Das Leben ohne Anfang und ohne Ende

Oben war also tatsächlich Winter. Ich muss zugeben: Ich erwartete es nicht. Denn unten: grüne Wiese und milde Luft, erwärmt durch die Sonne. Aben oben war Winter. Es lag Schnee, mit feinen Kristallen auf die Wiesen gebreitet, und sogar auf den Ästen der Bäume lag er.

Der Unterschlupf für die Nacht mit ihrer sternenklaren Kälte: ein altes Bergbauernhaus, wo die Scheite schon im Feuer knisterten. Ein altes analoges Radio auf der Anrichte, der Regionalsender der Region auf Empfang. Internationales Liedgut, unter anderem dieses:

Die Behaglichkeit der Stube und das Mondäne aus dem Radio. Die Welt tut sich auf in mir, und ich kann es spüren, wie ich mit der Erde durch den Raum schwebe. Ich sehe François Truffaut im Kino sitzen, in der letzten Reihe, knutschend mit einer jungen Frau, François Truffaut, der Mann, der das Kino mit dem Leben verwechselte, weil er von den Bildern Liebe erwartete und vom Leben nicht. Frauen und Filme, das waren seine Süchte, mit denen er dem Leben entfliehen wollte. Diese Flucht hat er mit ständigen Depressionen bezahlt, bis ein Kopftumor mit Anfang fünfzig diesem Flüchten ein Ende setzte.

In der letzten Reihe im Kino mit dir: Das ist nicht zu schön um wahr zu sein – das ist schön. Ein Moment zum Fallenlassen. Ein Moment der vergeht. Leben bedeutet auch: in der ersten Reihe stehen und Verantwortung übernehmen für das was man tut und ist. Traurig und faszinierend zugleich, wie perfekt François Truffaut die Flucht beherrschte, die Flucht vor dem Leben zu Film und Frauen. Ein Reich der Träume, die alle traurig enden.

Ich gehe raus in die Dunkelheit, ich sehe über mir die Sterne und den Mond mit seiner Sichel. Die Erde schwebt herum, und ich darf dabei sein. Es ist zu schön um wahr zu sein. Es ist wahr und schön.

Ich will mit dir ins alte Kino gehen und Geraubte Küsse ansehen:

Wir setzen uns in die letzte Reihe und sehen Antoine Doinel und Christine Darbon dabei zu, wie sie der Liebe hinterherjagen und sie dann finden in jenen kurzen Momenten, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Dabei schweben wir mit der Erde durch den Raum, und wenn wir uns küssen, dreht sich alles um mich herum, so wie sich alles dreht im Leben, ohne Anfang und ohne Ende. Und deshalb liebe ich das Leben so.