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Hans-Paul Schönewelt

Als Kind fand ich es am schönsten bei den Wichteln hoch oben in den Wäldern des Stoissbergs. Ich tanzte mit ihnen auf dem Moos zwischen den Bäumen im hellen Mondlicht. Weit unten lagen die Sorgen des Stoissertals.  Doch als es Morgen wurde, erwachte ich im Tal mit all seinen Sorgen, die meine Eltern mir vermittelten. Mein Onkel Peter, das sagten sie, war aus dem Tal geflüchtet, weil er es nicht mehr ausgehalten hatte. Ein komischer Kerl, dieser Peter, ein Verrückter, sagten sie: Wie kann man es im Stoissertal nicht aushalten?

Ich mochte Onkel Peter und freute mich sehr, wenn wir ihn in München besuchten. Keiner konnte so gut vorlesen wie er, vor allem aus dem großen bunten Wichtelbuch, das ich immer dabei hatte. Wir saßen auf seinem Sofa, eingehüllt von seiner Bücher- und Plattensammlung und tauchten ein in die Welt der Wichtel in den Wäldern des Stoissbergs. Bei Onkel Peter lebte ich auch meine kindliche Neugier aus: Ich fragte ihn, was das für ein Poster sei, das er an der Wand hängen hat. Das ist Pierrot le fou, sagte Onkel Peter – einer wie ich: naiv, melancholisch. Und verliebt. Außerdem hatte Onkel Peter eine Karte von Europa an der Wand hängen, die ich bei jedem Besuch staunend betrachtete und jedes Mal Neues auf ihr entdeckte. Ich stellte mir Europa als einen riesigen Wald vor. In diesem Wald gab es Lichtungen: die Länder.

Später, als ich lesen lernte, las ich bein einem Besuch voller Stolz vom Plakat des Pierrot le fou:

JEAN-PAUL BELMONDO
ET
ANNA KARINA
DANS
PIERROT LE FOU
UN FILM DE
JEAN-LUC GODARD

Jean-Paul Belmondo, wiederholte ich, als Onkel Peter es nochmal in richtigem Französisch vorgelesen hatte. Ein französischer Schauspieler, sagte Onkel Peter, dessen Vorfahren aus dem Piemont und aus Sizilien im heutigen Italien stammen. Jean-Paul Belmondo, sagte ich nochmal ergriffen und lies meinen Blick nicht vom Poster. Ja, Jean-Paul Belmondo, sagte Onkel Peter mit einem zustimmenden Lächeln: Sein Name bedeutet auf deutsch Hans-Paul Schönewelt.

Währenddessen wurden die Sorgen im Stoissertal nicht kleiner, sondern größer, je größer ich wurde. Ich konnte die Sorgen nicht benennen. Ich spürte sie. Ich sah sie im Gesicht meiner Eltern. Wenn ich meine Eltern fragte, warum sie solche Sorgen haben, sagten sie mir, ich solle nicht so dummes Zeug reden. Ich lief zu meinen Freunden den Wichteln auf dem Stoissberg, aber mit zunehmendem Alter erkannte ich, dass es die Wichtel auf dem Stoissberg nicht gab, dass es sie nur in meiner Vorstellung gab, wenn ich abends in meinem Bett ruhte.

Ich lief von den Wäldern des Stoissbergs ins Stoissertal hinunter und sagte zu meinen Eltern, dass ich unbedingt Onkel Peter besuchen will, und zwar sofort. Sie sagten mir, er sei nicht mehr in München. Wo er sei, konnten sie mir nicht sagen. Mein Vater meinte nur: dieser Verrückte! Ich schlussfolgerte, dass Onkel Peter in Frankreich sein müsse, um Jean-Paul Belmondo zu besuchen. Ich stellte mir Onkel Peters lange Reise durch den tiefen Wald Europas vor, bis er in Frankreich angelangt war. Dort würde er nun Jean-Paul Belmondo überreden, mit ihm nach Deutschland zu kommen. In Deutschland angekommen, würde sich Jean-Paul Belmondo Hans-Paul Schönewelt nennen, um als Deutscher einen deutschen Namen zu haben. Mit Schönewelt in Deutschland würden sicher auch die Sorgen im Stoissertal kleiner werden.

