Archiv der Kategorie: Wisuelles

Wo alle Worte zuwenig wären, da hilft vielleicht Wisuelles.

Bodenbekehrung

ein Kommentar zu Unbekehrter Bühnenboden

Lebski (dargestellt von Georg Stürzer) bei der Bodenbekehrung

Vorderbrander, der sich selbst als fundierten Feuilletonisten bezeichnet, hat meinen Text Unbekehrter Bühnenboden als ein großes Stück Poesie bezeichnet, jedoch kritisch bemerkt, dass ihm mein Umgang mit dem Begriff Bekehrung zu eindeutig sei, wo doch der Text als Lobhymne auf die Doppeldeutigkeit der Sprache daherkommen soll.

Protagonist Lebski, ein Mensch mit polnischem Namen – der Name bedeutet schlau und gewitzt – verursacht durch sein Bodenbekehren mit dem Besen ein Staubaufwirbeln, ohne den Boden dabei sauber zu machen. Zweifelsohne bekehrt er jedoch den Boden, sodass der Boden nicht mehr als unbekehrt bezeichnet werden kann, sondern als bekehrt bezeichnet werden muss.

Ich verlange von Lebski, so Vorderbrandner weiter, dass er den Boden ordentlich bekehrt, was eine grobe Herabwürdigung der Bodenbekehrung Lebskis bedeutet, denn wie könne ich beurteilen, wann ein Boden ordentlich bekehrt ist. Nur Lebski mit dem Besen in der Hand kann seine Bekehrung beurteilen. Aber Lebski – und hier zeigt sich seine Schläue und Gewitztheit – will seine Bekehrung gar nicht beurteilen, er macht die Bekehrung um ihrer selbst Willen, er begreift sie als einen zarten Akt zur Durchdringung des Lebens, und somit kann und muss der Boden nach Lebskis Bekehrung als bekehrter Boden bezeichnet werden, denn der Sauberkeitsgrad eines Bodens ist keine Kategorie, mit der seine Bekehrtheit definiert werden kann. Ein bekehrter Boden ist kein gekehrter Boden. Ein bekehrter Boden ist viel mehr. Und somit muss festgestellt werden, dass der Abend im alten Theater mit Lebski auf bekehrtem Bühnenboden stattfand.

Er hoffe, so schließt Vorderbrandner seine Ausführungen, hiermit alle Eindeutigkeiten beseitigt und den Vorgang der Bodenbekehrung in all seinen Doppeldeutigkeiten erörtert zu haben.

Von Über- und Unterquerungen

Es würde zu weit führen, zu erörtern, wieso ich in Daglfing war, zumindest in diesem Zusammenhang, deshalb dazu ein anderes Mal, jedenfalls musste ich zurück nach Trudering, was nicht einfach war, denn Daglfing ist von Trudering durch zwei Eisenbahntrassen und eine Autobahn getrennt, die es zu über- oder unterqueren gilt, ich war zu Fuß unterwegs, das muss nun erwähnt werden, die Benützung von Eisenbahntrassen kam nur bedingt und die von Autobahnen gar nicht in Frage.

Ich stand in Daglfing, in der Nähe der Trabrennbahn, um genauer zu sein, direkt neben der Trabrennbahn, nur durch einen hohen Zaun von ihr getrennt, ich sah ein müdes Pferd, dass mich nicht und ich es nicht beachtete, ich hatte keine Zeit für Beachtung, musste ich doch dringend nach Trudering, es waren, wie gesagt, zwei Eisenbahntrassen und eine Autobahn zu über- oder unterqueren, ich ließ das müde Pferd unbeachtet zurück und rannte Richtung Autobahn, die ich bald erreichte, nun schwenkte ich nach links, rannte die Autobahn entlang, um nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, sie zu über- oder zu unterqueren, während diesen Ausschauhaltungen überquerte ich zu meiner Erleichterung bereits die erste Eisenbahntrasse, kurz nach der Überquerung der Eisenbahntrasse bog ich nach rechts in eine kleine Seitenstrasse ein, Übermut oder Intuition ließen mich in diese kleine Seitenstrasse einbiegen, ich habe keine andere Erklärung dafür, es ist nicht zu erklären, warum ich in diese kleine Seitenstrasse einbog, an der Hunde zu beiden Seiten bellten, ich las: Tierheim, hier sind also die Hunde, die keiner will, zwischen Eisen- und Autobahn, ich stoppte kurz, dachte aber gleich wieder an meinen dringenden Auftrag, nach Trudering zu kommen, der noch lange nicht beendet war, schließlich galt es noch eine Auto- und eine Eisenbahn zu über- oder unterqueren, ich setzte mein Rennen fort, erreichte die Autobahn:

Diese Unterquerung, obwohl ich sie zunächst zögernd anging, dann aber sehr hastig durchführte, erleichterte mich ungemein, ich hatte das Gefühl, nun den entscheidenden Schritt getan zu haben, um nach Trudering zu kommen, nichts mehr würde mich davon abhalten können, nach Trudering zu kommen, keine Autobahn mehr und auch keine Eisenbahn, obwohl ich diese noch zu über- oder unterqueren hatte, ich hatte das Gefühl, während ich durch einen Grünstreifen zwischen einem Industriegebiet und einer Siedlung entlanglief, dass es auf eine Unterquerung der Eisenbahn hinauslaufen würde, doch das beunruhigte mich nicht, im Gegenteil, jeder Schritt beruhigte mich und brachte mir Gewissheit, bald nach Trudering zu gelangen.

 

Querverbindung

Ungläubig starre ich auf das Grün
während die Hunde bellen
und der Strom
am Grün vorbeirollt
in beide Richtungen.
Gegen einen zu gehen
heißt mit dem anderen zu gehen
ein Wechselstrom
in beide Richtungen
den es zu queren gilt
unten durch
wo ich das Grün mit
und den Himmel über mir
verliere
wo ich mich
– so die Sorge –
selbst verliere
ohne Himmel, ohne Grün
gehe ich quer
und renne ihm entgegen
dem Lichtschein
am Ende des Tunnels

und nach dem Quergang
zu meinen großen Erstaunen
das Grün mit
und der Himmel über mir.

Großgewordene Dörfer (München-Trudering)

München ist eine Stadt, sagt Vorderbrandner, kein großgewordenes Dorf. Planmäßig angelegte Prachtstraßen führen nach Westen (Brienner Straße), nach Norden (Ludwigstraße) und nach Osten (Maximilianstraße). Warum nach Süden keine Prachtstraße führt, ist mir ein städtebauliches Rätsel: München, die nördlichste Stadt Italiens, besitzt keine Prachtstraße nach Süden, nach Rom?

Dafür, und das muss der Vollständigkeit halber erwähnt werden, besitzt München eine zweite Prachtstraße nach Osten, die Prinzregentenstraße. Angelegt von keinem König, sondern von Prinzregent Luitpold als bürgerlicher Boulevard, wurde sie im Dritten Reich vom ungekrönten König Adolf mit riesigen, steinwüstenartigen Protzbauten versehen. Sie endet nicht wie ihre Schwestern monumental (Brienner Straße: Propyläen; Ludwigstraße: Siegestor; Maximilianstraße: Maximilianeum), sondern geht hinter dem Monument des Friedensengels weiter bis zum Stadtrand, über den Prinzregentenplatz und den Mittleren Ring bis zum Vogelweideplatz, an dem früher niemand hauste außer die Zigeuner, traditionell das randständigste Volk einer Gesellschaft, zugleich aber das Leben an sich wie kein anderes verkörpernd.

Am Vogelweideplatz

Am Vogelweideplatz, an dem man auch heute nicht verweilen, sondern sich beeilen will, geht die Prinzregentenstraße in die Autobahn 94 über, die dann in weiterer Folge die ländlichen Weiten des östlichen Oberbayerns durchpflügt. Doch rechts davon, auch vom Vogelweideplatz weg, zweigt die Truderinger Straße ab, und führt nach Trudering.

