Villiers Terrace – das letzte Weihnachten mit meinem großen Bruder

Es war für mich eine Art Initiation, damals, einen Tag vor Weihnachten, mich im Zimmer meines großen Bruders wiederzufinden, sagt Vorderbrandner, im heiligen Raum, den sonst niemand jemals betreten durfte. Wir fläzten auf seiner Couch, umgeben von volltapezierten Wänden, auf denen seine großen Idole Echo & the Bunnymen, eine britische Gruppe von Musikern aus der Liverpooler Post-Punk-Szene, zu sehen waren.

Wir hörten Echo & the Bunnymen, ziemlich laut, der Song Bring On The Dancing Horses lief. Ich konnte mein Glück kaum fassen, dass mein großer Bruder mit mir seine Musik hörte. Ich wiegte mich traumverloren in den Klängen. Plötzlich aber, abrupt und unerwartet, stand mein Bruder auf, ging zum Plattenspieler und hob die Nadel von der Platte. Stille. Er begann, nervös und hektisch im Zimmer umherzulaufen.

„Jetzt wenden sie sich auch von mir ab und spielen angepasste Scheisse“, sagte er, nicht wütend, eher nachdenklich. Dann schlug er, in einem kleinen Wutanfall, mit seiner Faust Ian McCulloch, dem Sänger und Anführer von Echo & the Bunnymen, auf einem der Poster an der Wand, ins Gesicht, um anschließend mit seinem nachdenklichen Vortrag fortzufahren:
„Sie waren meine Idole, vor allem er, sie haben sich aufgelehnt gegen die ganze Scheisse, die uns eingeredet wird. Und man muss sich auflehnen gegen diese Scheisse, sonst bringt sie einen um. Schon bei ihrem letzten Album, Ocean Rain, war ich skeptisch, ob ich mich noch auf sie verlassen kann, aber jetzt, mit Bring On The Dancing Horses, bin ich mir sicher, jetzt haben sie endgültig zum Feind gewechselt, sind dem Kommerz verfallen, haben mich betrogen.

Vielleicht bin ich auch dem Kommerz verfallen. Vielleicht ist meine Auflehnung nur eine inverse Bestätigung des Systems, in dem wir alle gefangen sind.“

Dann, als eine Art Zeichen, dass sein Vortrag beendet war, kam er zu mir auf die Couch zurück und sagte, direkt an mich gerichtet:

„Hör zu, kleiner Bruder! Morgen ist Weihnachten, das Fest der gesättigten Wohlstandsarschlöcher, die zu diesem Anlass den Gipfel ihrer Heuchelei betreiben. Ich werde wie immer gute Miene zum bösen Spiel machen, denn ich liebe unsere Eltern, obwohl sie gesättigte Wohlstandsarschlöcher sind, und danach werde ich, wie immer, ins Villiers Terrace gehen, um meinen Ekel gegen die gesättigten Wohlstandsarschlöcher rauszuspielen, rauszutanzen, rauszuschreien. Aber eines könnte anders sein: Ich weiß nicht, ob ich diesmal wieder zurückkomme.“

Villiers Terrace nannte mein Bruder seinen Probenraum, in dem er mit seinen Kumpels, allesamt Echo & the Bunnymen-Verehrer, deren Lieder nachspielte. Der Raum war benannt nach einem Lied von Echo & the Bunnymen aus ihrem Album Crocodiles, in dem eine drogensüchtige Szene besungen wird und sich Leute am Boden auf den Teppichen rollen und ihre Medizin durcheinandermischen. So erzählte es mir mein Bruder, als wir weiter auf seiner Couch fläzten.

Es geschah, wie es mein Bruder gesagt hatte, sagt Vorderbrandner: Nach dem Familienessen am 24. Dezember stand er auf und ging zum Unmut meiner Eltern wie immer ins Villiers Terrace. Mit bangem Blick sah ich ihm nach, wie er zur Tür hinausging. Ich wollte ihm nachlaufen, ihm sagen, er müsse mir versprechen, zurückzukommen, und wenn er mir das nicht versprechen könne, dann wolle ich mit ihm mitkommen. Aber ich blieb brav am Tisch sitzen.

Am Weihnachtsmorgen wurde mein Bruder tot im Villiers Terrace gefunden.

Seit diesem Weihnachten lege ich mich am Weihnachtstag auf meine Couch und höre Bring on the Dancing Horses. Manchmal stehe ich an der Stelle, an der mein Bruder aufgestanden war und die Nadel von der Platte gehoben hatte, auch auf und schlage mit meiner Faust auf das Bild, das von ihm an meiner Wand hängt. Meist jedoch bleibe ich liegen, außer ich bin in sehr festlicher Stimmung: Dann rolle ich mich am Boden auf dem Teppich.