagt ein Hundert. Außer Hundert gibt es in diesem Wald nur noch Tiere, die bei eins auf dem Baum sind. Keine Beute mehr für Hundert. Nur Hundert. Dabei will Hundert jagen und erforschen. Aber Hundert in der Stadt wird gefüttert vom Mensch, ist abhängig vom Mensch, domestiziert seit Jahrhunderten, vom Jagd- und Hütegefährten zum Spielzeug umgewandelt. Hundert ist wie Kinder, die nie erwachsen werden, kleingehalten zur menschlichen Ergötzung.

Hundert kommt mit Menschen in den Wald. Es laufen also mit Hundert hundert und mehr Menschen durch den stadtnahen Wald, kurz gesagt ein bis mehrere Menschert. Hundert und Menschert im Wald. Der Wald im Würgegriff. Gewalt dem Wald. Ein Bellen, Pfeifen und Schreien wie im Krieg.

Ich sitze auf einem Baum, auf den ich geflüchtet bin. Auf eine alte Buche mit kräftigen Ästen. Ich fühle mich nicht wohl im Krieg von Hundert und Menschert. Ein Krieg ohne Feind, ein Krieg mit sich selbst, ein verzweifelter Krieg. Das Hundert schnuppert und bellt verzweifelt am Stamm der Buche, auf der ich sitze. Es riecht mich. Beute? Oder ein Freund? Das Menschert bemerkt mich gar nicht. Es quält sich mit Hundert durch die ihm fremde Umgebung: auf das Mobiltelefon starrend oder in es hineinsprechend oder Probleme, die es aus der Stadt mitgebracht hat, gemeinsam oder einsam wälzend. Ohne Gefühl für den Wald, für Hundert und für sich selbst. Sind das meine Artgenossen? Ich will nicht so sein, und bin bei eins auf den Baum geflüchtet, meinen Freund.

Menschert fühlt sich nicht wohl. Das fühle ich. Aber wozu braucht Menschert zu diesem Nichtwohlfühlen Hundert? Wozu geht Menschert zum Nichtwohlfühlen in den Wald? Nichtwohlfühlen geht auch ohne Hundert. Nichtwohlfühlen geht auch in der Stadt. Und Nichtwohlfühlen wird nicht besser mit Hundert und im Wald. Nichtwohlfühlen fängt bei Menschert selbst an. So wie Wohlfühlen. Aber Menschert missachtet sich selbst und in der Folge Hundert und Wald.

Dabei schreibt sich Menschert Folgendes auf sein Haus in der Stadt:

Vor Nichts nimm dich bei Tag und Nacht
so sehr als vor dir selbst in Acht

Frage nicht was andre machen
acht auf deine eignen Sachen

Selbstachtung, das ist ein Gefühl für die eigene Würde. Und wenn ich Menschert bei seinem unwürdigen Schauspiel mit Hundert im Wald sehe – ein Schauspiel, das im sozialen und politischen Leben unter Menschert seine Fortsetzung findet -, dann denke ich: Die Würde des Menschen ist scheinbar wirklich unantastbar, denn viele kommen nicht an ihre Würde heran, tasten im Dunkeln oder machen sich nie auf die Suche, als wäre Beschäftigung mit sich selbst eine viel größere Qual als sich mit Hunden durch den Wald zu quälen.

Ich umarme die Buche, meinen Freund, auf der ich sitze, auf die ich geflüchtet bin, und fühle den Krieg. In mir. Ich frage den Baum: Liebe Buche, ist das würdig, was ich hier treibe? Ich verurteile Menschert und verurteile mich selbst. Ich achte mich nicht: Statt auf dem Boden, für den ich gemacht bin, zu laufen und unter den Menschen zu sein, hocke ich auf dir herum. Die Buche sagt nichts, und durch dieses Nichtssagen weiß ich, dass sie mich versteht, mit der Weisheit ihrer vielen Jahre. Durch ihr Geerdetsein, das sich dem Himmel dankend entgegenstreckt, komme ich auf den tiefsten Grund meines Herzens, wo alles Verurteilen ein Ende hat und meine Selbstachtung sich erstreckt wie ein weiter See.

Das Leben ohne Anfang und ohne Ende

Oben war also tatsächlich Winter. Ich muss zugeben: Ich erwartete es nicht. Denn unten: grüne Wiese und milde Luft, erwärmt durch die Sonne. Aben oben war Winter. Es lag Schnee, mit feinen Kristallen auf die Wiesen gebreitet, und sogar auf den Ästen der Bäume lag er.