Trudering ist ein großgewordenes Dorf, das 1932 nach München eingemeindet wurde. Und trotzdem hört München am Vogelweideplatz noch immer auf. Von hier aus geht es aufs Land, und folgt man der Truderinger Straße, nach Trudering. Zunächst trifft die Truderinger Straße auf Bahngleise, an denen sie nördlich entlangführt. Auf der anderen Seite stehen Industriegebäude, und vor mir türmt sich der Turm des Süddeutschen Verlages.

Am Beginn der Truderinger Straße

Beim Turm angekommen, muss die Truderinger Straße einen Rechts-Links-Haken schlagen: Sie geht scharf nach rechts, um die Geleise der Bahnstrecke München – Rosenheim zu unterqueren. Diese stark frequentierte Bahnstrecke, bereits in den 1860er Jahren erbaut, zerschneidet den Münchener Osten, besonders Trudering, in Straße und Kirche, doch dazu später.

Die Geleise unterquert, kommt die Truderinger Straße nach Berg am Laim, einem ehemaligen Dorf östlich von München, eingemeindet 1913, ein Industriestandort der ersten Stunde, weil der Wind meist von Westen weht und die schlechten Gerüche so nicht in die Stadt, sondern ostwärts weitergetrieben wurden, nach Trudering. Apropos Trudering: Nun ist der linke Teil des Hakens dran, gleich nach der Gleisunterquerung, es geht nicht weiter nach Berg am Laim, sondern wieder zielstrebig nach Osten. Und gleich wird es ländlich. Rechts, hinter einer Eschen-Allee, taucht ein freies Feld auf, ein Relikt aus bäuerlicher Zeit, das dem Ausflug nach Trudering eine ländliche Note gibt.

Feld an der Truderinger Straße

Doch das Feld endet bald und weicht einer beidseitigen Bebauung: Hier ist München keine Stadt mehr, sondern großgewordenes Dorf, die Besiedlung und Bebauung franst sich in die Landschaft. Und so geht das kilometerweit weiter – kurz unterbrochen durch einen Schrebergarten, das Grün der Pflanzen, Sträucher und Bäume gibt Hoffnung, dass das Land bald erreicht wird – doch beim Schatzbogen, der Truderinger Straße und Geleise in einem weiten Betonbogen überquert, weicht diese Hoffnung wieder. Weiter zum Truderinger Bahnhof, wo Fernzüge vorbeirasen, S- und U-Bahnen halten.

Am Truderinger Bahnhof

Bald danach kommt so etwas wie Mini-Urbanität auf. Straßtrudering ist erreicht, wo die Truderinger Straße im Moment eine Baustelle ist, um schöner zu werden, um die Verweilqualität zu erhöhen, wie Ortsplaner gerne sagen.

Trudering at its Urbanest – Straßtrudering

Ich bin, ich kann es so sagen, im Zentrum Truderings. Doch eine Kirche, Merkmal jedes bayrischen Dorfes, auch eines großgewordenen, suche ich vergeblich – die steht jenseits der Geleise, in Kirchtrudering. Die Truderinger Straße schert sich nicht um Kirchtrudering, sie ist eine Straß und begnügt sich mit Straßtrudering, ja, sie geht, obwohl sie Straßtrudering erreicht hat, weiter, nach Osten, dann macht sie eine kleine Schleife nach Süden und mündet in die Wasserburger Landstraße, eine Hauptverkehrsachse aus dem und ins Zentrum Münchens. Das Schicksal einer Hauptverkehrsachse blieb der Truderinger Straße erspart, sie ist so etwas wie ein Schleichweg zwischen Autobahn 94 und Wasserburger Landstraße. Sie schleicht mit einer gewissen Nostalgie, nie groß- sondern immer nur zweispurig, durch Suburbania.

Am Ende der Truderinger Straße

Was nun, am Ende der Truderinger Straße? Soll ich mich die Wasserburger Landstraße hinauswälzen durch die großgewordenen Dörfer, bis ich irgendwann auf dem Land bin? Man kann von Glück reden, sagt Vorderbrandner, dass es die Demokratie nicht schon immer gibt. Sonst gäbe es keine Städte, sondern nur großgewordene Dörfer. Sonst würde alles so aussehen wie zwischen München und Trudering.