Ich legte mich ins Bett, konnte aber nicht einschlafen. Also beschloss ich, zu den Wichteln im Wald auf dem Stoissberg zu gehen. Der Mond schien hell, ich glaube er war voll, und als ich bei den Wichteln ankam, zeigten sie alle nach Westen und sagten: Dort drüben kommen zwei Männer in prächtigen Gewändern. Und tatsächlich: Am westlichen Eingang zum Stoissertal, von München her kommend, sah ich zwei Männer im Mondlicht, die eine Frau namens Marianne Renoir auf ihren Schultern trugen.
Das sind Onkel Peter und Hans-Paul Schönewelt! rief ich euphorisch. Ich wollte ihnen eine prächtigen Empfang bereiten und sagte zu den Wichteln: Wir spielen und tanzen eine Chaconne à la française als glänzenden und festlichen Höhepunkt dieser Geschichte, denn eine Chaconne setzt ein im Augenblick des Triumphes, bremst den durchgeplanten Fortgang der Tragödie auf eine bewegte Stabilität und bewahrt die wache Aufmerksamkeit des Publikums (Raphaëlle Legrand):

Hipper Urbanaut mit Ökoanstrich

Als hipper Urbanaut mit Ökoanstrich parke ich meinen Wagen am Rande der Stadt. Unsere Stadt soll doch eine grüne Oase werden, und ich will meinen Beitrag dazu gerne leisten. Damit ich trotzdem bequem ins Fitnessstudio gelange, habe ich mir ein neues E-Bike zugelegt. Im Fitnessstudio strample ich dann auf dem Fahrrad, um fit zu bleiben.

Ich tue wirklich alles, um unser auf Konsumzwang basierendes Wirtschaftssystem aufrecht zu erhalten. Denn ich kaufe ökologisch, aber ich kaufe. Als digitaler Mensch spare ich Papier und verschwende Strom. Ja: Strom muss mir schon zur Verfügung gestellt werden, sonst kann ich meinen Beitrag nicht leisten. Wie? Aus der Steckdose halt, aber schnell! Wird doch nicht so schwer sein, ein paar Windräder aufzustellen!

Enthaltsamkeit? Verzicht? Soll ich zu all meinen Bemühungen auch noch enthaltsam sein und verzichten? Alles was recht ist: Auch ich habe meine Grenzen! Ich will mich für mein vorbildliches Verhalten nicht auch noch bestrafen!

Gestern hat es geregnet. Ich kam aus Frankfurt und bin mit meinem Wagen doch wieder in die Stadt zu meiner Wohnung gefahren. Was hätte ich denn machen sollen? Mit dem E-Roller fahren und pitschnass werden? In die überfüllte U-Bahn steigen und mir einen Virus holen? Ich hab ja meinen Tiefgaragenplatz, den ich in weiser Voraussicht noch nicht aufgegeben habe. So steht mein Wagen nicht auf der Straße herum, und unsere Stadt ist, zumindest an der Oberfläche, eine grüne Oase.

Was ich werden wollte

Als ich zehn Jahre alt war, fragte mich eine ältere Dame – ich glaube es ware eine Schwester meiner Großmutter: „Was willst du werden?“

Ich sagte: „Ich will Hofnarr werden.“

Der entgeisterte Blick der älteren Dame sagte mir, dass ich in diesem Moment Hofnarr geworden war.