Der Unterschlupf für die Nacht mit ihrer sternenklaren Kälte: ein altes Bergbauernhaus, wo die Scheite schon im Feuer knisterten. Ein altes analoges Radio auf der Anrichte, der Regionalsender der Region auf Empfang. Internationales Liedgut, unter anderem dieses:

Die Behaglichkeit der Stube und das Mondäne aus dem Radio. Die Welt tut sich auf in mir, und ich kann es spüren, wie ich mit der Erde durch den Raum schwebe. Ich sehe François Truffaut im Kino sitzen, in der letzten Reihe, knutschend mit einer jungen Frau, François Truffaut, der Mann, der das Kino mit dem Leben verwechselte, weil er von den Bildern Liebe erwartete und vom Leben nicht. Frauen und Filme, das waren seine Süchte, mit denen er dem Leben entfliehen wollte. Diese Flucht hat er mit ständigen Depressionen bezahlt, bis ein Kopftumor mit Anfang fünfzig diesem Flüchten ein Ende setzte.

In der letzten Reihe im Kino mit dir: Das ist nicht zu schön um wahr zu sein – das ist schön. Ein Moment zum Fallenlassen. Ein Moment der vergeht. Leben bedeutet auch: in der ersten Reihe stehen und Verantwortung übernehmen für das was man tut und ist. Traurig und faszinierend zugleich, wie perfekt François Truffaut die Flucht beherrschte, die Flucht vor dem Leben zu Film und Frauen. Ein Reich der Träume, die alle traurig enden.

Ich gehe raus in die Dunkelheit, ich sehe über mir die Sterne und den Mond mit seiner Sichel. Die Erde schwebt herum, und ich darf dabei sein. Es ist zu schön um wahr zu sein. Es ist wahr und schön.

Ich will mit dir ins alte Kino gehen und Geraubte Küsse ansehen:

Wir setzen uns in die letzte Reihe und sehen Antoine Doinel und Christine Darbon dabei zu, wie sie der Liebe hinterherjagen und sie dann finden in jenen kurzen Momenten, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Dabei schweben wir mit der Erde durch den Raum, und wenn wir uns küssen, dreht sich alles um mich herum, so wie sich alles dreht im Leben, ohne Anfang und ohne Ende. Und deshalb liebe ich das Leben so.

Wo waren bloß die Aale?

Es war ein unruhiger Tag. Ich gewann mit Ela im Mixed-Wettbewerb des Tiereerkennens. So erlebte ich ihn:

Nach dem Finale
gab’s die Pokale,
dazu noch eine Schale.

Dann sahen wir die Wale,
dazu noch die Schakale.
Wo waren bloß die Aale?

Am Abend, in einer Art Rückschau auf den Tag, entwickelte ich folgendes Mantra:

Elanif Elakop Elasch
Elaw Elakasch Elaa

Dieses Mantra betete ich so lange, bis sich die Unruhe des Tages in Ruhe verwandelt hatte.

Für einen Rückblick auf das Jahr empfehle ich folgendes Mantra: Jahresrückblick

Anfänge eines Autors

Emil Hinterstoisser im Selbstinterview über seine Anfänge als Autor

emilh.de: Emil, Du schreibst und sagst zu deiner Schreiberei, dass du selbst nicht genau wüsstest, was du schreibst.

Hinterstoisser: Wenn ich das wüsste, könnte ich wahrscheinlich nicht schreiben. Ich schreibe das, was mir in den Sinn kommt. Wobei manche sagen, dass mir nur Unsinn in den Sinn kommt.

Wo sind deine Anfänge als Autor?

Auf dem Land, in der Wohnküche meiner Oma. Ich war ein recht geschwätziges Kind, immer am Fabulieren. Wenn meine Oma davon zu genervt war, erzählte sie mir folgende Geschichte:

Weißt was? Gschissen hat der Has.
Möchst du's weiterwissen? Hat er weitergschissen.

Eine wunderbare Geschichte: Der Hase beim Scheißen. Eine Kurz-Groteske. Ich mag sie bis heute. Ich habe dieser Geschichte damals als Kind folgende Fortsetzung angefügt:

Möchst du's nochmal weiterwissen? Hat's ihm 's Arschloch zrissen.

Das war sozusagen mein erster dramatischer Text. Meine Oma war entsetzt über diese Fortsetzung.

Welt Wer Worte