Münchner Prachtstraßen

Weiden in der Oberpfalz 2: Am Berg

Fortsetzung von Teil 1

Ah, Amberg! sagte Matthew, als sei ihm plötzlich die Erleuchtung gekommen: Ich weiß Amberg!
Er tippte in sein Handy und fuhr los, er schien einen genauen Plan zu haben, wo wir hinfahren, aber er ließ sich nicht in die Karten schauen beziehungsweise auf sein Handy, wo ich hätte sehen können, wo er sich hinnavigieren lässt. Fast schien es mir, dass er Angst hatte, ich würde sagen, dass wir da nicht hinfahren sollen, wo er hinfahren will.

Eines war mir bald klar: Wir fuhren nicht nach Amberg, da hätten wir uns von Weiden südwestlich halten müssen. Wir fuhren aber eher nach Südosten, an der Grenze zu Tschechien entlang, Richtung Bayrischer Wald. Bei Kötzting, wir waren sicher schon an die hundert Kilometer von Weiden gefahren, sagte ich: Bald hört die Oberpfalz auf, bald kommen wir nach Niederbayern.

Ja gut, sagte Matthew, wir sind gleich da, wir sind gleich Amberg. Er bog in eine Straße ein, die uns durch einen Wald zu einem Parkplatz führte. Dort stellte er den Wagen ab. Ich war verwirrt: Erst lässt er sich von mir durch die Oberpfalz führen, dann steuert er zielsicher einen Parkplatz in einem Wald bei Kötzting an, als hätte er nur das vorgehabt.
Wir sind Amberg, sagte Matthew: Ich hoffe, du gehst mit auf dem Berg!
Am Berg, nicht in Amberg, sagte ich, mehr zu mir als zu Matthew, und fühlte mich selber reingelegt von meinen Wortspielen.

Wir gingen zum Kreuzfelsen hoch, der eine schöne Aussicht auf das Kötztinger Tal und die bergig-hügelige Umgebung bietet. Auch das wusste Matthew genau. Ich spürte seine Freude und Aufregung, als wir durch den Wald nach oben gingen. Am Felsen angekommen, kletterten wir ganz nach oben zum Kreuz. Matthew blickte herum und war sehr ergriffen:
Es ist ein großer Moment für mich, sagte er: Mein Großvater erzählte mir, als ich war ein Kind, dass sein Vater, als er war ein Kind, von Kötzting hier hochgelaufen ist auf die Kreuzfelsen und dachte: Eines Tages ich gehe nach Amerika. Und er ist gegangen.

Wir blickten umher, das Wetter war schön, die Luft klar und bot eine wunderbare Sicht. Dann bat mich Matthew, ein Foto von ihm zu machen.

Nachdem Matthew das Foto angesehen hatte, sagte er: Ich bin sehr stolz auf diese Foto, Emil, obwohl keine Weiden es ist darauf zu sehen!
Er lächelte zufrieden, als hätte ich ihm die größte Freude gemacht, die ihm jemals in seinem Leben widerfahren ist. Dann sah ich das Foto an: Matthew und hinter ihm das Kötztinger Tal mit seinen Wiesen und Weiden. Matthew auf den Spuren seines Urgroßvaters.

Ich nannte das Foto Matthew und die Weiden in der Oberpfalz, aber nur für mich, ich sagte es Matthew nicht.

Übergabeprotokoll

Meine erste Schiffsreise die ich tat war professioneller Natur, ich wollte mit dieser Reise Geld verdienen und bewarb mich auf eine Anzeige hin als Protokollant der Übergaben. Ich witterte leichtes Geld – irgendwelche Übergaben protokollieren und dabei auf dem Meer herumschippern: Ich stellte mich auf einen verdienstvollen Urlaub ein.

