Übergabeprotokoll

Meine erste Schiffsreise die ich tat war professioneller Natur, ich wollte mit dieser Reise Geld verdienen und bewarb mich auf eine Anzeige hin als Protokollant der Übergaben. Ich witterte leichtes Geld – irgendwelche Übergaben protokollieren und dabei auf dem Meer herumschippern: Ich stellte mich auf einen verdienstvollen Urlaub ein.

Schon am ersten Tag der Reise war die See eine stürmische, es gab unzählige Übergaben und ich wurde zu ihnen gerufen, um sie zu protokollieren: Ich sah bleiche Gesichter, die sich eben übergeben hatten, erst jetzt erfuhr ich, welche Übergaben ich zu protokollieren hatte: orale Übergaben menschlichen Mageninhalts an die Umwelt. Während die stürmische See das Schiff schwanken ließ, versuchte ich standhaft zu bleiben mit meinem Protokoll in der Hand und fragte die bleichen Gesichter mit leerem Magen nach Name, Geschlecht, Alter, Wohnort und Familienstand. Wieso denn Familienstand? fragte ein bleiches Gesicht erschöpft. Ich weiß nicht, sagte ich, steht so im Protokoll.

Manche versuchten, an die Reling zu gelangen und sich ins Meer zu übergeben, daraufhin wurde via Lautsprecher eindringlich aufgefordert – es klang wie ein Befehl – zur Übergabe des Mageninhalts die dafür bereitgestellten Schüsseln zu benutzen oder, falls eine Schüssel nicht rechtzeitig zur Hand sei, sich auf den Schiffsboden zu übergeben. Ein Kollege von mir sammelte daraufhin, nachdem Übergaben ins Meer erfolgreich unterbunden worden waren, Proben des jeweils Erbrochenen aus den Schüsseln oder vom Boden ein und diktierte mir anschließend die Entnahme seiner Proben, damit ich auch diese protokollieren konnte.

Nach erfolgter Protokollierung wurde ich aufgefordert, auch für die Beseitigung des Erbrochenen zu sorgen, anfangs weigerte ich mich, diese Aufgabe zu übernehmen, schließlich, so behauptete ich, stünde nichts davon in meinem Arbeitsvertrag, ich wurde dann jedoch auf den Passus des Vertrages verwiesen der lautete: Bei Bedarf hat der Arbeitnehmer auch andere Arbeiten als die Protokollierung von Übergaben zu übernehmen. So übernahm ich also auch die Beseitigung von Übergaben.

Die See blieb stürmisch während der ganzen Überfahrt nach New York, sodass ich pausenlos Übergaben zu protokollieren und zu beseitigen hatte, bis ich spätabends erschöpft in mein Kajütenbett fiel, bis sich frühmorgens der erste wieder übergab. Sogar mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf wurde ich zu Übergaben gerufen.

Auf der Rückfahrt waren neue Passagiere an Bord, von denen sich der Großteil ebenfalls wie die Hinfahrtspassagiere ständig übergeben musste, ich wunderte mich, wieso sich immer alle bis auf wenige übergeben mussten, hatte aber nicht viel Zeit zu diesen Überlegungen, zu beschäftigt hielten mich die Protokollierungen und Beseitigungen der ständigen Übergaben. Da die See jedoch insgesamt etwas ruhiger war als bei der Hinfahrt, hatte ich zwischendurch Zeit zu fragen, wozu denn die ganzen Übergaben protokolliert werden müssen, wurde aber lediglich auf meinen Arbeitsvertrag verwiesen und dass ich diesen zu erfüllen hätte.

Erschöpft betrat ich schließlich europäisches Festland, ich konnte kein Erbrochenes mehr sehen und vor allem nicht mehr riechen. Ich sah noch, wie die entnommenen Proben des Erbrochenen in einen Transporter verladen wurden, wandte mich aber gleich ab, denn bei diesem Anblick stieg sofort wieder der Geruch von Erbrochenem in meine Nase, der mich während der Reise wochenlang begleitet hatte und den ich anschließend wochenlang, monatelang nicht loswerden konnte. Schweißgebadet wachte ich monatelang nachts aus dem immer selben Albtraum auf: Ich hatte geträumt, in einem Meer von Erbrochenem zu ertrinken.

Später habe ich erfahren, dass auf diese Schiffsreise, deren Übergaben ich protokolliert hatte, nur Menschen eingeladen worden waren, die leicht seekrank werden. Durch die chemische Analyse der Proben ihres Erbrochenen stellte man fest, welche Speisen in welcher Zusammensetzung sie unmittelbar vor Antritt und während der Reise zu sich genommen hatten und wollte so herausfinden, welche Speisen in welcher Zusammensetzung vor allem zu Seekrankheit führen, um diese in Zukunft nicht mehr anzubieten und so die Anzahl der Übergaben von Erbrochenem während einer Schiffsreise zu verringern.

Es hieß, die Untersuchung habe keine signifikanten Ergebnisse geliefert. All die Protokollierungen der Übergaben waren also umsonst gewesen, mehr noch: Die ganze Reise war umsonst gewesen. Seit dieser habe ich nie mehr eine weitere Schiffsreise unternommen.