Der durchschnittliche Mensch der westlichen Welt

Der durchschnittliche Mensch der westlichen Welt fühlt sich getrennt von den Menschen und der Welt. Diesen Gedanken dachte ich, als ich den Gehweg entlangging, von dem ich nicht getrennt war, denn mit jedem Tritt berührte ich das Pflaster unter mir. Ich dachte an die Erde unter dem Pflaster, ob sie noch lebt, oder ob sie getrennt ist vom Rest der Welt, ich dachte an die Erde unter der ganzen Stadt, die unter Pflaster, Asphalt und Beton ein getrenntes Dasein vom Rest der Welt führt.

Mitten in diese Gedanken, die mein Tritte auf dem Gehweg begleiteten, vernahm ich einen Ruf aus einem parkenden Auto:
„Könnten Sie mir bitte helfen?“
Eine mutige Tat, in dieser getrennten westlichen Welt nach Verbindung zu rufen.
Ich blickte zum Auto, aus dem ich den Ruf vernommen hatte, und sah einen Mitmenschen, der den Kopf aus dem geöffneten Fenster der Fahrertür hielt. Der Mitmensch sagte:
„Könnten Sie die Heckklappe meines Autos öffnen?“
Er hatte das Auto rückwärts geparkt, sodass die Heckklappe vom Gehweg aus zu öffnen war.
„Ja, aber… wieso denn?“ fragte ich mit meiner skeptischen westlichen Art, der jede Art von Verbundenheit suspekt ist.
„Die Parklücke ist so eng, dass ich über die Türen mein Auto nicht verlassen kann.“
Jetzt erst sah ich es: Die Parklücke, in die der Mitmensch mit seinem Auto gestoßen war, war so eng, dass er sein Auto nur mehr über die Heckklappe verlassen konnte.

Gottseidank war das Auto etwas älter: Die Heckklappe war mechanisch zu öffnen. Hätte man sie per elektrischem Fußsensor öffnen müssen, wie bei vielen neueren Autos, wäre mir das Öffnen nicht möglich gewesen, da der Spalt zwischen Stoßstange des Autos und Gehweg zu schmal war, um meinen Fuß dazwischen zu bekommen. Ich öffnete mechanisch die Heckklappe, woraufhin der Mitmensch durch sein Auto robbte, um ihm über die Heckklappe zu entsteigen.
„Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen!“ sagte er, und in meiner Euphorie der Verbundenheit mit meinem Mitmenschen, dem ich eben dazu verholfen hatte, seinem Auto entsteigen zu können, wollte ich ihn umarmen, ließ es aber mit meiner zögernden zurückhaltenden westlichen Art bleiben und sagte höflich lächelnd:
„Gibt es sonst noch irgendetwas, was ich für Sie tun kann?“
„Nein, im Moment nicht, danke“, sagte der Mitmensch und lächelte höflich zurück.

Ich ging weiter. Meine Tritte auf den Gehweg waren nun verbundener, und ich glaubte, die Erde unter dem Pflaster zu spüren. Ich sah den blassen weißen Mond am blauen Himmel, der an diesem Tag tagsüber schien. Ich dachte an dich. Du warst gerade in der Moschee, um dein Arabisch zu üben. Ich verstehe – als durchschnittlicher Mensch der westlichen Welt – nichts davon, doch plötzlich öffnete sich durch dein Arabisch eine Welt für mich. Ich fühlte mich sehr verbunden mit dir. Ich flüsterte leise Ich liebe dich, für dich und die ganze Welt.

Spazieren in Ramersdorf

Stark und schwach
das sind
wichtige Kategorien für dich.
Du fühltest dich schwach
als ich fragte:
Was hast du gemacht?

Verschämt sagtest du:
Ich war spazieren.
Spazieren! rief ich erfreut:
Ich liebe das Gehen!
Wo warst du spazieren?

Du winktest ab
und wolltest gehen:
Nirgends besonders –
ich war spazieren in Ramersdorf.

Dein Gesicht wurde rot
deine Stimme genervt vor Wut
weil ich dich fragte
wo du spazieren warst
und ich träum nun davon
mit dir zu spazieren
in Ramersdorf.