Schon am ersten Tag der Reise war die See eine stürmische, es gab unzählige Übergaben und ich wurde zu ihnen gerufen, um sie zu protokollieren: Ich sah bleiche Gesichter, die sich eben übergeben hatten, erst jetzt erfuhr ich, welche Übergaben ich zu protokollieren hatte: orale Übergaben menschlichen Mageninhalts an die Umwelt. Während die stürmische See das Schiff schwanken ließ, versuchte ich standhaft zu bleiben mit meinem Protokoll in der Hand und fragte die bleichen Gesichter mit leerem Magen nach Name, Geschlecht, Alter, Wohnort und Familienstand. Wieso denn Familienstand? fragte ein bleiches Gesicht erschöpft. Ich weiß nicht, sagte ich, steht so im Protokoll.

Manche versuchten, an die Reling zu gelangen und sich ins Meer zu übergeben, daraufhin wurde via Lautsprecher eindringlich aufgefordert – es klang wie ein Befehl – zur Übergabe des Mageninhalts die dafür bereitgestellten Schüsseln zu benutzen oder, falls eine Schüssel nicht rechtzeitig zur Hand sei, sich auf den Schiffsboden zu übergeben. Ein Kollege von mir sammelte daraufhin, nachdem Übergaben ins Meer erfolgreich unterbunden worden waren, Proben des jeweils Erbrochenen aus den Schüsseln oder vom Boden ein und diktierte mir anschließend die Entnahme seiner Proben, damit ich auch diese protokollieren konnte.

Nach erfolgter Protokollierung wurde ich aufgefordert, auch für die Beseitigung des Erbrochenen zu sorgen, anfangs weigerte ich mich, diese Aufgabe zu übernehmen, schließlich, so behauptete ich, stünde nichts davon in meinem Arbeitsvertrag, ich wurde dann jedoch auf den Passus des Vertrages verwiesen der lautete: Bei Bedarf hat der Arbeitnehmer auch andere Arbeiten als die Protokollierung von Übergaben zu übernehmen. So übernahm ich also auch die Beseitigung von Übergaben.

Die See blieb stürmisch während der ganzen Überfahrt nach New York, sodass ich pausenlos Übergaben zu protokollieren und zu beseitigen hatte, bis ich spätabends erschöpft in mein Kajütenbett fiel, bis sich frühmorgens der erste wieder übergab. Sogar mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf wurde ich zu Übergaben gerufen.

Auf der Rückfahrt waren neue Passagiere an Bord, von denen sich der Großteil ebenfalls wie die Hinfahrtspassagiere ständig übergeben musste, ich wunderte mich, wieso sich immer alle bis auf wenige übergeben mussten, hatte aber nicht viel Zeit zu diesen Überlegungen, zu beschäftigt hielten mich die Protokollierungen und Beseitigungen der ständigen Übergaben. Da die See jedoch insgesamt etwas ruhiger war als bei der Hinfahrt, hatte ich zwischendurch Zeit zu fragen, wozu denn die ganzen Übergaben protokolliert werden müssen, wurde aber lediglich auf meinen Arbeitsvertrag verwiesen und dass ich diesen zu erfüllen hätte.

Erschöpft betrat ich schließlich europäisches Festland, ich konnte kein Erbrochenes mehr sehen und vor allem nicht mehr riechen. Ich sah noch, wie die entnommenen Proben des Erbrochenen in einen Transporter verladen wurden, wandte mich aber gleich ab, denn bei diesem Anblick stieg sofort wieder der Geruch von Erbrochenem in meine Nase, der mich während der Reise wochenlang begleitet hatte und den ich anschließend wochenlang, monatelang nicht loswerden konnte. Schweißgebadet wachte ich monatelang nachts aus dem immer selben Albtraum auf: Ich hatte geträumt, in einem Meer von Erbrochenem zu ertrinken.

Später habe ich erfahren, dass auf diese Schiffsreise, deren Übergaben ich protokolliert hatte, nur Menschen eingeladen worden waren, die leicht seekrank werden. Durch die chemische Analyse der Proben ihres Erbrochenen stellte man fest, welche Speisen in welcher Zusammensetzung sie unmittelbar vor Antritt und während der Reise zu sich genommen hatten und wollte so herausfinden, welche Speisen in welcher Zusammensetzung vor allem zu Seekrankheit führen, um diese in Zukunft nicht mehr anzubieten und so die Anzahl der Übergaben von Erbrochenem während einer Schiffsreise zu verringern.

Es hieß, die Untersuchung habe keine signifikanten Ergebnisse geliefert. All die Protokollierungen der Übergaben waren also umsonst gewesen, mehr noch: Die ganze Reise war umsonst gewesen. Seit dieser habe ich nie mehr eine weitere Schiffsreise unternommen.

Rote Rosen für Blanche

Als ich zum ersten Mal L’ami de mon amie von Eric Rohmer sah, es war wohl um das Jahr 2000 herum, verliebte ich mich heftig in die Hauptdarstellerin Emmanuelle Chaulet. Tagelang hatte ich Sehnsucht nach ihr, ich wollte bei ihr sein in Cergy-Pontoise, einer auf dem Reißbrett entworfenen Trabantenstadt bei Paris, wo der Film spielt. Meine damalige Freundin fragte mich, was mit mir los sei, sie bemerkte meine heftige Verliebtheit, was nicht schwer war, denn ich war zu Tränen gerührt, jedesmal wenn ich an Emmanuelle Chaulet dachte, so groß war meine Sehnsucht, aber ich sagte nichts, aus Angst, meine Freundin würde mich verlassen. Denn so groß meine Verliebtheit war, fast so groß war meine Angst vor dem Verlassenwerden. Wenige Wochen später verließ mich meine Freundin, so empfand ich es damals, heute sage ich: Wir haben uns verlassen. Ich fuhr trotzdem nicht nach Cergy-Pontoise, um Emmanuelle zu sehen, zu groß war die Angst vor Enttäuschung. Sie würde nicht da sein, meine Traurigkeit ins Unermessliche steigen. Ich fand heraus, dass Emmanuelle Chaulet inzwischen in den USA lebte, außerdem fand ich heraus, dass ich in Wahrheit Blanche liebte, wie Emmanuelle in ihrer Rolle heißt. Eric Rohmer machte keinen Unterschied zwischen Filmfigur und realer Person, ich in diesem Fall schon. Dieser Unterschied half mir, wieder zu mir zu kommen. Als ich L’ami de mon amie zum ersten Mal sah, war ich ungefähr in Blanches Alter, während Emmanuelle Chaulet älter geworden war. Raum und Zeit war gegen diese Liebe. Diese Liebe musste eine unglückliche bleiben, nein, nicht diese Liebe: dieses romantische Bild von Blanche. Rohmer war ein Romantiker, der die Romantik entzauberte: Seine Figuren sind bürgerliche, verkopfte Spießer auf der Suche nach ihren Gefühlen. Das kommt mir im nachhinein sehr realistisch vor was meine Realität betrifft.

Vor einigen Tagen habe ich mit Josefine wieder L’ami de mon amie angesehen. Es war ein gewagtes Experiment und nahm den erwarteten Ausgang: Ich verliebte mich wieder heftig in Blanche, es ging nicht anders, zu genial erzählt Rohmer diese Geschichte mit seinen Bildern. Ergriffen lag ich Josefine in unserem kleinen Heimkino in den Armen.
„Ich habe mich in Blanche verliebt“, sagte ich.
Josefine drehte sich zu mir, lächelte und sah mir in die Augen: „Ich weiß. Ich mag es, wenn du dich in Blanche verliebst, mon douce Emile!“

Am nächsten Tag ging ich durch Schwabing, mit mindestens so viel Liebe wie Rohmer durch sein Paris. Ein bisschen wünschte ich mir, in Cergy-Pontoise zu sein, bei Blanche. Ich kam an einem Blumenladen vorbei. Neben der offenen Tür stand: Wegen Corona – Blumen nur auf Bestellung. Ich rief durch die Tür hinein: „Ich möchte gerne rote Rosen bestellen!“ Dann setzte ich meine Maske auf, ging durch die Tür in den Laden hinein und sagte: „Ich habe roten Rosen bestellt.“